Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Mittwoch, 30. Juni 2010

Dienstag, 28.04.2009, Tokushima, BR Sakura

Der 44. Tag in Japan
Um 6.30 Uhr ist Abmarsch bei mir angesagt, da der Bus um 7.05 Uhr abfährt. Ich werde erstmal mit dem Reisebus zum Kansai Airport fahren, um am Flugschalter Informationen einzuholen. Ich hatte zwar eine E-Mail an die Airline geschickt, jedoch noch keine Antwort erhalten. Wo ich das nächste Mal Gelegenheit finde, einen Internetanschluss zu finden ist fraglich. Natürlich gibt es im Kansai Airport im Keller eine Reihe von Internetterminals, von denen man für 100 Yen ca. 10 Minuten im Internet surfen kann, aber bei meiner Ankunft wird es ist in Japan noch früher Morgen sein (dementsprechend ist es in Europa noch mitten in der Nacht). Hier in Tokushima kaufe ich erstmal ein Ticket für den Bus, bekomme meine Gepäckscheine vom Fahrer ausgehändigt, der meinen Rucksack sofort im Gepäckfach verstaut. Als ich mich jedoch ganz vorne am Eingang platziere, so wie ich es schon bei der Hinfahrt mit Hajo getan hatte, werde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich ein Ticket 2. Klasse gekauft habe und die Sitzplätze dafür erst ab der 3. Reihe beginnen. Ich sehe dabei zwar keinen großen Unterschied zur Hinfahrt, ich habe beides mal 4000 Yen bezahlt, füge mich jedoch den Anweisungen. Als der Bus vom Busbahnhof vor dem Tokushima Hauptbahnhof abfährt, verabschiede ich mich innerlich von Shikoku. „Sayonara Shikoku – bis bald!“

Jetzt noch zurück über den Naruto Expressway, die Naruto Kaikyo Brücke, die Sikoku mit der Insel Awaji verbindet, und der Akashi Kaikyo Brücke, die die Verbindung zum Festland darstellt, und schon sind wir durch die Stadt Kobe wieder in Osaka. Als ich in Kansai aussteige, prüfe ich zuerst, ob der Airline Schalter besetzt ist. Aber Fehlanzeige – da es zurzeit keinen Flug dieser Airline gibt, ist auch keine Schalter geöffnet bzw. kein Personal, das ich hätte fragen können, anwesend. Ich gehe ins Kellergeschoß, um mir an der Touristeninformation Infos zum Koyasan zu besorgen. Vor allem benötige ich Infos wie ich am leichtesten dort hin komme. Leider ist die nette Japanerin, die mich und Hajo vor 6 Wochen weitergeholfen hatte nicht da, aber auch so bekomme ich viele nützliche Informationen. Ich erhalte eine Karte mit der Aufschrift „Map of Kansai Airport“, eine Karte, die ich jedem empfehle sich zu besorgen, da sie nicht nur eine Karte des Einzugsgebiets von Kansai aufweist, sondern auch das Liniennetz der JR („Japan Railways“) - und Privatbahnen der Gegend. Ich kann von Kansai mit der privaten Nankai Railway Linie nach Kishinosato Tamade fahren, dort umsteigen, um dann mit einer weiteren Nakai Linie direkt zum Koyasan zu fahren. Da ich ein Kombiticket kaufe, welches die Bergbahn vom Bahnhof Koyasan auf den Berg mit ein schließt, sollte ich so relativ sicher an mein Ziel gelangen. Das klingt erstmal gut, da es aber viele unterschiedlich schnelle Züge gibt, die nicht überall halten bzw. die Strecke nicht durchfahren, ist es dann doch komplizierter als gedacht. Es wird hier nicht nur in Express und Local (normal schnell) unterschieden, sondern es gibt hier Limited Express rapid, Ltd. Express Southern, Ltd. Express, Airport Express, Sub Express, Semi Express und natürlich den Bummelzug (local), der an wirklich jeder Haltestelle stoppt. Sitzt man im falschen Zug und wundert sich, dass alle Leute auf einmal den Wagon verlassen, ist das wohl die Endstelle. Man muss immer darauf achten bis wohin („bound for XY“) der Zug fährt, um von dort dann einen Anschlusszug zu nehmen.

Ich habe leider Pech, so dass ich von 11.00 bis 14.00 Uhr auf so einem kleinen Bahnhof herumsitzen muss. Die Sonne scheint zwar, aber mir ist kalt. Vielleicht weil wir schon in den Bergen sind. Zum Aufwärmen ziehe ich mir eine Dose Nescafe aus dem Automaten, obwohl ich eigentlich sowohl den fertigen Dosenkaffee als auch Tee verabscheue. Aber wenn einem kalt ist, nutzt man jede Wärmequelle. Der Kaffe wird sogar in drei unterschiedlichen Geschmacksrichtungen angeboten. Die Dosen tragen die Aufschriften „France“, „Italia“ und „Tanzania“ in Romaji (Lateinische Buchstaben) und ich schätze, dass hier mit Milchkaffee, Espresso und Normalkaffe gemeint sein könnten. Ich bin ja schon froh, dass es Nescafe ist und nicht diese übersüßten, mit Milch verunreinigten Koffeinbomben, die sich „Morning Shot“ oder so ähnlich nennt. Doch endlich geht es weiter.

Der Zug schleppt sich den Berg hoch, allzu weit kann es nicht mehr sein, denn der Zug hat ganz schön zu tun, hier hochzukommen. Bald werden ich auf die Zugbahn („Cablecar“) umsteigen müssen, da es trotz Tunnel einfach zu steil für einen Normalzug wird. Als ich dann in Gokarukobashi eintreffe, wuchten ich mich und mein Gepäck zur besagten Seilzugbahn, die nur wenige Meter weiter ihren Ausgangspunk hat. Wir sind nur wenige Personen im Wagon, der keinen Gang, sondern eine Treppe im Inneren aufweist, da es hier so steil ist. Mir fällt sofort eine Frau mit lindgrüner Jacke auf, die hier einige Fotos schießt. Ausländer fallen hier schnell auf und auch mich hat sie entdeckt. Als sie sich wieder zu ihrem Manns setzt, fang ich ein Gespräch an. Es sind Franzosen, die im Zuge ihres Japanurlaubs den Koyasan besuchen wollen. In Kyoto, Osaka und Nara sind sie schon gewesen, jetzt wollen sie den berühmten Koyasan besuchen. Ich berichte ihnen von meiner Shikoku Tour und so plaudern wir fast die ganze Fahrt nur über Japan. Es gibt hier zwei Bahnen, die jeweils nach oben und unter fahren. In einem kleinen Bereich ist die Strecke zweigleisig ausgebaut, hier müssen sich die Bahnen treffen, da der Rest nur eingleisig ist. Ich frage mich gerade, wie man hier als Wanderer bzw. Pilger den Berg hoch kommt, da die Strecke zeitweilig parallel zu einem Schotterweg verläuft. Aber schließlich kommen wir an der Bergstation an und ich bin wieder etwas geschockt, wie viel Betrieb hier auf einmal ist.

Ich dachte, ich wäre am Ziel, aber hier muss man noch auf Busse umsteigen, die einen in die eigentliche Stadt bzw. zu den Tempel, von denen es hier über 100 gibt, bringen soll. Da man den ersten Teil bis zum Eingang nicht laufen darf, sei es als Vorsichtsmaßnahme damit man hier nicht unter die Räder kommt, oder als Einnahmequelle für die Tempelstadt, kaufe ich mir an der Kasse erstmal ein Tagesticket. Zum Glück bekomme ich hier gleich einen Lageplan und eine Informationsbroschüre in englischer Sprache ausgehändigt. Etwas verwirrt, weil ich mich noch nicht entscheiden konnte, besteige ich den erstbesten Bus, um erstmal in die Stadt zu kommen. Meine Vorstellung von einem kleinen Dorf, das ganz traditionell und schlicht, dafür aber mit etlichen prächtigen Tempeln hier auf dem Koyasan liegt, muss ich begraben. Ich habe das gleiche Gefühl, welches ich damals beim ersten Besuch von Kyoto hatte, das ich mir als beschauliches Städtchen mit hübschen kleinen Tempeln vorgestellt hatte. Es präsentierte sich mir jedoch als Großstadt ähnlich wie Tokyo, welche die Tempel als Sehenswürdigkeiten vermarkten und mit einem gut ausgebauten Transportsystem verbunden hatten. Was soll ich sagen, so etwas nennt man wohl Kulturschock! Ich hätte mich vorher besser informieren sollen, aber jetzt lasse ich mich treiben und guck mal wo ich lande.

Ich steige am “Friedhof” bzw. als Okunoin („innerstes Heiligtum“) bezeichneten Bereich aus, da diese die letzte Bushaltestelle („Okunion mae“) ist. Von hier kann ich die Tempelstadt von hinten aufrollen, aber als erstes werde ich mir die Stempel für mein Pilgerbuch (nokyochō) holen. Ich bin ohnehin „durch den Wind“ und fürchte, es sonst zu vergessen. Hier am Pilgerbüro stehen kleine Grüppchen von jungen Leuten. Ein junger Japaner ist gerade damit beschäftigt eigenhändig, die weißen Pilgerwesten zu stempeln, der Priester beschäftig sich derweil mit den anderen Pilgern. Es dauert bis ich an der Reihe bin, aber schließlich und endlich habe ich dann doch mein Schicksal, respektive mein Pilgerbuch, erfüllt. Die Herrschaften hier, vor allem der etwas ältere, ich möchte ihn mal mit „Lackaffen“ umschreiben, unterhält hier die ganze Meute von jungen Männern. Mir sträuben sich die Nackenhaare, so würde ich mir einen Yakusa (jap. Mafia) vorstellen. Der nette und hilfsbereite Onkel von nebenan, der wenn du nicht auf seine Bitten eingehst, eine Spende für die hilfsbedürftige Gaunerschaft deines Stadtteils zu geben, dir die Finger bricht. Allzu gerne würde ich wissen, was er unter seinen Klamotten trägt, da es fast ausnahmslos Yakusa sind, die hier in Japan Tätowierungen tragen. Deshalb sind Tätowierungen in Japan auch heute noch verpönt und dieser „Gesellschaft“ verboten, öffentliche Badehäuser zu betreten. Aber ich will mich nicht noch mehr runterziehen. Da es hier oben nicht nur sehr kalt ist, sondern auch noch angefangen hat zu regnen, will ich mich nicht lange aufhalten. Ich durchwandere den „Friedhof“, es sollen hier mehr als 2000 Grabsteine stehen. Von Kaisern und Daimyō (lokaler Fürst), über Dichter bis zum einfachen Mann, ist hier alles vertreten, sogar Firmenlogos mit Gedenksteinen für die verstorbenen Mitarbeiter kann ich ausmachen. Da der Daishi im Alter von 62 Jahren in die „ewigen Jagdgründe“ eingegangen ist bzw. in ewiger Meditation (Samadhi) seit dem 21. März des Jahres 835 hier seine letzte Ruhe gefunden hat, dachten viele Anhänger, dass die Nähe des Heiligen ihnen ein gutes Karma (Schicksal) für das nächste Leben bescheren könnte. Diese Art der wundersamen Überdauerung, weder richtig tot und erleuchtet, noch lebendig und um die endgültige Auflösung (Nirvana) strebend, ist nicht ungewöhnlich hier in Japan. Denn auch dem Tendai Sektengründer Saicho („Höchste Klarheit“), der mit dem Daishi nach China gereist war, wird nachgesagt, seit 822 in seinem Tempel Enrakuji auf dem Berg Hiei (bei Kyoto) in Meditation zu verweilen. (Vielleicht hat jemandem den Bericht über den „Marathonmönch“ vom Hiei gesehen, eben dieser steht in der Tradition des Tendai Buddismus; siehe auch http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?query_string=Japan&days_published=365&scsrc=1 Eingabe "Marathonmönch"

Ich wandere hier also über den Friedhof, aber die Orientierung ist schwierig, da keine Karte wirklich alle Gebäude auflistet. So vergleiche ich meine drei Auswahlmöglichkeiten, um meinen Standpunkt auch nur ansatzweise ermitteln zu können. Als ich an einem schreinartigen Gebäude vorbeikomme, es ist das Eireiden, dachte ich schon, dass es das Okunoin („Innerstes Heiligtum“) mit dem Mausoleum des Daishis wäre, aber es sieht eher nach Schrein aus. Aber ich bin auf dem falschen Weg, der richtige, eine etwa 2 km mit uralten Zedern eingefasste Straße, hätte mich über die Ichinobashi, die Nakanobashi und Gobyōbashi genannten Brücken direkt zum Daishi Mausoleum führen müssen. Die Brücken trennen jeweils die Bereiche in das „Reich der Toten“, das „Reich der Reinigung“ und das „Reich der Erleuchtung“. Ich fühle mich nach Shikoku zurückversetzt, wo ich mit jeder Provinz bzw. Dōjo (Übungsraum) der Erleuchtung (Nirvana) näher kommen sollte.

Jetzt laufe ich aber ein bisschen querfeldein und bewundere die vielen Statuen, Grabanlagen und Gedenksteine. Ich sehe eine Statue eines Hundes, ein kleiner Samurai im Manga Stil. (Manga bezeichnet die japanischen Comics, während Anime für die Zeichentrick- oder Animationsfilme verwendet wird.) Am Nissan Denkmal kann ich zwei Arbeiter erkennen und zwischendurch stehen diese riesigen Bäume, von denen die ältesten 900 Jahre alt sein sollen. Aus der Broschüre erfahre ich, dass aus Sicherheitsgründen immer wieder Bäume gefällt werden müssen, da sie abgestorben oder von einem Taifun beschädigt worden sind. Dies geschieht aber nur im Notfall und unter Rezitation von Sutren (Gebetsformeln). Es gibt hier so viele interessante Details, ich kann mich gar nicht satt sehen. Ein Buch lesender Herr mit Schal und einige Reliefs, bei denen ich europäische Kleidung und Gesichter ausmachen kann, sowie die „Berge“ von kleinen Steinen und Jizō Figuren habe es mir angetan. Später erfahre ich, dass diese Jizō „Aufschichtungen“ für Verstorbene errichtet worden sind, die keine Verwandten hatten, so dass sich auch niemand um die Riten nach dem Tod hätte kümmern können.

Ich sehe eine bronzene Gruppe von Figuren, „Mizumuke Jizō“ werden sie hier genannt, und es soll gutes Karma (Schicksal) bringen, sie mit Wasser zu bespritzen, was anwesende Pilger auch mit viel Schwung tun. Nach der letzten der drei Brücken ist es leider untersagt, Fotos zu machen oder hier mit Yukata (Baumwollkimono) durchzuschlendern. Ein Schild in englischer Sprache weist mich nachdrücklich darauf hin. Im Tama Fluss ist wohl eine Art spiritueller Reinigungshölzer aufgebaut, dies ist leider mein letztes Foto, da man im Okunoin (innerstes Heiligtum) nicht fotografieren darf. In der darauffolgenden Halle, es ist weder ein Tempel noch das Mausoleum, werden von Mönchen Bestellungen entgegengenommen, die sind auf Riten für die Toten und auf die Wunscherfüllung beziehen. Links vorbei, wieder aus der Halle, kommt man dann zu einer kleinen Hütte, die als „Knochenhaus“ genutzt wird. Hier werden Knochen derjenigen verwahrt, die wohl auf dem Friedhof vor dem Komplex weder Platz noch das nötige Kleingeld besaßen, um hier dauerhaft und endgültig die letzte Ruhe zu finden. Man kann sich hier auf dem Koyasan eine „Portion Glück“ erkaufen, z.B. indem man eine Sutra Abschrift anfertigt und sie dann gegen Bezahlung für einen gewissen Zeitraum hier lagert. Wer sich einbildet, die Sachen würde hier ewig verwahrt, wie es für Sutrenspeicher auf Shikoku in früheren Jahrhunderten üblich war, wird enttäuscht, denn dann würde der Berg aus allen Nähten platzen, so viel Stauraum gäbe es gar nicht. Aber so eine temporäre Zwischenlösung.

Jetzt stehe ich endlich vor dem Mausoleum des Daishi, kann aber kaum was sehen, da es hier keine Tempelhalle gibt, sondern nur ein Zaun, vor dem man Weihrauch abbrennt und seine Gebete tätigt. Irgendwo dahinten, hinter einer kleinen Tür, versteckt im Grünen, soll der Daishi in seinem Mausoleum in ewiger Meditation zwischen Dies- und Jenseits schweben. Dabei halten ich ihn doch in der Hand, meinen Daishi bzw. Wanderstock, der mich ohne größere Probleme über die Insel Shikoku geführt hat. „Arigatō gozaimasu“ (Herzlichen Dank), denke ich und will mich auf den Weg in die Stadt machen. Ich habe in einem kleinen Plan gesehen, dass es hier sogar eine Jugendherberge gibt. Vielleicht sollte ich da erstmal einkehren und mich von meinem Kulturschock erholen. Hier gibt es sicherlich noch mehr zu sehen und wenn ich schon mal hier bin, dann sollte es mir nicht entgehen lassen, mich erstmal gründlich zu informieren.

Ich laufe diesmal rechts am Gebäude vorbei und stoße auf eine Halle die Totodō („Laternhalle“) genannt wird und in der in ununterbrochener Folge, seit dem Eintreten des Daishis in seinen jetzigen Zustand, die gestifteten Laternen brennen. Die berühmtesten Laternen stammen vom Shirakawa Tennō (1053-1129; 72. Tenno) und einer armen Frau names Oteru (http://www.koyasan.or.jp/english/visitors/midokoro/torodo.html).
Ich halte mich hier aber nicht lange auf. Es ist kalt, tröpfelt vor sich hin, weshalb ich es vorziehe, mein Glück in der Jugendherberge zu suchen. Die liegt zwar fast am anderen Ende der Tempelstadt, aber da ich die 2 km Pinienallee ohnehin besichtigen wollte, laufe ich diesen Weg entlang. Als ich dann wieder auf die Hauptstraße treffe, auf der ich mit dem Bus gekommen bin, staune ich dann doch nicht schlecht, da sich hier ein Tempel an den nächsten reiht. Natürlich sehe ich nur die Tempeleingänge mit den Toren, aber alles ist hier schön gestaltet mit Pinienzweigen, Wasserbehältern und sogar Japanflaggen. Es gibt einen großen Pilgerutensilien Shop und kleine Stände wo man Opfergaben wie Orangen und erwähnte Pinienzweige kaufen kann. Zum Glück bestätigt sich meine Befürchtung nicht, hier eine Großstadt wie Kyoto vorzufinden. Vielleicht eine Kleinstadt oder um die jetzige Uhrzeit vielleicht ein Dorf, da die Tagestouristen schon wieder auf der Heimreise sind bzw. sich in die angrenzenden Tempel zum Shokubō (Tempelübernachtung) zurückgezogen haben.

Als ich in den Vorraum der Jugendherberge (http://www2.ocn.ne.jp/~koyasan/indexe.html) trete, es ist ein herrliches, altes Japanhaus, und ich bete, dass es heute Nacht noch ein Plätzchen für mich gibt. Die Wirtin spricht etwas Englisch und so kann ich mich sogar für zwei Nächte hier einmieten. Ob Schlafsaal oder Einzelzimmer spielt keine Rolle, da hier alle Übernachtungen das gleich viel kosten. Abendessen gibt es heute leider nicht, dafür morgen aber Frühstück. Als die Herbergsmutter mich zu meinem Zimmer führt, fällt meine Blick in den Aufenthaltsraum, der, dem Haus entsprechend, mit einem Go-Tisch (jap. Spiel mit weißen und schwarzen Steinen) sowie Shogi-Brett (jap. Schach), einer Sitzgruppe mit Rückenstützen und Utensilien für die Teezeremonie bestückt ist. Es gibt zwar auch einen Fernseher, ein schwarzes Klavier und eine Computerecke, aber das gehört mit zum Service. Was mich wundert, ist nur der Ausländer mit den grauen Haaren am Computer. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für Hajo halten. Doch der müsste mittlerweile in Nara oder Kyoto sein Unwesen treiben. Aber diese Schirmmütze und diese Größe, das ist tatsächlich Hajo, der vertieft in seine Computerarbeit, mich wohl nicht gesehen hat! Auch als ich ihn anspreche, höre ich von ihm nur ein abwesenden „gleich, ich muss noch was raussuchen“. Na ja, er wird mir nicht gleich davon laufen und so beziehe ich erstmal mein Zimmer ganz oben unter dem Dach.

Herrlich, ein richtiges Bett, zwar liegt ein dicken Dachbalken in gefährlicher Kopfhöhe, doch habe ich das Zimmer ganz für mich. Die Toilette liegt nur kurz um die Ecke, das Badezimmer unten neben der Küche. Ich lade mein Gepäck ab und stoße wieder zu Hajo. Wir begrüßen uns erstmal und trinken eine Runde Tee bzw. ich ziehe einen Kaffee vor. Während wir uns noch unsere Erlebnisse erzählen, vor allem wie wir die Strecken am Bangai Nr. 20 gemeistert haben, stößt eine junge Frau zu uns. Sie ist Schweizerin und auf ihrer Japanreise für eine Stippvisite hier auf dem Koyasan gelandet, da sie einen Verwandten in Japan besucht hat. Sie hat noch keinen festen Plan, wo es als nächstes hin gehen soll. Beseelt von unseren Shikoku Erlebnissen unterbreiten wir ihr den Vorschlag, doch die kleine Runde von Tempel Nr. 1 bis Nr. 17 zu machen. Dann hat man einen schönen Einblick in den Pilgeralltag und ist auch sportlich etwas gefordert. Man muss es ja nicht gleich übertreiben und wie wir die ganze Runde machen. Als wir uns überlegen, wie wir den frühen Abend verbringen wollen, wir müssen noch irgendetwas zum Abendessen organisieren, fällt mir die Telefonnummer vom „Kult-san“ aus dem Muryōkō ein, die mir der junge Mann vom Bangai Nr. 20 gegeben hatte. Kurzerhand drücke ich die Nummer Hajo in die Hand, der bei seiner Rückkehr stolz berichtet, dass wir sogleich im Muryōkōin Tempel vorbeikommen können. Unsere Schweizerin kennt den Priester Kurt Genso aus der Presse, da es vor kurzem Berichte über den gebürtigen Schweizer gab, der hier vor mehreren Jahren herkam, um Shingon Priester zu werden. Er lebt im Muryōkōin, einem Tempel, in dem mehrere ausländische Mönche und Nonnen ordiniert sind.

Der Muryōkōin (http://www.muryokoin.org/) liegt hier direkt um die Ecke. Schnell haben wir uns aufgerappelt und schnellen Schrittes den Weg bis zum Eingangstor hinter uns gelassen. Hajo fragt einen Mönch, der ihm im Innenhof entgegenkommt, nach Kurt Genso. Wenige Augenblicke später kommt der Schweizer auch schon, um uns durch das Labyrinth von Treppen und Gängen zu seiner kleinen Kammer zu führen, wo er gemeinsam mit seiner japanischen Frau lebt. Er sei gerade aus Thailand zurückgekehrt, wo er ein Projekt durchführt, das den thailändischen Mönchen ein Studium ermöglichen soll. Leider ist es noch immer so, dass es in Thailand den Mönchen verboten ist, sich in der Nähe der holden Weiblichkeit aufzuhalten. Bei einem Studium, bei dem man nun mal gemeinsam die „Schulbank drückt“, kann das leider nicht ausgeschlossen werden, so dass die Mönche entweder das Studium oder den Mönchsstatus aufgeben müssen. Kurt schwebt, nicht nur aufgrund dieses Geschlechterproblems, eine Universität für Mönche vor. Er selber unterstützt einige Jungs, die er im thailändischen Tempel kennengelernt hat mit Geld und als väterlicher Führer. Den Aufbau einer Biologieabteilung in einer Schule hat er gerade abgeschlossen und ein Projekt, um eine Bibliothek aufzubauen, wurde gerade wieder gekippt, da es sinnvoller erschien für das Geld Computer zu kaufen, die einem den Zugriff auf aktuelle Informationen ermöglichen. Dann war da noch das Problem mit der Computerbedienung. Aber glücklicher Weise hat Kurt einen Lehrer gefunden, der den Lernwilligen Computerunterricht erteilen konnte. Es scheint mir, er folgt dem alten Spruch – „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ und so bekommen wir bei seinen Erzählungen einen Eindruck von seinen Projekten. Von ihm selbst erfahren wir nur, dass er aus der Schweiz stammt, Kunst studiert und lange in, ich glaube Venedig, gelebt hat, wo er auch seine japanische Frau kennengelernt hat. Tamara, unsere Begleiterin aus der Schweiz, kennt Kurt aus Zeitungsberichten und Reportagen, die aus seinem Heimatland stammen. Wir sitzen hier bei einer Tasse Tee auf dem Boden seiner Mönchszelle an einem kleinen Tisch, die Wände sind mit Bücherregalen zugestellt. Ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Irgendwie schlicht und spartanisch hatte ich mir so ein Mönchzimmer vorgestellt. Aber für seine vielen Projekte, er dient dem Koyasan als Dolmetscher und ist, obwohl es nicht gerne hört, so eine Art Diplomat des Koyasan, fungiert für ausländische Touristen als Fremdenführer und auch sonst Foto-, Buch-, und Fernsehprojekte am laufen. Ein vielbeschäftigter Mann, der noch dazu eine Ehefrau hat, und als Priester seinen Dienst im Tempel auch nicht vernachlässigen darf. Er erzählt uns, dass demnächst ein Produktionsteam von ZDF ihn besuchen will, da es um den Pilgerweg von Shikoku geht. Den ist er zwar als Shingon Buddhist noch nie gepilgert, dafür können wir ihm umso mehr Geschichten davon erzählen. Es endet damit, dass wir, wie in Japan üblich, Visitenkarten austauschen und eine Einladung zur Morgenmeditation bekommen, die um 6.00 Uhr stattfinden soll.

Da wir noch kein Abendessen hatten, erklärt Kurt-san uns noch den Weg zu einer kleinen Kneipe, in die die Tempelmitglieder des Öfteren einkehren, weil es dort gutes, preiswertes Essen gibt. Hajo muss uns jetzt verlassen, da er so pünktlich eingecheckt hat, dass er noch Abendessen in der Jugendherberge ergattern konnte. So mache ich mich dann mit Tamara auf, um die Kneipe zu besuchen, dessen Speisekarte ebenfalls von Kurt-san ins Englische übersetzt worden ist. Ich esse ein Curry Ramen für 600 Yen. Das ist so eine Mischung aus Ramen, dünne, chinesischen Nudeln mit Suppe und einem Curry, das man sonst als Reisgericht serviert bekommt. Die Kneipe ist klein und wir futtern an der Theke. Auf der Toilette suche ich das Handwaschbecken vergeblich, das finde ich dann im Gastraum an der Wand. Als wir unsere großen Schüsseln serviert bekommen, überlege ich noch, ob ich es wagen kann, mir die riesige Schüsse, wie in Japan durchaus üblich, an die Lippen zu setzen, um sie dann geräuschvoll auszuschlürfen. Aber mit einem beherzten „supuno arimasuka“ (Gibt es Löffel?) bekommen wir dann doch noch Löffel gereicht. Als wir heute Abend in die Jugendherberge komme, rauscht mir vor lauter Informationseingabe der Kopf. Was habe ich heute alles Interessantes gesehen und erfahren. Allein das Gespräch mit Kurt-san hat mehrere Stunden gedauert. Ich falle heute tot müde ins Bett. Ich hab es nicht mal mehr geschafft, ein heißes Bad im Ofuro (jap. Bad) zu nehmen. Morgen werde ich mit Hajo den Koyasan erkunden und mir von ihm die Tempel zeigen lassen, in denen ich noch nicht gewesen bin.


Pilgerwege http://www.sekaiisan-wakayama.jp/english/sisan_index.htm

Dienstag, 29. Juni 2010

Montag, 27.04.2009, Awa City, Business Hotel Acess Awa

Der 43. Tag in Japan
Ich bin zwar schon um 6.00 Uhr auf, aber da es das Frühstück erst ab 7.00 Uhr gibt, packe ich meinen Rucksack und gehe ins Internet, um noch ein paar E-Mails zu schreiben und mir Infos zum Koyasan herauszusuchen. Endlich wieder einmal ein Frühstück so ganz nach meinem Herzen: Minichroissants, Brioschbrötchen und Kaffee satt! Das hatte ich so richtig vermisst! Ein richtig westliches Frühstück, wenn man mal davon absieht, dass das Messer für die Brötchen so ähnlich gestaltet ist wie der Löffel für den Kaffee, mehr Spatel als Messer und ich die Brötchen eher aufreiße als schneide. Die Frühstückseier sind zwar hart, aber kalt, dafür labe ich mich am Kaffee, der hier frisch aus dem Kaffeeautomaten kommt. Ich laufe, nachdem ich im Awa Access ausgecheckt habe, in Richtung Tempel Nr. 1. Es ist ganz schön schwierig, den Weg zu finden, da jetzt die Schilder alle in der falschen Richtung stehen. Während man sich auf dem Hinweg leicht orientieren konnte, hängen die Schilder einem jetzt meist im Rücken und man muss sich in Gegenrichtung orientieren. Die steinernen Wegweiser (hyoseki) sind leichter zu finden, da sie so aufgestellt sind, dass man sie aus beiden Richtungen leicht erkennen kann. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb einem eine Pilgertour in Gegenrichtung (gyaku uchi) wie vier Touren in richtiger Richtung (jun uchi) angerechnet werden. So kann man die Tour nur einmal (in Gegenrichtung) gelaufen sein, aber schon bei der nächsten Tour in der richtigen Richtung grünen Namenszetteln (osamefuda) in den Tempeln verteilen. Es gibt auch so eine Hierachie in der Anzahl absolvierter Pilgerreisen. Wie ich im Pilgermuseum lernen konnte, sind auf den Touren Nr. 1 bis Nr. 4 weiße Namenszettel (osamefuda) zu verwenden, ab 5 Runden sind es grüne, ab 8 Runden rote. Danach folgen ab 24 Runden silberne, von 55 bis 88 goldenen und ab 100 Runden auf der Pilgerreise (ob zu Fuß oder motorisiert) darf der Pilgerwütige dann Stoffkarten verwenden, die mit „Brokat“ bezeichnet werden.

Aber ich will jetzt erstmal meine erste Runde abschließen bzw. noch den fehlenden Besuch in Bangai Tempel Nr. 1 nachholen. Ich passiere ein Schild mit der Aufschrift „Gosho Kindergarten“. Dazu muss ich noch bemerken, dass das deutsche Wort im englischen Sprachraum mit der deutschen Schreibweise übernommen worden ist. Als mir Pilger entgegenkommen, grüße ich sie mit einem herzlichen „Gambatte Kudasai“ (Geben sie Ihr Bestes – nur Mut!). Ich sehe allerdings auch immer wieder Pilger, die mich aus der Entfernung sehen und dann etwas Japanisches zurufen, als ob ich in die falsche Richtung laufen würde. Mit einem japanischen „Owarimashita“ („Ich habe beendet“) kläre ich sie dann auf und versuche dann unbeirrt, meinen Rückweg zu finden. Auf dem Bürgersteig entdecke ich einen klappbaren Kamm. Wieder einmal versorgt mich mein Meiser, Kōbō Daishi, mit allen Notwendigen. Mein eigener Kamm hatte vor ein paar Tagen so viele Zinken verloren, dass ich ihn weggeworfen habe. Aber wie schon mit den Miniatur-Sandalen als Glücksbringer, kann der Daishi bescheidenen Wünsche erfüllen (;-) grins!).

Bei einem Kurzbesuch im Tempel Nr. 7 (Juurakuji), bin ich dann doch erstaunt, was von den Eindrücken aus den 88 Tempeln noch so hängen geblieben ist. Anfangs habe ich das Gefühl, als würde ich ihn das erste Mal in meinem Leben besuchen. Nun muss ich dazu sagen, dass so ein paar grüne Bäume einen Tempel doch schon sehr verändern können. Ich hatte vor knapp 6 Wochen hier nur kahle oder spärlich blühende Pflaumen- und Kirschbäume zu sehen bekommen. Während die zart rosa Kirschblüte einem Tempel noch so eine edle Note verleiht, zieht das grüne Laub ihn wieder in die Gefilde der Normalität. Ja ich möchte sagen in die Art Ländlichkeit, die ich auf Shikoku kennengelernt habe. Derb, aber mit Herz, freundlich, aber mit respektvollem Abstand. Oh, wie werde ich das vermissen! Aber ich wundere mich, dass man dann doch so ein paar Gedächtnisblitze hat. Man erkennt zwar nicht mehr die Einzelheiten der Lokalitäten, kann sich aber an bestimmte Situationen erinnern, wo man Pilger getroffen, nach Unterkunft oder Weg gefragt hatte oder etwas anderes mit verbindet, als es nur angeguckt oder fotografiert zu haben. Hier im Pilgerbüro kaufe ich einige Kleinigkeiten, die ich mir auf der Hintour zwecks Gewichtsbeschränkung verkniffen hatte. Ich kaufe eine weiße Tasche (zudabukuro), eine Glocke (jirei) und eine Wagesa, eine Art Kragen, der an eine Mönchkutte (kesa) erinnern soll. Ich werde meine Pilgerausstattung komplettieren und kann sie dann vom nächstmöglichen Postamt nach Hause schicken.

Mein weiterer Plan für heute sieht vor, mein Gepäck, wenn möglich, bei Tempel Nr. 6 (Anrakuji) zu deponieren, um dann den Weg unter dem Tokushima Expressway (Autobahn) zum Bangai Tempel Nr. 1 zu nehmen. Als wir den Tempel Nr. 4 (Dainichiji) vor einiger Zeit besucht haben, wurde uns gesagt, dass die Route von dort zum Bangai nicht passierbar sei. So wähle ich die andere Route, ausgehend von Tempel Nr. 6, und hoffe, dass mir der Übergang von der englischen Karte auf die japanische gelingt. Glücklicher Weise ist der Bangai Tempel nicht ganz so weit entfernt, so dass mir erlaubt wird, mein schweres Gepäck im Tempel zu deponieren. Wenn ich mich recht erinnere, so kann man hier im Glockenturm sogar kostenlos schlafen. Wenn ich also spät dran wäre, hätte ich schon mal ein Nachtlager sicher. Außerdem gibt es hier vor dem Parkplatz des Tempels noch eine recht komfortable Pilgerhütte mit WC.

So mache ich mich auf den Weg, aber was in der Karte einfach wirkt, ist in Natura dann doch komplizierter. Zwischen den ganzen Häusern und Feldern ist es nicht leicht den Pilgerpfad zu finden und zur Orientierung gibt es auch nur wenige Anhaltspunkte. Nur nicht die falsche Autobahnunterquerung wählen, sonst bin ich gleich auf dem falschen Weg, den ich dann auch nicht mehr korrigieren kann. Ich merke mir die Nr. 42, die hier auf einem Schild an einer Unterquerung angebracht ist. Ich werde versuchen, den gleichen Rückweg wie Hinweg zu laufen, dann sollte ich wohlbehalten wieder im Tempel Nr. 6 ankommen. Aber es ist schwierig, die spärliche Wegbeschilderung zu interpretieren, da nicht alle Schilder mit rotem Pfeil unbedingt auf den Taisanji (Bangai Tempel Nr.1) hindeuten. Das Gelände ist steil und schwierig und ich bin mir nicht sicher, ob ich den richtigen Pfad gewählt habe. Ich glaube aber, dass es hier eine steilen Autostraße gibt und einen noch steileren Pilgerpfad. Aber je höher ich den Berg hinaufsteige, desto besser wird die Aussicht über die Ebenen von Awa City bzw. Kamiita Town. Auf einem Nebenhügel kann ich ein Häuschen ausmachen, ob es ein Schrein oder ein Tempel ist kann ich leider nicht erkennen. Funkmasten, die wie Pagoden wirken, täuschen mich, aber ich habe während meiner Pilgerreise noch ganz andere „Gebilde“ gesehen, die sich dann doch als modern gestaltete Pagoden herausgestellt haben. Es ist warm und die Sonne brennt. Die Kälte der letzten Tage hatte, wie erwähnt, dann doch ihren Sinn, aber jetzt schmore ich im eigenen Saft. Als ich den Weg zum Tempel schon fast geschafft habe, hält ein Auto neben mir. Die ganze Zeit hatte ich weder einen Pilger noch ein Auto hier oben gesehen, und jetzt besteht der Fahrer darauf, mich das letzte Stück mit nach oben zu nehmen. Aber auch der Motor des Autos hat arge Probleme hier den steilen Berg hochzukommen oder ist es einfach die rasante Fahrweise, die hier Maschine und Bremsen zum Ächzen bringen. Auf dem Gelände entlässt mich mein japanischer Autofahrer, er wirkt aber nicht, als sei er ein Pilger. Na - hoffentlich ist der nicht nur wegen mir den Berg hochgebraust, hat mich irgendwo zwischen den Häusern laufen gesehen und ist dann, damit ich mich nicht verlaufe, nachgefahren.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 1 Taisanji (大山寺)
„Der große Berg Tempel“ kann im Japanischen aufgrund der Lesung der Kanji (Symbolzeichen), die für jedes Zeichen eine ursprünglich chinesische (bzw. sino-japanische) und eine japanische Lesung vorsieht, sowohl „Taisanji“ als auch Oyamaji“ gelesen werden. An der Bedeutung der Kanji ändert das jedoch nichts. Der Tempel wurde vor ca. 1470 Jahren, also vor der Zeit Kōbō Daishis gegründet, und war damals ein wichtiger Tempel des Shugendō (Bergasketentum). Als der Daishi hierher kam, war der Tempel verfallen und musste erstmal wiederaufgebaut werden. Der Tempel ist Senju Kannon gewidmet. Einer Legende nach soll Kōbō Daishi sie von seinem chinesischen Lehrer Huikuo geschenkt bekommen haben als er in China den Buddhismus studierte. Nachdem er wieder in Japan war hat er dem Tempel die Statue geschenkt, aber es gibt auch noch eine Fudō Myōō Statue im Hondō (Haupthalle). Eine weitere Namikiri Fudō Statue („Wellen glättende Fudō“) befindet sich im Schrein auf der Bergspitze. Der Tempel ist ebenfalls als „Wunsch Gewährungstempel“ bekannt, weil hier Minamoto Yoshitsune für den Sieg gebetet haben soll, bevor er zum Kampf nach Yashima geritten ist, wo er, wie wir jetzt wissen, den Kampf gegen den Klan der Taira (Heike) gewann. Sein Pferd (jap. uma) soll in der Nähe der Pagode des Taisanji begraben worden sein. Aber der Tempel ist in der ganzen Präfektur bekannt als „Heiratstempel“. Da die Silben „go en“ im Japanischen sowohl „fünf Yen“ als auch „gute Heirat“ bedeuten, wirft man hier 5 Yen-Stücke in die Spendenbox. Man sollte dann eine schöne Hochzeit feiern können bzw., wenn man noch nicht verheiratet ist, den richtigen Partner dafür finden. Es gibt hier noch eine weitere Legende, die sich vor ca. 400 Jahren zugetragen haben soll, als ein lokaler Kriegsherr 21 Tage lang für Kraft betete. Auf seinem Heimweg begegnete ihm eine Monsterkuh, die er mit einem Hieb niederstreckte. Doch als man das Untier inspizieren wollte, fand man nur eine Jizō Statue, die in zwei Hälften gespalten war. Nun glaubte man, dass sich die Gottheit Kannon in das Monster verwandelt hatte, um den Kriegsherrn seine Kraft zu „demon“-strieren. In Erinnerung daran steht im Tempel eine neunstufige Steinpagode, die der Kriegsherr zum Dank von der Spitze des Berges zum Tempel getragen haben soll.

Man merkt sofort, dass es hier kein gewöhnlicher Tempel ist, sondern ein, wie soll ich sagen, alternativer Shugendō Tempel. Die vielen Besonderheiten, das europäisch wirkende Giebelhaus, die weiße Statue mit dem Block und die vielen farbenprächtigen Bilder sprechen für sich. Ich erkunde das Tempelgelände, der Verbindungsgang zwischen Daishidō (Dasihi Halle) und Hondō (Haupthalle) mit den vielen Votivtäfelchen (ema) und den überdimensionierten Holzketten hat es mir angetan. Als ich mich für ein kleines Päuschen niedersetzen will, dringt ein Fiepen an mein Ohr. Immer wieder höre ich es und in meiner Vorstellung formt sich aus dem Fiepen schemenhaft ein Kätzchen. Ich bin dann doch ganz schön erstaunt, dass mein Kätzchen dann, Federn hat und der weit aufgerissene Schnabel so gar nicht zu dem kleinen Körper passt. Ein Spätzchen sitzt hier im Sand auf der Erde und ruft vielleicht nach seiner Mutter. Er hat zwar schon Flugfedern, macht aber keine Anstalten. Mit den weichen Puschelfedern um den eingezogenen Hals sieht her mehr wie eine fiepende Fellkugel aus. Na, wollen wir hoffen, dass es hier keine Tempelkatze gibt, die sich über leichte Beute freut.

Nachdem ich meinen Pilgerverpflichtungen nachgegangen bin und mein Pilgerbuch habe vervollständigen lassen, trete ich fröhlichen Herzens den Rückmarsch an. Aber ganz so fröhlich bin ich dann doch nicht, weil das Auto immer noch auf den Parkplatz steht. Beim Hinauffahren war mir das verwitterte Eingangstor aufgefallen, welches ich unbedingt noch besuchen möchte. Ich wandere also wieder talwärts. Das Tor ist wirklich sehr alt und verwittert. Als ich es besuche ist es sogar mit einer blauen Plane als Dachersatz ausgestattet, wohl um weitere Schäden zu minimieren. Der Weg bergab ist natürlich umso leichter, da es abwärts geht und man sich nicht allzu viele Sorgen machen muss, den Weg zu verlieren. In einer Kurve, in der ich über die Bäume hinweg sehen kann, genieße ich die Aussicht von hier oben. Es ist zwar etwas diesig, aber trotzdem habe ich eine phänomenale Weitsicht. Ich bin immer wieder verwundert, wie es so flache Örtlichkeiten zwischen so vielen Bergen geben kann. Gleich so, als hätte eine riesige Hand, die Ebenen flachgeklopft. Als ich noch in der Kurve stehe, höre ich von hinten ein Auto angerauscht kommen. Natürlich mein hilfsbereiter Autofahrer, der mich schon das Stück zum Tempel hinauf mitgenommen hat. Mit den Worten „aruki henro desu“, „ich bin ein Laufpilger“, entschuldige ich mich mit einem Lächeln und bedanke mich mit einer Verbeugung für seine Hilfsbereitschaft. Der Rückweg, ich verlaufe mich in einem Orangenhain, ist dann doch schneller gefunden als gedacht. Ich beobachte noch eine Bäuerin und einen Bauer wie sie im Feld arbeiten und sich durch den schlammigen Untergrund vorankämpfen. Das ist hier so eine richtige Kunst, die Reisfelder zu bewässern, überall muss genügend Wasser stehen, aber es darf nicht stagnieren.

Mitten hier in der Pampa sehe ich ein Schild, dass auf den „Jingui Fruchtmarkt“ verweist und Waza-no-yakata, eine Art Museum zum Mitmachen, in dem der Besucher traditionelles Handwerk der Präfektur Tokushima ausprobieren kann. Das ist auch wieder so typisch Japanisch, nicht nur in Museen Wissen konsumieren, sondern etwas im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ machen. So werden Papierschöpfen, Färbe- und Webetechniken zum Selbermachen angeboten. Ich bin dann schneller wieder im Tempel Nr. 6 als erwartet, nehme meinen Rucksack wieder in Empfang und mache eine Pause in besagter Pilgerhütte vor dem Parkplatz. Den weiteren Weg laufe ich an der Straße Nr. 12 entlang, wenn ich dem Pilgertrail folgen müsste, ich laufe jetzt in Gegenrichtung, würde ich schnell Probleme bekommen. Hier an der Hauptstraße finde ich eine Vielzahl von Automaten, der eine für Fertignudelsuppen („Cup Noodle“), für Süßigkeiten, Getränke und sogar einen für Eiscreme. Ich genehmige mir ein Erdbeereis, denn leider war meine Lieblingssorte „matcha“ ausverkauft. Macha oder „Grüner Tee“ ist mein Favorit, da der bittere Geschmack des Grünen Tees so herrlich mit der Süße des Vanilleeises harmoniert. Ich hatte zwar auch zwischenzeitlich ein Schokolade überzogenes Vanilleeis als Eiskonfekt probiert, aber Grünteeeis mit Waffel oder pur als kleine Eiskugeln sind für mich unschlagbar.

Ich passiere Tempel Nr. 2, der hier direkt in der Kurve liegt und lande schließlich wieder in Tempel Nr. 1, dem Ryōzenji. Ich hatte noch auf Höhe des Abzweigers zum Deutschen Haus überlegt, ob ich Patrik noch einen Besuch abstatten sollte, da es aber schon 16.15 Uhr ist, und die Öffnungszeit nur bis 16.00 Uhr geht, habe ich mich dann doch dazu entschlossen, weiter zu wandern. Jetzt bin ich wieder am Anfang, dort wo ich gestartet bin, voller Anspannung, voller Tatendrang und voller Ungewissheit, was die nächsten Wochen wohl bringen werden. Ich muss mir ein Tränchen verdrücken, als ich meine Herz Sutra rezitiere, aber ich habe es wirklich geschafft! Aus der anfangs vor allem sportlichen Herausforderung ist eine spirituelle geworden. Hier schließt sich der Kreis! Ich erhalte einen weiteren Eintrag in mein Pilgerbuch (nokyochō) und kaufe noch Namenskarten (osamefuda), Baumwolltücher (tenugui), Räucherstäbchen und Kerzen. Zusammen mit den anderen Pilgerutensilien, die ich nicht mehr für den Besuch des Koyasans benötige, schicke ich sie nach Deutschland. Kurz vor Dienstschluss kann ich noch ins Postamt von Bando stürmen und oh Wunder – es gibt kein Problem mit der Adresse! Mit dem „Tempelbus“ fahre ich dann um 17.22 Uhr in Richtung Tokushima und ich schwöre, dass dies bestimmt nicht meine letzte Pilgertour gewesen ist. Von meinem Sitzplatz aus beobachte ich, wie die Sonnen unter geht. Ich hoffe jetzt nur, dass ich das Businesshotel Sakura, in dem ich mit Hajo auf dem Hinweg abgestiegen waren, wiederfinde. Aber es läuft alles wie am Schnürchen. Ich checke im BR Sakura ein und stelle verwundert fest, dass sich im Gästebuch hauptsächlich Ausländer eingetragen haben. Typische Ausländer Absteige, denke ich so bei mir, als ich die Menge und vor allem die Größe der Schuhe im Eingangsbereich bemerke. Japaner hätten sie alle ordentlich in Reih und Glied gestellt, aber bei den Ausländer fliegen sie alle durcheinander. Ich kaufe noch etwas zum Abendessen aus dem Lawson Kombini (24-h-Markt) am Hauptbahnhof Tokushima und frage nach, wann der Bus morgen zum Flughafen Kansai fährt. Auf meinem Zimmer finde ich bei meiner Rückkehr eine Banane, sowie ein Stück Baumkuchen und Tee. Diesen Ritus lob ich mir, da kann man bei Einchecken schon mal ein kleines Teepäuschen einlegen, bevor man sich dann wieder aufrappelt, um noch Besorgungen zu machen oder ein heißes Bad im Ofuro zu nehmen.

Sonntag, 26.04.2009, Hotel S. 106 Onsen

Der 42. Tag in Japan
Heute ist Sonntag, das Frühstück hier im Onsen (Thermalquelle) Hotel gibt es zwar erst um 7.00 Uhr, aber ich bin schon früher auf, da ich meine Sachen noch packen muss. Ich hatte sie zum Trocknen aufgehängt, weil ich gestern doch ziemlich durchgeweicht bin. Das Wetter ist trübe, aber es regnet zum Glück nicht. Als ich heute in den Spiegel schau, muss ich grinsen, denn mein Gesicht ist voller Sommersprossen. Das war mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ganz am Anfang meiner Pilgertour hatte ich echte Schwierigkeiten mit der starken Sonneneinstrahlung. Meine Hände hatten eine Sonnenallergie entwickelt und waren, neben den sich entwickelnden Sommersprossen, mit kleinen Bläschen überseht. Auch die Sehnenscheidenentzündung der Handgelenke hat sich ohne medikamentöse Unterstützung zurückgebildet. Meinen Füßen geht es gut, wenn ich mal von den etwas tauben Zehenspitzen und meinen verkürzten Achillessehnen absehe. Nichts, was so schlimm gewesen wäre, als dass ich hätte pausieren oder womöglich die Pilgerreise abrechen müssen. In wenigen Tagen werde ich mein Ausgangspunkt wieder erreicht haben und mit Ausnahme kleinerer Blessuren, mir tut der Hintern von gestern noch etwas weh, bin ich doch ganz gesund durchgekommen.

Zum Frühstück gibt’s diesmal nicht nur die gewöhnliche Miso Suppe mit Einlage, sondern so einen Nudelsuppentopf auf einem Stövchen. Nach einem reichhaltigen Frühstück checke ich aus. Ich kann mir mittlerweile auch ungefähr denken, wo ich mich jetzt befinde, denn hier in der Gegend gibt es nicht viele Unterbringungsmöglichkeiten. Wenn ich hier am Hotel die Straße entlang laufe und nach einem Fluss auf die Straße Nr. 193 treffe, weiß ich, wo ich heute Nacht geschlafen habe. Zurück zum Tempel Nr. 88 sollte es dann kein Problem mehr sein. Das Wetter ist, wie gesagt, bedeckt, doch kaum stehe ich vor der Tür, fegt mir ein kräftiger Windstoß meinen Pilgerhut vom Kopf. Ich flüchte wieder hinter die automatische Eingangstür des Hotels und krame meinen Regenponcho heraus. Den Pilgerhut binde ich am Rucksack fest. Anstelle meines Seggenhuts ziehe ich meine Mütze über die Ohren, die ich sonst nur bei den Übernachtungen in den Pilgerhütten getragen habe. Zusammen mit den Handschuhen haben sie mich immer schön warm gehalten. Und das brauche ich heute auch, denn der Wind ist eisig, kein Sonnenstrahl hat es seit geraumer Zeit geschafft, hier Wärme zu verbreiten, dabei habe ich zeitweilig schon richtig auf meiner Tour schwitzen müssen. Aber auf einmal ist es, als wäre ich in einem anderen Land, in dem es nur Kälte und Wind gibt. Dabei ist es doch fast Ende April und so hoch in den Bergen liegt diese Ortschaft auch nicht.

Laut Karte sollte es bis zum Ōkuboji ca. 14 km sein, natürlich muss ich den Tempel nochmals besuchen, da ich gestern bei dem vielen Regen nicht ein Foto schießen konnte. Auf meinem Weg liegt eine große Steinmetzfabrik, auf deren Betonmauer sind unzählige kleine Steinlaternen aufgestellt. Ich kann eine Steinsäule mit Löwen erkennen, eine Statue von Hotei, dem dicken, lachenden Mönch und eine Gruppe von drei Katzen. Es regnet noch ein paar Tropfen, der Wind weht mir um die Ohren, aber schließlich habe ich die Ortschaft erreicht, an der ich gestern zum Damm abgebogen bin. Hier hat sogar ein kleiner Laden geöffnet und das am Sonntagmorgen! Ich kaufe mir eine Tüte mit Muffins als Proviant und gefüllte Brötchen, die ich sogleich verspeise. Ohne Brot bzw. Stärke komme ich morgens nicht in Tritt! Der Weg zu Tempel Nr. 88 erscheint mir dann auch viel länger, vielleicht weil man die Strecke schon kennt. Aber kurz vor dem Ziel überholt mich so ein japanischer Schnellläufer. Ich hatte zwar versucht, ihn nicht davon wandern zu lassen, es ist immer gut, einen Tempomacher zu folgen, aber schließlich muss ich ihn dann doch ziehen lassen.

Exkurs Tempel Nr. 88 Ōkuboji (大窪寺)
„Der Tempel der großen Höhle“ geht auf eine Höhle zurück, die hier einmal existiert hat. Der Tempel wurde 717 von Gyōgi (669-749) auf Geheiß der Kaiserin Genshō (680-748; 44. Tennō) gegründet. Im 9. Jahrhundert, nachdem er aus China zurückgekehrt war, schnitzte Kōbō Daishi den Honzon (Hauptgottheit) Yakushi Nyorai und widmete ihm und seinen Wanderstab mit rasselnden Metallringen (shakujō) eine Halle. Zwischen 1573 und 1592 brannten alle Hallen bis auf eine nieder. Nur die Statue und der Stab des Daishi überdauerten die Zeit der brandschatzenden Chōsokabe Truppen. Zwischen 1673 und 1704 wurde der Tempel unter Masudaira Yorishige, Herrscher von Takamatsu, wiederaufgebaut. Um 1900 brannte der Tempel abermals nieder, wurde aber nach einiger Zeit wiederhergestellt. Der Daishidō (Daishi Halle) stammt aus dem Jahre 1984. Man beachte die Krücken, die Pilger hierließen, nachdem sie auf der Pilgerreise geheilt wurden, die heiligen Buppōsō Vögel und die Kechigan Omamori (Talismane der abgeschlossenen Pilgerreise). Früher war Frauen der Zutritt verboten, heute gilt das glücklicher Weise nicht mehr. Auf einer Steinsäule vor dem Wächtertor (niōmon) kann man lesen, dass das Ende der Pilgerreise naht. „Hachijuchaich Kechigan-sho“, steht da in Kanji (Symbolzeichen) geschrieben, was so viel heißt wie „die heiligen Orte der Shikoku Pilgerreise, wo die Wünsche sich erfüllen“. Hier endet die Pilgerreise für viele Pilgerstöcke, die in der Hōjō Halle verwahrt werden und am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling oder während eines Goma Feuerrituals im August verbrannt werden. Aber der Pilger muss jetzt noch den Kreis mit dem Besuch des Tempels Nr. 1 schließen und den erfolgreichen Abschluss der Pilgerreise im Hauptquartier des Shingon Buddhismus, der gleichzeitig auch das Mausoleum des Daishis birgt, im Pilgerbuch (nokyochō) quittieren lassen.

Ich sehe mich auf dem Tempelgelände um, das Wetter ist zwar grau und windig, aber noch regnet es nicht. Gestern musste ich infolge von Dauerregen das Fotografieren aufgeben, aber auch heute mache ich nur wenige Fotos. Da ich meinen Kōbō Daishi Stock liebgewonnen habe, möchte ich ihn hier nicht zurücklassen. Schließlich muss ich noch zu Tempel Nr. 1 wandern. Wenn dann auf einmal der Wanderstock fehlt, den man über 40 Tage mit sich herumgeschleppt hat, ist das ein ganz komisches Gefühl. Man hat auf einmal eine Hand frei und weiß nicht, was man damit machen soll. Aber meinen kurzgelaufenen Stock, ich schätze er hat mindestens 10 cm verloren, wird sich Zuhause als Souvenir zu meinem Wanderstock vom Fuji und einem anderen Pilgerstock aus Kamakura (Nähe Tokyō) gesellen. Auf dem Gelände des Ōkuboji ist heute richtig was los, das liegt auch daran, dass die wenigen Läden und Shops hier direkt vor dem Tempelgelände liegen.

Mein Plan für heute sieht vor, nach einer kurzen Fotosession in Tempel Nr. 88 den Rückweg nicht direkt zu Tempel Nr. 1 einzuschlagen, sondern den Umweg über Tempel 10 zu wählen, da ich den am Anfang ausgelassenen Bangai Tempel Nr. 1 noch in meinem Pilgerbuch (nokyochō) verewigen lassen möchte. Den Bangai Tempel Nr. 1 direkt anlaufen zu wollen, zerschlägt sich schnell, da das Kartenmaterial keine solche Querfeldeinwanderung hergibt. Aber ich bin fast drei Wochen vor meinem eigentlichen Plan, wie und was ich danach mache, ob ich umbuchen oder die Restzeit in Japan verbringen kann, steht jetzt noch in den Sternen. Ich habe also Zeit und muss mich nicht beeilen und so wandere über den verzeichneten Trail in Richtung Tempel Nr. 10 (Krihataji), der hier in fast einer Linien mit den anderen Tempel, (Nr. 9 bis Nr. 1) liegt.

Ich mache mich jetzt auf den Rückweg, über die mehrspurig ausgebaute Autostraße wandere ich am Higaidani Fluss entlang. Kurz vor einem Tunnel entdecke ich noch eine nichtverzeichnete Übernachtunsmöglichkeit. Es ist wohl so eine Art Rastplatz mit Toilettenhäuschen, das direkt über dem Fluss gebaut worden ist. Wenn es von der gegenüberliegenden Rinderfarm nicht so stinkend herüberwehen würde, wäre dies ein gemütliches Plätzchen. So aber sehe ich zu, dass ich meine Pause so kurz wie möglich halte. Auf einem Schild, auf der die Internetseite (http://www.road.pref.tokushima.jp/h/i/index.html) vermerkt ist, gibt es Informationen zu allen Möglichen wie Verkehr, Wetter, Erdbeben, Tsunami und Wasserstandmeldungen, leider alles nur in Japanisch und ohne Bilder. Hier esse ich meine Osettai (Pilgergeschenk) vom Bangai Nr. 20, die Nudelcracker und ein paar Kekse.

Die Luft ist irgendwie raus. Die anfängliche Spannung war sorglosem Wandern gewichen. Keine Sorge, wie weit man kommt, keine Sorge, ob man eine Unterkunft findet, aber immer Aufmerksamkeit darauf, Alternativen zu finden, die einem eine Ausweichmöglichkeit eröffnen. Nicht lange über etwas ärgern, nein - andere Möglichkeiten finden, weiter zu kommen oder im Zweifelsfall früher einkehren, als plötzlich im dunklen Wald zu stehen. Kein regelmäßiges Fernsehen, kaum Nachrichten, obwohl die japanischen Berichte über die Schweinegrippe aus Mexiko verfolgt habe und auch versucht habe, regelmäßig den Wetterbericht zu sehen. Die Dinge auf solcher Tour bekommen eine andere Wertigkeit. Man überdenkt Gewohnheiten, fragt sich, ob das wirklich nötig ist und erkennt, dass „Weniger oft Mehr“ ist. Das ist jetzt wieder so eine buddhistische Phrase, aber es ist wirklich so. Auf meiner Tour habe ich gemerkt, was ich wirklich brauche, natürlich bezogen auf die Tour, man muss sich wundern, mit wie wenig Sachen man über die Runden kommt und natürlich wägt man ihm wahrsten Sinne des Wortes jedes Stück ab, was man mit sich herumschleppt. Sollte man das nicht auch im täglichen Leben so machen, denn nichts anderes ist unser Alltag, eine Pilgerreise, die wir umso mehr genießen können, je weniger wir Wert auf Nebensächlichkeiten legen, die uns die Zeit für Dinge rauben, die wirklich wichtig sind. Ich hoffe ich kann diesen Aspekt in meinen deutschen Alltag hinüberretten.

Aber genug des Philosophierens – noch bin ich nicht wieder in Deutschland. Zurzeit wandere ich noch durch die Wälder hier in den Bergen, die sich vor mir wie eine grüne Wand auftürmen. Zwischendurch mal eine Brücke, die, im Gegensatz zu vielen Straßen, jede einen eigenen Namen trägt. An einem kleinen Bambushain sehe ich wie ein Japaner Bambussprossen ausgräbt. Später erfahre ich aus dem Internet (Wikipedia sei Dank!), dass Bambus bis zu 1 m pro Tag wachsen kann und zu den am schnellsten wachsenden Pflanzen überhaupt zählt! Waldbambus kann bis zu 38 m hoch wachsen und gehört dem Namen nach zu den „Süßgräsern“. Ein Grashalm von 38 m Höhe – Japan wartet gerne mit Superlativen auf!

Ich passiere so ein blaues „Ensemble“ aus Getränkeautomaten, Sitzbank und Blumenständer. Da hat sich jemand aber besonders Mühe gegeben, um es hier gemütlich zu machen. Man muss immer bedenken, dass es hier in Japan durchaus nicht üblich ist, in der Sonne zu sitzen. Fast jede Etagenwohnung besitzt zwar einen Balkon, der aber wird nicht zum Entspannen genutzt, sondern dient als Rumpelkammer bzw. Waschkeller. Hier hängt die Wäsche zum Trocknen, werden die Futon-Betten zum Lüften aufgehängt und alles gelagert, was man nicht mehr in den kleinen Wohnräumen unterbringen kann. Apropos kleine Räume, da fällt mir ein, dass ich nicht eine Nacht in einer Reismühle übernachten musste, obwohl das ideale Unterkünfte sind. Auch eine Übernachtung in einem Kapsel-Hotel ist mir erspart geblieben, obwohl in Kōchi die Möglichkeit bestanden hätte. Letzteres kenne ich vom Hörensagen aus Tokyo, wo man, wenn man den letzten Zug verpasst hat, die Nacht in so einem kleinen Schlafcontainer (capsule) in einem Saal übernachten kann. Hinter einem kleinen Vorhang findet sich ein mit TV, Radio und Lampe ausgestattetes Bett. In letzter Zeit werden auch immer mehr Internetcafes zum Übernachten genutzt, da sie meist billig sind als ein Hotel. Man muss allerdings erwähnen, dass in Japan diese Art der Cafes aus abgetrennten und abschließbaren Kabinen besteht, also kein großer Raum ist wie bei uns, in dem sich die Computer dicht an dicht drängen. Duschmöglichkeiten und Decken gehören in den Cafes meist mit zu Service – es ist zwar anders gedacht gewesen, aber man muss eben ein bisschen erfinderisch sein.

Für heute ist mein Ziel allerdings weder eine Reismühle, noch ein Internetcafe, obwohl ich das Internet in meiner geplanten Unterkunft kostenlos benutzten darf. Wie schon auf dem Hinweg werde ich im Hotel Awa Access, eiem Businesshotel, absteigen. Es liegt hinter dem Hōrinji (Tempel Nr. 9) etwas abseits vom Pilgerpfad. Ich hatte es mir in die Karte eingetragen, weil hier die Unterkunftsmöglichkeit doch recht dünn gesät sind. Als ich durch Awa City laufe, immer an der Straße Nr. 12 entlang, kommt mir die Strecke dann doch länger vor. Als ich an einer Bushaltenstelle vorbeikomme, die mit einem soliden Holzhäuschen versehen ist und an einen „Getränkeautomaten Park“ grenzt, überlege ich noch kurz hier zu übernachten. So könnte ich immerhin 5500 Yen sparen, aber ich freue mich schon auf das „Westliche Frühstück“ mit Eiern und Kaffee satt. Außerdem möchte ich das Internet dazu nutzen, mir Informationen über Umbuchungsmöglichkeiten, Transportmöglichkeiten zum Koya-san und weitere Reisetipps in Japan, zu beschaffen. Ja, ich nehme langsam Abschied von der Pilgertour, der Natur und der Insel, auf der ich so viel Spaß hatte. Morgen noch den letzten Abschnitt bis zum Tempel Nr. 1 gewandert und eine Stippvisite auf dem Koyasan und was danach kommen mag, weis bis jetzt nicht mal Kōbō Daishi.

Als ich heute Abend am Computer im Access Awa meine E-Mails checke, erwartet mich eine Überraschung. Sowohl die „Berliner Mädels“ als auch Hajo haben mir eine Warnung zukommen lassen, dass die vielbesagten Schlangen unterwegs sind. Explizit Hajo warnt mich davor den Trail bei Bangai Tempel Nr. 20 zu benutzen, da er erstens schlecht markiert ist und zweitens es viele Schlangen auf dem Berg geben soll. Knapp daneben ist auch vorbei, denke ich so bei mir, bei der Kälte auf dem Berg, hätte ich die allenfalls „Schlange in Eis“ oder „Schlange ganz steif“ begegnen können. So hatte das kalte Wetter also doch sein gutes: Ich habe zwar ziemlich gefroren, dafür hatte ich keinen Schlangenkontakt. Im nahe liegenden Sunkus Kombini (24-h-Shop) besorge ich mir zum Abendessen, im Hotel wird nur Frühstück angeboten, eine japanische Pizza (okonomiaki) und eine Traubenlimonade („Fanta Budo“), sowie für morgen Gebäckteilchen mit Schokostreußeln und Teile, die wie „Berliner“ schmecken.

Samstag, 25.04.2009, Sanuki City, Takeyakiki Ryokan

Der 41. Tag in Japan
Hätte ich heute am Morgen gewusst, was mir bis zum Abend passiert, wäre es von mir wohl mit „Pleiten, Pech und Pannen“ überschrieben worden. Aber es fing alles schon gestern mit den Kommunikationsproblemen an. Als ich heute in meinem kleinen Zimmer erwache, ich hatte die Soji (Schiebetüren), die als Gardinenersatz dienen, offen gelassen, ist es dunkel und regnet. Ausgerechnet heute, wo ich eine recht weite Strecke wandern muss, noch dazu durch die Berge! Um 6.00 Uhr bereche ich auf. Die Dame an der Rezeption, mit der ich gestern das Missverständnis über die Übernachtungspreise hatte, checkt mich aus und drückt mir noch ein 1000-Yen-Schein in die Hand. Sie sagt mir es sei für „Pan“ (Brot), da ich sie aber nicht wieder brüskieren will, sie hatte mein Schrecken bzw. Ärger wohl durchaus verstanden, bedanke ich mich und mache mich auf den Weg zu Tempel Nr. 88.

Eigentlich wollte ich im Ryokan zwei Tage bleiben und mein schweres Gepäck hier deponieren. Aber jetzt bin ich gezwungen, mich mit meiner gesamten Habe zum Ōkuboji (Nr. 88) zu schleppen. Eventuell kann ich dort den Rucksack im Pilgerbüro lassen und den Weg zum Bangai Tempel Nr. 20 dann noch mit leichtem Gepäck antreten. Den Weg zum Ōkuboji Tempel hatte ich mir dann doch kürzer und leichter vorgestellt. Auch meine Freude, endlich den letzten Tempel der Hauptkette zu besuchen, ist getrübt und das nicht nur aufgrund des Regens. Es ist verdammt kalt geworden, der Regen fließt in Strömen. Zum Glück trage ich über meiner Doppeljacke einen Regenponcho, der mich mitsamt meines Rucksacks umhüllt. Er hätte vielleicht etwas länger sein können, denn ich bekomme recht schnell nasse Füße, aber eigentlich das optimale Teil für so eine regnerische Insel wie Shikoku. Ich brauche für die knapp 2,5 km bis zum Tempel eine halbe Stunde und bin so natürlich viel zu früh am Pilgerbüro.

Zum Glück kann man sich hier vor dem Tempelbüro unterstellen. Es gibt sogar Bänke zum Ausruhen. Ich schäle mich aus meinem „Zwiebel Look“ und beschließe, den ersten Mönch, der das Pilgerbüro öffnet, zu fragen, ob ich meinen Rucksack hier hinterlegen kann. Aber ich habe Pech, denn der alte Kauz besteht darauf, dass ich den Rucksack mitnehme, da der Bangai (Nebentempel) einfach zu weit weg ist. Es verkürzt die Strecke aber auch nicht, wenn ich mit vollem Gepäck laufe, denke ich so bei mir. Ich ärgere mich, verstehe aber auch sein Ansinnen. Denn was geschieht, sollte ich nicht vor Ablauf der Öffnungszeit wieder im Pilgerbüro erscheinen? Soll er dann meinen Rucksack vor die Tür stellen, wird er eventuell geklaut. Komme ich jedoch nach der Öffnungszeit wieder zum Tempel, finde ich niemanden, der mir mein „Gutes Stück“ wieder rausgeben kann. Niedergeschlagen trabe ich von Dannen. Bei dem Regen kann ich kein Foto vom Tempel machen, nehme mir aber bei nächster Gelegenheit vor, das nachzuholen. Ich werde versuchen, heute den Bangai Tempel zu erreichen. Je nachdem wie schnell oder langsam ich bin, werde ich den Rückweg zu Tempel Nr. 1 über Tempel Nr. 88 machen. Vielleicht gibt es kürzere Strecken, aber da mein Kartenmaterial begrenzt ist, wähle ich lieber die ausgewiesenen Pilgerstrecken, als mich querfeldein zu schlagen.

Regen, Regen und nochmals Regen, ausgerechnet heute wo ich ihn nicht gebrauchen kann. Ich laufe wieder den Weg zurück zum Takeyakiki Ryokan, von hier muss ich wieder nach japanischer Karte laufen, die für die Strecke zum Bangai Tempel so ca. 20 km nennt. Unter einer Straßenunterführung mache ich kurz Pause. Warum es hier wohl eine Unterführung gibt, eine einfache Kreuzung wäre hier doch auch keine Problem gewesen, so wenige Autos wie hier fahren? Während auf der Karte eine längere Tour vermerkt ist, die erst um den Ōtaki Berg herumführt und hauptsächlich Autostraße beinhaltet, wähle ich den, in meinen Augen kürzeren Weg. Er beginnt an einer Art Staudamm mit WC und führt dann als Wandertrail, die Serpentinen der Autostraße abkürzend, direkt den Berg hinauf. Aber wie erwähnt, der Tag ist mit „Pleiten, Pech und Pannen“ überschrieben und so habe ich das Pech, dass ich den Einstieg zum Trail nicht finde. Stattdessen gibt mir ein Hinweisschild hier an der Straße Auskunft darüber, dass der Autoweg ca. 16 km lang ist. Diese Strecke ist für mich noch annehmbar, obwohl der Trail es auf 6 km verkürzt hätte. Aber ich habe jetzt Zeit, da ich die offizielle Pilgertour so gut wie abgeschlossen habe, will ich mich nicht durch so ein paar Widrigkeiten ärgern lassen.

Ich stapfe also die Autostraße hoch, die jedoch nicht mehr vollständigen in meiner Karte verzeichnet ist. Während ich mich noch frage, wo ich mich den eigentlich auf der Karte befinde, werden Minuten zu Stunden. Ich wandere im Regen, der Nebel verdeckt die Bergspitzen. Nur von Zeit zu Zeit denke ich, dass ich diese und jene Häusergruppe bzw. Blick auf irgendwelche Plantagen schon mal gesehen habe. Da ich mich hier am Berg aber stete nach oben bewege und jede Windung der Straße durchwandern muss, habe ich jedes Mal einen anderen Blickwinkel. Zwei große Reisebusse fahren an mir vorbei. Wie gerne wäre ich mit ihnen mitgefahren, denn mittlerweile bin ich dann doch ganz schön nass geregnet, obwohl der Regen nachgelassen hat. Da bin ich dann wenigstens auf dem richtigen Weg, denke ich so bei mir, als kurz vor mir ein Mauzen ertönt. Es ist ein klägliches Mauzen, einer noch kläglicher wirkenden Katze. Es ist so ein ganz heller Tiger, aber derart abgemagert, dass man trotz langhaarigem Fell die Knochen sehen kann. Tja, Kätzchen, denke ich so bei mir, da hast du dich hier verlaufen wie ich mich verlaufen habe. Und wieder ertönt ihr schwächliches Miau. Ich habe leider nichts mehr außer meinen Pilgerkeksen und ich bezweifle, dass du die frisst. Wenn so eine Hauskatze sich hier in der Wildnis verläuft und den Weg nach Hause nicht wieder findet, muss sie entweder verhungern oder sich auf ihre Urinstinkte besinnen und selber jagen. Aber diese arme Katze ist wohl so ein entlaufener Stubenhocker, der noch nie eine lebende Maus oder einen Vogel gejagt hat. Wie gerne würde ich ihr helfen, dabei kann ich mir ja nicht mal selber helfen. Wenn sie schlau ist, versucht sie das Fleisch der Krabben zu futtern, die hier alle paar Meter von Autos platt gefahren worden sind. Aber da ich selber nicht weiß, wie weit es bis zum Tempel ist, muss ich sie schweren Herzens am Straßenrand sitzen lassen.

Ich wandere weiter, immer die nebelverhüllten Gipfel im Auge, irgendwo da oben liegt der Ōtakiji Tempel. Der Gedanke motiviert mich, was habe ich heute schon geschafft, ganz vom Tal bin ich bis in diese Höhe gekommen. Doch ein Auto, das kurz vor mir bremst, reißt mich aus den Gedanken. Ein japanisches Ehepaar winkt mir energisch zu, während ich zwei Pilgerbusse und drei andere Autos ihrer Wege ziehen ließ, denke ich, dass ich für heute meinen guten Willen bewiesen habe. Und da ich nicht wie das Kätzchen im Regen enden möchte, nehme ich diese „Pilgererleichterung“ dankend an. Jetzt beginn hier aber wieder eine Achterbahnfahrt durch die Kurven, doch schneller als erwartet, hat diese Fahrt ein Ende. Es war, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, nur noch ein Katzensprung bis zum Tempel.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 20 Ōtakiji (大滝寺)
„Der Tempel des großen Wasserfalls“ wurde von Gōgi (668-749) gegründet und man sagt, er habe gleich 3 Statuen von Amida Nyorai als Honzon geschnitzt. Kōbō Daishi hat den Berg ebenfalls besucht, um auf seinem Gipfel die Morgensternmeditation (Gomonjihō) durchzuführen. Der Tempel ist berühmt für seine „Yakunagashi“, was so viel wie „das Unglück wegwaschen“ bedeutet, aber was sich dahinter verbirgt, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wer ist jetzt wieder Saisho Daigongen, der hier als Honzon (Hauptgottheit) angegeben ist? Nishiteru Daigongen oder auch Amano Oshihi sind Bezeichnung für die gleiche Gottheit. Vermutlich eine Shinto Gottheit (kami), da sie den Titel „Daigongen“ trägt. Angeblich soll dieser Tempel der am höchstgelegenste der gesamten Shikoku Tour sein, sogar höher als das Hauptquartier des Shingon Buddhismus auf dem Koyasan.

Als ich mit meinem japanischen Ehepaar den Tempel betrete, ist da schon eine Pilgergruppe am Sutren rezitieren. Als ich im Tempelbüro einen Pilgerbucheintrag machen lassen, erzählt mich die Frau an. Sie soll mir von meinem großen Wanderkollegen, der vor vier Tagen (also am 21.04.) diesen Tempel besucht hat, liebe Grüße bestellen. Etwas irritiert frage ich nach, ob sie Hajo oder die beiden Berlinerinnen meint, die ich bei Tempel Nr. 46 getroffen habe. Aber ich habe schon richtig gehört, dass es Hajo war, der wohl mit der ausgezeichnet Englisch sprechenden Japanerin hier ein Pläuschchen geführt hat. Jetzt haben auch meine Auto fahrenden Japaner mich hier am Pilgerschalter entdeckt und fragen mich, ob sie mich wieder mit runter nehmen sollen. Ich verneine mit der Begründung, dass ich ein „Arukihenro“, ein Wanderpilger bin. Außerdem sollte der Rückweg, der jetzt nur noch bergab verläuft nicht mehr so schwierig sein. Bei letzterem habe ich mich ganz schön getäuscht und sortiere es unter Pleiten ein, denn mein Abstieg soll meine größte Pleite auf der ganzen Pilgertour werden.

Aber zurück zu meinen motorisierten Wohltätern, die mir als Osettai (Pilgergeschenk) noch eine Flasche Tee und frittierte Nudeln, sie schmecken so ähnlich wie ungesalzene Salzstangen, zukommen lassen. Ich bedanke mich und wir verabschieden uns voneinander. Da der ganze Berg im Nebel hängt, ist es ganz schön schwierig, den Trail zu finden. Doch als ich die Straße am Tempel in Gegenrichtung laufe, zu der ich gekommen bin, sehe ich ein Schild. Hier ist der Trail mit neonfarbenen Bändern markiert, die man bei dem Nebel noch relativ gut sehen kann. Ich folge also den Bändern, merke jedoch schnell, dass der Trail hier nicht ganz „ohne“ ist. Laub hat sich auf dem Weg angesammelt und durch den Regen ist es ziemlich rutschig, zumal es hier steil rauf und runter geht. Innerlich verfluche ich meine Entscheidung den Rückweg zu laufen schon wieder, aber eigentlich sollte die Wegführung des Trail mir nicht allzu große Probleme bereiten. Laut Karte muss ich immer nur, abgesehen von einigen Kurven, geradeaus den Berg herunterwandern, bis ich auf die Straße treffe, die ich hochgekommen bin und ob ich das letzte Stück bis zum Staudamm dann auf dem Trail oder der Straße laufe, „macht den Kohl auch nicht mehr fett“.

Aber wie die Überschrift „Pleiten, Pech und Pannen“ schließen lässt, läuft heute nichts glatt, so verwechsle ich den eigentlichen Trail mit der Feuerschneise. Auf Feuerschneisen, die natürlich durch Bänder markiert sind, werden alljährlich die Bäume und Sträucher zurückgeschnitten, damit das Feuer keine Nahrung finden, um sich weiter auf dem Berg auszubreiten. Nun ja und durch die Kennzeichnung mit den Bändern habe ich wohl den Trail und die Feuerschneise verwechselt. Da ich der Meinung war, dass der Tempel schon am höchsten Punkt lag, ich dementsprechend nur noch talwärts wandern musste, bin ich anstatt den Berg noch weiter hoch zu kraxeln auf der absteigenden Feuerschneise gelandet. Dies bedeutete für mich auf den „absteigenden Ast“ zu sein, da die Schneise um einiges steiler und schwieriger zu überwinden war. Zumal hatte ich meinen, um die 14 kg wiegenden, Rucksack auf dem Buckel, der einen mächtig den Hang herunterziehen kann. Mit einem Stoßgebet an Kōbō Daishi und dem Versprechen es endlich kapiert zu haben, rutsche ich auf dem Hosenboden die Feuerschneise hinab. Wenn ich jetzt an einem betonierten Steilhang rauskomme, bekomme ich echte Probleme, wie soll ich da runter kommen? Ich bin zwar schon an solchen Konstruktionen herausgekommen, doch diese waren immer abgesichert gewesen, da der Trail an ihnen vorbei führte. Wenn ich jetzt auf einen Fluss treffe, hätte ich noch mal Glück gehabt, den an seinen Ufern kann man entlang laufen und ich hätte wieder einen Orientierungspunkt, von dem ich abschätzen könnte, wo ich denn gelandet bin. Nachdem ich so einen kleinen Bach, der hier vom Berg plätschert überwunden habe, komme ich an einem Platz mit Baumaschinen raus. Natürlich kein Mensch in der Nähe, den man hätte fragen können, denn heute ist Samstag, da arbeiten nur die Wenigsten. Hauptsache ich bin wieder im Tal gelandet, dann folge ich einfach der Straße bis in die nächste Ortschaft, doch die Ortschaft lässt auf sich warten. Ich laufe also den ganzen Weg, den ich mich vor Stunden hoch gequält hatte erneut oder warum kamen mir manche Kurven so bekannt vor? Laufe ich nun in Richtung Damm oder wieder in Richtung Tempel, gibt es denn hier nicht mal Straßenschilder, die mir Auskunft darüber geben können, auf welcher Straße ich eigentlich laufe? „Namu daishi henjo kongō“, denke ich bei mir, nur nicht fluchen oder die Ruhe verlieren.

Ich quäle mich erneut die Straßen hoch, doch endlich sehe ich ein Haus. Doch leider sind alle ausgeflogen. Als ich klopfe rührt sich nichts im Inneren. Ich wandere weiter, doch ich merke, dass das Wandern ohne das Ziel zu kennen bzw. ohne zu wissen, dass man auf den richtigen Weg ist, ganz schön anstrengend ist. Wenn ich mich früher damit motiviert habe, dass ich das, was ich jetzt am Berg an Höhenmeter erarbeite beim Abstieg genießen kann, weiß ich jetzt nicht einmal weiß, ob ich in die richtige Richtung laufe. Auch dass der Berg meilenweit von der nächsten Stadt entfernt liegt, baut mich nicht gerade auf. Ich fühle mich jetzt wie die nasse Katze von vorhin. Nass, hungrig und allein.

Plötzlich überholt mich ein Auto, aber ich war so im Gedanken versunken, dass ich nicht gleich reagieren kann. Das nächste Auto stoppst du, denke ich so bei mir, und wenn das Bergmonster persönlich am Steuer sitzt. Das schaffst du vor Sonnenuntergang nicht mehr, du bis zu kaputt. Und oh Wunder, mein Bitte wird erhört, obwohl sich meine Bergmonster dann als greiser Japaner herausstellte, der kein Wörtchen Englisch versteht und dessen Japanisch auch mir unverständlich ist und auch das Auto eigentlich zu klein ist, als dass ich mich hätte hineinquetschen können. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Und als der alte Herr, ich hatte ihm berichtet, mich auf dem Rückweg zum Tempel verlaufen zu haben, mich an mein Ziel bring, schießen mir dann doch die Tränen in die Augen. Anstelle mich in der nächsten Ortschaft rauszuschmeißen, hat er mich doch wieder zum Tempel Nr. 20 gefahren!

Aber mal ehrlich - bei den ganzen Kurven, bin ich mir nicht mal sicher, dass wir an der richtigen Seite des Berges entlang gefahren sind. Aber so bedanke ich mich recht herzlich und stehe wieder wie der sprichwörtlich begossene Pudel – Pardon - Kätzchen vor dem Pilgerschalter. Ich klingle und mir wird aufgetan, ich erzähle der netten Frau des Tempeloberhaupts von meiner Odyssee und frage nach Abschluss meiner Erzählung, ob es im Tempel eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Leider nicht, da zurzeit alles renoviert wird. Wenn es dicke kommt, dann extrem! Völlig aufgelöst reicht man mir eine Tasse „Milch- Tee“ und der Tempelvorsteher holt einen Fön, damit ich meine Schuhe trocknen kann. Die Frau ist mit dem Tempelpriester verheiratet. Priestern ist es in Japan nämlich erlaubt zu heiraten, wenn sie nicht gerade das Zölibat geschworen haben. So ein Priester ist ein Ausbildungsberuf wie jeder andere, nach mehrjähriger Ausbildung erhält derjenige, der sich bis zum Ende durchschlägt, sogar eine offizielle Lizenz, die bestätigt, dass er einen Tempel führen darf und mit allen Ritualen vertraut ist.

Auf alle Fälle erklärt mir diese Frau, ich schätze sie so um die 50 (obwohl das bei Japanerin immer recht schwierig ist), dass sie sich in ihrer Jugend auch verlaufen hatte. Sie ist auch auf der Pilgerreise der 88 Tempel gewesen, als sie sich vor Tempel Nr. 13, ich erinnere einen Bergtempel mit steilen Treppen, stundenlang im Wald verlaufen hatte. Sie ist dann auf nette Leute getroffen, die ihr geholfen haben und jetzt möchte sie dies mir angedeihen lassen. Sie fragt mich, ob ich mit ihr und ihrem Sohn einen Onsen (Thermalbad) besuchen möchte. Ein heißes Bad kann nicht schaden, denke ich so bei mir, und wo ein Bad ist, muss doch auch eine Ortschaft sein, wo mit größtem Glück auch ein Hotel zu finden ist. Aber alles der Reihe nach. Wir fahren also mit dem Auto ihres Sohnes zum Onsen. Meine Güte fegt er um die Ecken, das ist wie besagte Achterbahnfahrt. Aber auch der Weg, vom Gefühl fährt er den Weg zurück, den ich mit den anderen Pilgern per Auto absolviert hatte, verläuft hier total verschlungen.

Die Frau erklärt mir, als wir im Onsen eintreffen, dass ich zuerst ein Zimmer beziehen soll, danach werden wir gemeinsam zu Abend essen und uns dann dem heißen Wasser der Thermalquelle hingeben. Mir ist zurzeit alles egal, selbst als sie mir sagt, dass das ein Pilgergeschenk an mich ist, kann ich nicht lange Widerstand leisten und bedanke mich herzlich. Beim Essen plaudere ich mit ihr und ihrem Sohn, er ist der zweitälteste und soll den Tempel mal übernehmen, über die Shikoku Pilgerreise, dass ihr ältester Sohn in den USA als Molekularbiologe arbeitet und wie ich nun mit Hajo zusammenhänge. Nach dem Essen, will ich noch ein Handtuch und frische Wäsche aus meinem Zimmer holen. Der junge Mann gibt mir noch die Telefonnummer von einem „Kult-san“, der viele Sprachen u.a. auch Deutsch sprechen soll und auf dem Koya-san lebt. Da ich weiß, dass die japanischen Bäder je nach Geschlecht getrennt werden, verabschiede ich mich von dem jungen Mann, ihn werde ich heute wohl nicht mehr sehen. Aber mit der Mutter würde ich jetzt gerne zusammen ein Bad nehmen. Ungläubig erklärt sie mir, dass da unten laute nackte Japanerinnen sein werden, die wirklich „splitterfasernackt“ sind. Das ist mir klar, erkläre ich ihr, denn das ist nicht mein erstes Mal in einem japanischen Bad. Als ich dann noch die Begriffe „Ofuro“ (japanisches Bad) und „Sentaku“ (jap. Wäsche wie Waschmaschine) durcheinander bringe, bekommen ihre Augen doch wieder so einen fragenden Blick. Apropos Fragen – ich würde gerne noch wissen, wo ich mich denn hier eigentlich befinde. Aber als ich ihr die japanische Karte hinhalte, findet sie es nicht. Na ja, zur Not kann ich an der Rezeption morgen fragen. Auf ins heiße Ofuro, das habe ich mir heute redlich verdient! Leider trage ich im Bad keine Brille, so dass ich nach den erfolgten Badegängen einer falschen Frau in die Umkleide folge. Ich bin schon fertig, als meine nette Priestergattin schließlich den Umkleideraum betritt und erst da bemerke ich meinen Fehler. Ich bedanke mich nochmals herzlich bei ihr, dabei habe ich schon eine Revanche im Hinterkopf, so ein „Care-Paket“ aus Deutschland zur Weihnachtszeit. Ich verabschiede mich und gehe wieder auf mein Zimmer. In dieser Nacht kann ich wie ein Murmeltier schlafen, da ich mich heute mental wie physisch total verausgabt habe.

Montag, 14. Juni 2010

Freitag, 24.04.2009, Takamatsu City, Okadaya Ryokan

Der 40. Tag in Japan
Die Nacht ist kalt hier oben in den Bergen, aber zum Glück hatte ich mich entschlossen, im Okadaya Ryokan zu übernachten. So habe ich mich in meinen dicken Futon gekuschelt und die Nacht doch recht gut überstanden. Als Frühstück muss mein restlicher Proviant herhalten, aber um 6.00 Uhr bin ich schon wieder abmarschbereit. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Ryokan so gemütlich ist, sogar Sitzklos haben sie hier oben installiert. Was von außen wirkt wie ein kleines Lagerhäuschen, hat sie doch als gemütliche Unterkunft entpuppt. Als ich das Haus verlasse, bekomme ich von meinem Wirt noch eine Dose Tee als Osettai (Pilgergeschenk) überreicht. Ich laufe wieder zu dem Platz mit der Steinlaterne, den ich gestern fotografiert hatte, aber das Licht ist anders und die Atmosphäre ist dahin. Nach einem kurzen Blick ins Kartenbuch muss ich feststellen, dass ich auf diesem Weg wieder zurück zur Bergbahnstation im Tal komme, ich laufe also in Gegenrichtung zur Bergstation. Mir ist kalt und da es hier an der Station Automaten mit Fertigsuppen gibt, labe ich mich erstmal an einer warmen Möhrchensuppe. Hinter der Station Yakuri-sanjo verläuft die Straße 115 wieder ins Tal. Ich folge der Autostraße, die ich ganz für mich habe, da so früh kein Auto den Berg hochfährt. Von hier kann ich sogar einige Gebäude bei Tempel Nr. 84 sehen, ich glaube es ist die Hotel Ruine, an der ich am Vortag vorbeigekommen bin. Man kann jetzt auch sehr gut Erkennen, das der Komplex auf einem Plateau liegt, anders als auf dem Gokensan Berg, wo der Tempel kurz unter der Bergspitze liegt. Ich wandere so vor mich hin, da schreckt mich ein Fasan auf. Jetzt bin ich ganz ohne Koffein hellwach, was so ein bisschen Adrenalin am Morgen doch ausmacht. Bis ich das Tal wieder erreicht habe, oder sollte ich es besser Hafen oder Küstenlinie nennen, läuft mir noch ein Golden Retriever vor die Füße, merkwürdig – als Gebrauchshund wäre er wohl angekettet gewesen, aber als Schoßhund würde man auf ihn mehr achtgeben. Da hat sich der Schlingel wohl von zuhause davongestohlen.

Ich passieren einen kleinen See mit WC-Häuschen, hier gibt es auch einen hübschen Blauregen unter dem Bänke stehen, die zum Verweilen einladen, aber für eine Pause ist es noch zu früh. Ich sehe Steinfiguren inform von Eulen und einem Buddha mit Türmchen, passiere einen neu aussehenden Schrein und bin schließlich wieder am Meer. Hier gibt es auch wieder die Schutzanlagen, die verhindern sollen, dass bei ungünstigen Wetterverhältnissen das Meerwasser in die kleinen Flüsse gedrückt wird und so Überschwemmungen ausgelöst werden. Ich trage noch eine Pilgerhütte in mein Kartenmaterial ein, an der ich hier vorbeikomme. Ich jetzt wandere zwischen Meer und Bahnlinie, mein Weg sollte mich direkt in den Shidoji Tempel (Nr. 86) führen. Ein Kombini (24-h-Laden) der „Daily Yamazaki“ Kette, in dem ich meinen Proviant aufstocken wollte, gibt es nicht mehr. Verwundert wandere ich an einem alten Gebäude vorbei, dass wie eine alte Schule aussieht. Aber warum es mit Stacheldraht gesichert ist und so vor sich hin gammelt, anstatt entweder abgerissen oder renoviert zu werden, weiß ich nicht. Genauso eigenartig ist ein Gebäude mit der deutschen Aufschrift „Autobahn“. Es könnte ein pleitegegangenes Autohaus oder ein Ersatzteilverkauf gewesen sein. Das hohe Gebäude steht auf alle Fälle leer. Endlich sehe ich ein blaues Verkehrsschild mit der Aufschrift „Shidoji Temple“ und kurz darauf stehe ich vor zwei Steinstelen, hinter denen sich der Tempelbezirk erstreckt.

Exkurs Tempel Nr. 86 Shidoji (志度寺)
“Der Tempel des Wunscherfüllung” bezieht sich auf eine Legende die „Ama no Tamatori“ („Taucherin beschafft die Juwelen wieder“) heißt, die sich wie folgt zugetragen haben soll: Als die Tochter von Fujiwara Kamatari (614–669; Gründer der Fujiwara Klans), einem einflussreichen Politiker und Freund des Kaisers Tenji (626-672; 38. Tennō), nach China reiste, um die Konkubine des Tang Kaisers Taitsung zu werden, gab ihr der Vater drei Kleinodien mit. Als der Vater jedoch starb, schickte sie die Juwelen mit einem Schiff zurück, da ihr Bruder Fubito sie für den Bau des Kōfukuji Tempels (669; als Yamashina-dera) in Nara brauchte. Der Legende nach soll das Schiff jedoch in der Shido Bucht auf Grund gelaufen und die Kleinodien vom Drachen König, der über das Meer herrscht, gestohlen worden sein. Nun machte sich Fubito persönlich daran, sie wiederzubeschaffen. Er heiratete eine einheimische Taucherin (jap. Berufsbezeichnung „ama“), die ihm einen Sohn gebar. Nachdem Fubito ihr das Versprechen gegeben hatte, ihren Sohn als Erben einzusetzen, beschaffte sie die Juwelen vom Grunde des Meeres. Dadurch zog sie den Zorn des Drachen Königs auf sich und mit einer List, die sie ihr Leben kostete, brachte sie die Kleinodien wieder an die Oberfläche. Sie schmücken heute die Stirn der Shakuson Statue im Kōfukuji (zentrale Halle Chūkondō) in Nara. So wurde ihr Sohn Fusasaki Stammvater des nördlichen Zweigs der Fujiwara Familie.

Eine andere Legende besagt, dass der Tempel 626 von einer Nonne namens Han Sonoko gegründet wurde, die die Yakushi Halle erbaute und aus einem Stück Holz, welches sie in der Shido Bucht gefunden hat, die Statue der elfgesichtigen Kannon geschnitzt hat. Eigentlich datieren die Ursprünge des Tempels viel früher, denn der Honzon (Haupthalle) stammt aus dem 6. Jahrhundert, zur Zeit der Kaiserin Suiko (554-628; 33. Tennō). 681 soll oben erwähnter Fujiwara Fuhito seiner verstorbenen Frau ein Grabmal errichtet haben, man nannte diese Örtlichkeit von nun an „heilige Stätte von Shido“. 693 habe sein Sohn, Fusasaki, Gebäude für den Gottesdienst für seine Mutter errichtet lassen und den Tempel „Shidoji“ genannt haben. Ob der Mönch Gyōgi (668-749) dabei involviert war oder nicht bleibt offen. Zwischen 810 und 824 kam Kōbō Daishi hierher, von ihm soll auch der Honzon (Hauptgottheit), die Juuichimen (elfgesichtige) Kannon stammen. Zusammen mit den Figuren von Fudō und Bishamonten zählen sie heute zum „Nationalen Schatz“. 1670 wird der jetzige Tempel mit Geld von Matsudaira Yorishige, Herrscher von Takamatsu, erbaut. Sehenswert ist der Landschaftsgarten aus der Muromachi-Periode (1333 –1568), der von Hosokawa Katsumoto (1430-1473), einem hohen Staatsbeamten und Erbauer des berühmtesten Zen-Gartens in Japan (Ryōan-ji in Kyoto), gestaltet wurde. Das Wächtertor (niōmon), die Haupthalle (hondō) und die fünfstöckige Pagode, die aus dem Jahre 1973 stammt, sind ebenfalls sehenswert..

Auf mich wirkt das Gelände etwas verwahrlost, vor allem die vielen kleinen Nebengebäude. Auch der so hoch gepriesene Landschaftsgarten macht auf mich den Eindruck, als sei es nur ein eingetrockneter und überwucherter Teich. Aber ich habe vielleicht auch nicht den Blick für solche japanischen Kunstfertigkeiten geschärft. Immer dann, wenn etwas sehr einfach, schlicht und wie dahingeworfen aussieht, kann das hohe Kunst sein. Denn um etwas einfach aussehen zu lassen, bedarf es jahrelangen Studiums und viel Erfahrung. Ich denke dabei z.B. an einen Kreis, den man als Übung auf einem Stück Papier zieht. Oberflächlich betrachtet ist es nur ein einfacher Kreis, bei dem sich noch dazu einzelne Pinselhaare selbständig gemacht haben. Aber schon mal versucht, so einen perfekt runden Kreis mit einem großen japanischen Pinsel zu ziehen? Sieht einfach aus, ist in der Durchführung aber mit viel Übung und Erfahrung verbunden – eben Kunst.

Die Dachreiter hier, sie gehen wahrscheinlich auf die Legende der Taucherin zurück, finde ich besonders interessant, da sie je nach Auslegung sowohl kleine Meerjungfrauen, als auch japanische Engel (Absaras) darstellen könnten. Ich verlasse den Tempel und halte nach einer Möglichkeit Ausschau, ein kräftiges Frühstück einzulegen. Als ich ein Schild für ein McDoof sehen, ziehe ich Geschmacksfäden – für so einen schönen Cheeseburger ist es ja eigentlich noch zu früh, aber hier in Japan sollte man alles rund um die Uhr kaufen können. Aber ich werde enttäuscht, da es gerade mal 10.00 Uhr ist, wird hier im „Drive-in“ nur Frühstück serviert – also keine Burger. Zum Glück gibt es nebenan einen Sunkus Kombini (24-h-Shop), in dem ich mir eine japanische Pizza (okonomiaki) und eine Portion Nudeln reinziehen kann. Meinen Proviant stocke ich ebenfalls auf.

Nach einer Flachlandetappe geht es wieder in die Berge, vielleicht erreiche ich mein Ziel, Tempel Nr. 88, heute noch. Ein Verkehrsschild verkündet mir, dass es bis Tempel Nr. 87 (Nahaoji) noch 4 km, bis zum Kikaku Park 6 km und bis zum Zieltempel Ōkuboji (Nr. 88) noch 20 km zu absolvieren sind. Während ich den Kikaku Park links liegen lassen werde, hier könnte ich noch den Usa Hachiman Schrein besuchen, werde ich auf alle Fälle im „Maeyama Ohenro Kouryu Salon“, eine Art Pilgermuseum, einkehren. Zurzeit laufen zwei Pilger vor mir mit roten Rucksäcken und zwei andere folgen mir. Das sind die ersten Wanderpilger, die ich seit langer Zeit wieder sehe. Dass man wie früher als Wanderpilgerkollegen von Zeit zu Zeit in den Tempeln wieder trifft, ist wohl fast ausgeschlossen, da mich die Nebentempel (Bangai) so viel Zeit gekostet haben, so dass ich meine Bekannten nicht mehr einholen konnte. Aber manchmal will man gar nicht auf bestimmte Dinge treffen. So z.B. auf das Tofu-Auto, dass mich seit geraumer Zeit verfolgt und mit seiner Lautsprecheranlage mit der Ansage „Tofu Watanabe wa oshii desu – ikaga desu“ geradezu in den Wahnsinn treibt. Es bedeutet so viel wie „Watanabe Tofu ist so lecker – wie wäre es? Da der Verkaufswagen hier im Schritttempo durch das Wohngebiet fährt, wird der Abstand zwischen mir und der Nervensäge nicht größter. Man merkt zunehmens, dass man dem Ziel der Pilgerreise näher kommt. Überall sind Schilder aufgestellt, auf denen Pilger abgebildet sind. Aber schließlich stehe ich dann doch vor dem Nagaoji Tempel und werde prompt von einer Japanerin auf Englisch angesprochen. Sie fragt mich nach meiner Pilgerreise, die ich jetzt schon fast geschafft habe. Sie selber ist ein Urlaubspilger, d.h. sie läuft die Pilgerreise etappenweise während ihres Urlaubs. Dieses Jahr wird sie die Pilgertour der 88 Tempel vollenden - nach fünf Jahren. Im Nagaoji ist sie nicht nur zum Beten, sondern will zusammen mit ihren Begleiterinnen zu Mittag essen. Das war mich allerdings neu, dass man nicht nur Shokubō, also Übernachtung mit Frühstück und Abendessen, in einem Tempel angeboten wird, sondern auch zusätzlich Mittagessen.

Exkurs Tempel Nr. 87 Nagaoji (長尾寺)
„Der Tempel des langen Schwanzes“ wurde 738 von Gyōgi (668-749) auf Anordnung des Kaisers Shōmu (701-756; 45. Tenno) gegründet, er hat auch die Statue der Shō Kannon aus Weidenholz als Honzon (Hauptgottheit) geschnitzt. Bevor Kōbō Daishi nach China reiste, legte er hier ein Versprechen ab, bei dem er an den ersten sieben Tagen des Januars das Goma Feuerritual durchführte und dabei Talismane an die beteiligte Bevölkerung verteilte. Dies war der Ursprung für das „Daikaiyōfuka Ubai“ („Ritus, um das Glück zu jagen“), eine Art Rennen, das alljährlich stattfindet und bei dem große Mochis (Reiskuchen aus gestampftem Reis) eine Rolle spielen. Um das Jahr 825 wurden die meisten Gebäude erneuert. Im 16. Jahrhundert brannte der Tempel wie so viele andere auch nieder, wurde aber mit Hilfe von Ikoma Kazumasa (1555-1610), 2. Daimyo (Landesherr) von Takamatsu wiederaufgebaut. Auch 1681 war es der Landesherr von Takamatsu, diesmal Matsudaira Yorishige, der Geld und Land für den Tempel stiftete. Während dieser Zeit konvertierte der Tempel auch vom Shingon zum Tendai Buddhismus. Bemerkenswert ist das Grab von Shizuka Gozen, Geliebte von Minamoto Yoshitsune, die sich nach dem Tod des Geliebten (1189) hier im Tempel als Nonne ordinieren ließ. Noch heute geht der Name Shizuka Yakushi, eine Einsiedelei wo sie damals gelebt hat, und der Name Tsuzumi-ga-Fuchi Teich, auf ihre Anwesenheit zurück. Es gibt ein Niōmon (Wächtertor) und ein „Onari“ genanntes Tor.

Mit „langem Schwanz“ könnte ein langer Ast einer Pinie gemeint sein, der hier quer über den Weg zur Haupthalle wächst. Das Grab der edlen Dame habe ich leider nicht gesehen, aber so hübsch war der Tempel dann doch nicht. Ich finde es immer etwas pietätlos, wenn Autos hinter dem Eingangstor auf dem Tempelgelände parken, aber vielleicht ist das die Anpassung des Tempels, der hier auch Mittagessen anbietet. Während der Eingang zum „Tempelrestaurant“ doch hübsch gestaltet ist, mit einem kleinen Garten mit Brunnen, man hat sogar einen roten Schirm aufgestellt, wirkt das Uhrenhäuschen neben der Steinstatue irgendwie deplaziert. Das Kanji (Symbolzeichen) für „Zeit“ besteht zwar aus den Zeichen für „Sonne“ und „Tempel“, doch sollte man bei einem Tempelbesuch, wo man Ruhe und Einkehr sucht, nicht unbedingt an die galoppierende Zeit erinnert werden.

Ich verlasse den Tempel wieder, um mich auf den Weg zum Pilgermuseum zu machen. Ich passiere Autos, auf die die Besitzer ihre Futons (japanische Betten) ausgebreitet haben. Was ich früher für eine Schutzmaßnahme von autobesessenen Japanern gehalten habe, stelle sich dann als Desinfektionsmöglichkeit für die Futonbetten heraus. Japaner sind nämlich der Meinung, dass man Futons nicht nur regelmäßig lüften und bewegen sollte, nein, die direkte Sonneneinstrahlung, vor allem das UV Licht, soll auch im Futon befindliche Krankheitserreger unschädlich machen! Deshalb sieht man überall an den Häusern Futons hängen. Dabei muss ich noch erwähnen, dass so ein Balkon in Japan eine ganz andere Aufgabe hat als bei uns. Während wir den Balkon als Gartenersatz zum Entspannen und allenfalls zum Rauchen nutzen. Stellt er in Japan eine Art Abstellraum und Wäschekammer dar. Hier wird Überflüssiges, was man nicht in die ohnehin viel zu kleinen Wohnungen unterbringen kann gelagert. Zusätzlich sind hier Halterungen angebracht, an denen die großen Trockenstangen hängen, auf die dann Wäsche oder besagte Futons befestigt sind. Der Gebrauch dieser ausziehbaren an die 3 Meter messenden Trockenstanden geht auf die Verwendung von Kimonos zurück. Früher hat man diese Stangen einfach von Ärmel zu Ärmel gezogen, um die verhältnismäßig großen Stoffmengen besser trockenen zu können.

Aber zurück zum Trail, der hier am Kabe Fluss entlang bis zum Maeyama Damm führt. Hier am Staudamm liegt auch das Pilgermuseum, dem ich einen Besuch abstatte. Im Museum werde ich auch gleich herzlich begrüßt. Ein älterer Herr, der etwas Englisch spricht, quetscht mich bei einem Schluck Tee aus, da er mir eine Pilgerurkunde ausstellen möchte. Wir tauschen sogar noch Visitenkarten aus, das sollte ihm erleichtern, meinen Namen zu schreiben. Ich bekomme auch noch einen Pin, so einen kleine Anstecknadel mit Henro Logo, geschenkt. Als Osettai (Pilgergeschenk) überreicht er mir eine Packung Kekse und ich muss schmunzeln, da ich diese Art von Butterkeksen aus Deutschland kenne. Aber als er mir ein weißes Band mit getrocknetem Obst übergibt, bin ich mir dann doch nicht sicher, um was es sich handelt. Aber ich bedanke mich herzlich und starte meinen Rundgang durchs Museum. Hier ist alles Mögliche zusammengetragen worden, was die Pilgerreise betrifft: Alte Pilgerkleidung, Pilgerbücher, Zeitungsartikel und sonstige Berichte. Auf einer Wand sind die 88 Tempel mit Bild und Karte aufgelistet, hier kann man sogar seine Namenszettel (osamefuda), sollte man es bei einem Tempel vergessen haben, nachträglich abgeben. Als ich das Museum verlassen will, spricht mich der alte Herr abermals an und zeigt mir auf einer Karte, die er mir mitgibt, dass der Weg zu Tempel Nr. 88 über den Kurusu Schrein zurzeit nicht passierbar ist. Da ich ohnehin die „Alte Pilgerroute“ einschlagen wollte, die mich um die Berge Nyotai und Yahazu herumführt, muss ich meine Pläne also nicht umstoßen. Ich will nämlich noch den Bangai Tempel Nr. 20 besuchen und der liegt leider in Gegenrichtung zum Ōkubōji (Nr. 88). Ich plane deshalb in einem Ryokan mit Namen Takeyashiki Unterkunft zu suchen, um mein Gepäck dort zu deponieren, da der Nebentempel (Bangai) Besuch mich mindestens einen Tag kosten wird.

Es hat mittlerweile angefangen zu regnen und so gebe ich den Plan auf, den Tempel Nr. 88 schon heute zu besuchen. Ich versuche also im Takegashiki Ryokan einzuchecken, finde jedoch nicht gleich den Eingang und lande in einem Shop. Leider spricht die Verkäuferin nur wenig Englisch, so dass meine Frage nach dem Preis für zwei Übernachtungen, obwohl ich sie nochmals in Japanisch und nach vielfachem Nachfragen, falsch beantwortet wird. Das ist so der Horror eines jeden Japanreisenden. Man kehrt in einen schlicht wirkenden Ryokan ein, denkt sich nichts Böses dabei und muss dann so richtig teuer bezahlen. Als Ausländer kann man leider nur schlecht zwischen echter Schlichtheit und künstlicher oder kunstvoller Schlichtheit unterscheiden. Zwar gibt mir die gute Frau ein kleines Zimmer, ich soll jetzt doch 10.500 Yen bezahlen, doch leider war hier wohl der Wunsch Vater des Gedankens, denn je mehr ich mich hier umsehe, desto unglaubwürdiger finde ich es, das ich für meine kleine Besenkammer nur so wenig bezahlen soll. Oder war das jetzt eine Sonderpausschale für den unkundigen Ausländer?. Als ich bezahlen will, wiegelt die Dame ab, erst beim Auschecken. Aber als ich das Abendessen zu mir nehme, kullern mir vor lauter Wut die Tränen ins Essen. Das Essen ist so fein und aufwendig hergerichtet, dass kann nur bedeuten, dass es 10.500Yen immerhin fast 80 Euro, für eine Übernachten sind. Ich weiß zwar, dass Ryokans vornehmlich ihr Essen verkaufen und dass die Übernachtungsmöglichkeit eigentlich zweitrangig ist, wohingegen ein Businesshotel vor allem die Übernachtung und weniger das Essen verkauft, aber die Einschätzung von Preisen fällt einem dann doch recht schwer. Zumal man als Ausländer in nicht so nobeln Ryokans meist die besten Zimmer bekommt, die dann aber wiederum schon die teuersten sind. Ich will ja nicht als geizig gelten und natürlich kann man sich auch zum Abschluss dieser Tortour was Gutes gönnen, aber ich will dann das doch selber entscheiden und mich nicht fühlen, als hätte man mich, wenn auch unwissentlich, aufs Kreuz gelegt. Nachdem ich mich wieder gefasst habe, bestehe ich darauf heute zu zahlen, damit ich morgen sehr früh starten kann. Mein Plan für morgen sieht wie folgt aus: Zum Tempel Nr. 88 wandern, um den Pilgerbucheintrag zu holen und Gepäck zu deponieren, sich dann auf den Weg zum Bangai Tempel Nr. 20 machen und von dort wieder zurück. Aber es soll alles anders kommen, weil ich bis jetzt einfach zu gut durchgekommen bin!

Donnerstag, 23.04.2009, Takamatsu City, Momoya Ryokan

Der 39. Tag in Japan
Gerädert erwache ich hier direkt am Bahnhof – vor ständigem Schrankengebimmel, Lichterflackern und Gewackel habe ich kaum ein Auge zugekriegt. Es gibt hier keine Vorhänge und jedes Mal, wenn ich mich umgedreht habe, hat der hölzerne Untergrund gequietscht. Mein Frühstück besteht heute aus den restlichen Bananen und einem kleinen Kuchen vom Vortag. Als ich mich gegen 6.00 Uhr zum Abmarsch in Richtung Tempel Nr. 83 aufmache, ziehe ich mir noch eine „Frühstückscola“ am Automaten vor dem Ryokan. Der Trail führt im Zickzack durch ein Wohngebiet. Das ist ganz schön kompliziert, den Trail nicht zu verpassen, da man genau an der richtigen Kreuzung abbiegen muss.

Ich sehe hier viele kleinere Felder, passiere eine Bonsai Baumschule und versuche, an einem grauen (ISDN) Telefon nach Deutschland zu telefonieren. Hier im Land der Handys und UMTS, wo jeder ohne „Cell phone“ als Einsiedler gilt, ist es ein Glücksfall, noch ein öffentliches Telefon zu finden. Es gibt sie in mehreren Farbvarianten, von denen die orangen nur für lokale Gespräche und die grünen auch bei überregionalen und Auslandsgesprächen funktionieren. Ein Sonderfall sind die grauen Telefone, die über eine ISDN Leitung verfügen und Anschlussstellen für Computer aufweisen. Das Telefonieren mit so einer „International & Domestic Card“, ich hatte mir die „KDDI Super World Card“ gekauft, ist dann noch einmal eine Wissenschaft für sich.Während ich anfangs die Telefone für defekt hielt, da es kein Freizeichen gab und auch kein Display etwas anzeigte, wenn man den Hörer abnahm, kam mir später die Idee, dass nun nicht alle Telefone defekt sein könnten. Und - oh Wunder - nachdem man eine Münze eingeworfen hatte, begann der Apparat seine Arbeit aufzunehmen. Will man nun mit so einer Telefonkarte, die keine Karte im herkömmlichen Sinne ist, telefonieren, muss man erstmal den ganzen Schwanz an Nummern eingeben, der auf der Karte bzw. Zettel vermerkt ist. Aber man darf auch nicht zu schnell tippen, da man die Computerstimme am anderen Ende abwarten muss. Wenn man dann noch die richtige Ländervorwahl (49) hat und diese ohne „0“ und auch die deutsche Vorwahlnummer wählt, kann man guter Hoffnung sein, dass nach Eintippen der Telefonnummer sich am anderen Ende jemand meldet. Es sei denn, man hat sich verrechnet und ruft mitten in der Nacht zu Hause an. Bei ca. 8 Stunden Zeitverschiebung erleichtert das richtige Timing die Verbindung zur gewünschten Zielperson. Ich hätte zwar auch ein Handy bzw. eine SIM-Karte für ein Handy mieten können, der Verkauf an Ausländer im Zuge des Anti-Terrorismusgesetztes verboten wurde, aber man konnte mir nicht garantieren, dass die Geräte auch in den Bergen und auf der ländlichen Insel Shikoku funktionieren würden. So hatte ich darauf verzichtet, obwohl man im Flughafengebäude von Kansai durchaus Shops für solche Zwecke gibt.

Aber wieder zurück auf den Trail, der mich meinem ersten Ziel für heute, Tempel Nr. 83, näherbringen soll. Drei Pilger mit diesen kleinen 35 l Rucksäcken überholen mich, wir grüßen und ziehen ansonsten aber unserer Wege. Während sie dem Zickzack Trail unter dem Takamatsu Expressway (Autobahn) folgen, laufe ich hier am Koto Fluss auf einem als Fahrradweg ausgezeichneten Pfad entlang. Das Flussbett ist hier weitläufig. Da der Fluss nicht so viel Wasser führt, sind die Uferbereiche saftig grün. Fischreiher und anderes Getier tummeln sich hier. Von Zeit zu Zeit kommt auch mal ein Radfahrer vorbei. Da die japanischen Fahrräder immer extrem kurze Sättel haben, so dass der Abstand zu den Pedalen sehr klein bleibt, erinnern mich die Fahrer immer an den Spruch „Affe auf Schleifstein“. Die Knie werden bei Treten immer sehr hoch vor den Körper gezogen, es sieht unbequem mehr wie BMX-Fahren aus als wie eine entspannte Fahrradtour. Aber auf alle Fälle kommen diese „Schleifstein Affen“ schneller voran als ich. Jetzt muss ich aber aufpassen, dass ich die richtige Brücke erwische, damit ich den Weg zum Tempel finde. Wenn ich hier die Brücke überquere, müsste ich demnächst auf einen „Koban“ genannte Polizeibox treffen. Das sind kleine Häuschen bzw. Container, in der ein ortskundiger Polizist Dienst tut. Sollte man den Weg verlieren oder eine Adresse nicht finden, hier in Japan werden die Straßen nicht alle benannt, kann man hier nachfragen. Aber große, blaue Verkehrsschilder zeigen mir den Weg zum Ichinomiyaji Tempel (Nr. 83) und geben mir weiter Auskunft, dass Tempel Nr. 84 (Yashimiaji) in 18 km Entfernung liegt. In der Nähe werde ich dann wohl auch meine Unterkunft suchen müssen.

Exkurs Tempel Nr. 83 Ichinomiyaji (一宮寺)
„Der erste Schrein Tempel“ wurde 704 von dem Mönchsgelehrter und Vertreter der buddhistischen Hossō-shū Schule Gien (644-728) noch unter dem Namen „Dahō-in“ gegründet. Erst 716 bekam er den heutigen Namen, der sich auf den Tamura Schrein in seinem Innenhof bezieht. Zu jener Zeit bekam auf kaiserlichen Befehl jede Provinz ein Provinzschrein („Ichinomyia“). Aber laut Tempelführer war es Gyōgi (668-749), der den Tempel damals umbenannt hat. Zwischen 806 und 810 wurde der Tempel-Schrein von Kōbō Daishi wiederaufgebaut, er schnitze als Honzon (Hauptgottheit) eine stehende Sho Kannon Figur und brachte sie im heutigen Daishidō (Daishi Halle) unter. Wie so viele andere Tempel auf Shikoku brannte auch der Ichinomiyaji im 16. Jahrhundert nieder. 1679 wurden Tempel und Schrein auf Anordnung des Herrschers von Takamatsu, Yorishige Matsudaira, offiziell voneinander getrennt und 1701 als Sanuki Ichinomiya („Schrein Tempel von Sanuki) wiederaufgebaut. Bemerkenswert sind die vielen kleinen Shinto-Tōri (rote Tore), durch die der Pilger auf Knien kriechen muss, damit er sich vom schlechten Karma und von bösen Mächten befreien kann. „Ichinomiya Goryō“ werden die drei Steintürme genannt, die aus dem 13. Jahrhundert (vermutlich 1247) stammen und den drei Göttern des Tamura Schreins, der legendäre Kaiser Kōrei (342 – 215 v. Chr.; 7. Tennō), Momosohime und Isosaseri-no-Mikoto, gewidmet sind. Während ich ersteren noch finden kann, ist über die beiden anderen nichts im Internet aufzutreiben. Ich schätze, dass es sich vielleicht um eine Prinzessin handelt, da das Wort „hime“ darauf hindeutet. Aber da es viele Homophone (gleich klingende Worte) im Japanischen gibt, bin ich mir nicht sicher. Auch „Mikoto“ ist lediglich eine Ehrenbezeichnung („Erlauchtheit“) für Shintogötter (kami), so wie das „Nyorai“ der buddhistische Ehrentitel („Erleuchteter“) für Buddhas ist. Aber ich möchte noch „Jigoku no kama“, den „Kessel der Hölle“ erwähnen, der, wenn man als sündiger Pilger seinen Kopf in dieses niedrigen „Steinschrank“ steckt, sich seine Tore schließen und einen den Kopf eingeklemmt wird, wenn nicht Schlimmeres.

Der Tempeleingang des Ichinomiyaji ist mit einem einfachen Sanmon bestückt, obwohl der Begriff „Bergtor“ hier nicht ganz passt, da der Tempelbezirk eben nicht an oder auf einem Berg liegt. Ich suche erstmal das hübsche Toilettenhäuschen auf, anstelle eines Waschbeckens steht hier ein Steinbecken mit Schöpfkelle. Nachdem ich meine Sutren rezitiert habe durchstreife ich das Gelände. Während ich die niedrigen „Krabbel-Tōri“ nicht finden kann, werfe ich einen Blick auf den „Höllenkessel“. Aber auch die anderen Details, wie die Statuen, eine geschlossene Lotosblüte, die lustigen Dachreiter in Form eines Ochsen und seines Bauer, sowie den Altarraum mit seinen prächtigen Laternen habe es mir angetan. Ich entdecke eine hübsche Ecke mit Laterne und Moos überwachsenen Stein, wenn da nicht die hässliche Wasserrinne vom Dach verlaufen würde, wäre es richtig effektvoll. Jetzt muss ich aber weiter und als ich dem Trail weiter folge, stelle ich fest, dass ich mal wieder den Tempel durch den Hintereingang betreten habe, denn hier steht das prächtige Eingangstor, das sowohl Niō (Wächterfiguren) als auch riesige Strohsandalen (waraji) aufweist. Ich folge der Straße Nr. 172. Auf dem Weg zu Tempel Nr. 84 kehre ich noch bei einem Lawson Kombini (24-h-Shop) ein. Ich kaufe mir ein Reiseset zum Zähneputzen, da mir eine Zahncreme langsam ausgeht und ich keine große Tube mitschleppen will. Auch erstehe ich noch etwas zu Essen, da ich im Ritsurin Park, einem berühmten Landschaftsgarten, eine Pause machen möchte. Da ich der Meinung bin, gut in der Zeit zu liegen, gönne ich mir heute einen Abstecher. Vor dem Park hole ich nochmals Geld von der Post. Wenn ich bedenke, wie viel Probleme wir anfangs mit der Geldbeschaffung hatten, bin ich heilfroh, dass es hier so viele Postämter gibt. Vor dem Park warten Taxis, sie sind meist pechschwarz und oft sieht man die Fahrer mit Staubwedeln die Oberfläche säubern. Japanische Taxifahrer sind da sehr gewissenhaft. Ich selber könnte nicht sagen, ob da noch ein Körnchen Staub drauf gelegen hat oder nicht, aber das ist hier so Prinzip: Alles muss perfekt sein!

Als ich den Ritsurin Park erreiche, weiß ich erstmal nicht, wo es reingeht bzw. das weiß ich schon, nur wo kann ich eine Eintrittskarte kaufen. Fälschlicher Weise betrete ich das Verwaltungsgebäude, in dem ich mit fragenden Blicken begrüßt und dann auf ein Tickethäuschen verwiesen werde. Man hat hier die Wahl, sein Ticket bei einer Person zu kaufen oder sie aus dem Automaten zu ziehen. Service wird in Japan noch „groß geschrieben“ und falls eine Warteschlange am Schalter zu lang sein sollte, kann man sich auch am Automaten selbst bedienen. Auf in den Ritsurin Park, der hier vor mehr als 300 Jahren angelegt worden und in ganz Japan berühmt ist! Einem Schild ist zu entnehmen, dass zurzeit besonders die Kirschen, Wisterien (Blauregen) und Azaleen, sowie ein Strauch der hier „Dogwood“ (Hundestrauch) genannt wird, blühen. Letztere gehört in die Familie der Hartriegelgewächse und wird in Deutschland auch „Kornelkirsche“ genannt. Es ist ein Strauch dessen Blüten aus vier weißen Blütenblättern besteht, in dessen Mitte ein grüner „Knubbel“ sich später zur essbaren Frucht entwickelt. Aber ich werde beim Durchwandern des Parks, leider kann ich nur einen kleinen Teil besuchen, von einer Horde Katzen überrascht. Hier mache ich dann noch eine Pause mit cremegefüllten Brötchen, bei der ich die jungen Katzen beobachten kann, die hier mit den Koi Karpfen spielen oder bilden die sich etwa ein, sie könnten die Fische erbeuten? Der Park ist herrlich!

Exkurs Riturin Park (von einem Schild im Park)
„Es wird vermutet, das dieser Park auf den Garten zurück geht, der nahe Shōfuda in der Genki und Tansho Ära (1572-1593) vom lokalen Herrscher Sato erbaut worden ist. Um das Jahr 1625 wurde vom Herrscher von Sanuki, Ikoma Takatoshi, der Bau eines Gartens am Südteich mit dem picturesken Berg Shiu im Hintergrund, initiiert. Dies wurde auf Matsudaira Yorishige, älterer Bruder von Mito Mitsukuni, Herrscher über Takamatsu im Jahre 1642 übertragen. Nach 100 Jahren der Erweitung und Verbesserung durch die folgenden Herrscher, wurde der Park unter der Regentschaft des 5. Herrschers Yoritaka im Jahr 1745 vollendet. Bis zur Meiji Restauration, 11 Generationen lang, wurde der Ritsurin Park als zweiter Wohnsitz der Matsudaira Familie genutzt. Der Park besteht aus zwei Teilen – dem Südgarten und dem Nordgarten, mit insgesamt 6 Teichen und 13 Felsen. Der Nordgarten, den man früher für die Entenjagd nutzte, wurde im frühen 20. Jahrhundert in den modernen Garten umgewandelt, den man heute hier besichtigen kann.“

Ein weiters Schild gibt über eine Gruppe von Pinien (Kiefern) Auskunft, die anlässlich eines Besuches von Mitgliedern der japanischen und britischen Königsfamilie eigenhändige gepflanzt worden sind. Man zählt für das Jahr 1914 Prinz Chichibu, Prinz Takamatsu und den damaligen Kronprinzen und späteren Kaiser von Japan Hirohito (1926–1989) auf, wobei die Pinie des letzteren 2005 einem Blitzeinschlag zum Opfer fiel. 1922 war es der Onkel von Queen Elisabeth II., Prinz von Wales Edward Albert, auch bekannt als Edward VIII, welcher der Liebe wegen auf den Thron verzichtete. Und im Jahre 1923 Prinzessin Nagako, spätere Kaiserin Kojun und Ehefrau Hirohitos, sowie im Jahre 1925 Prinzessin Kitashirakawa.

Der Park mit seinen vielen Brücken, Teichen mit Schildkröten und sogar einem Teehaus ist wundervoll. Alles ist so hübsch grün und großzügig, so dass man den Beton Dschungel der Großstadt vergisst. Nur die Seerosen blühen leider noch nicht in ihrer vollen Pracht.

Jetzt mache ich mich aber wieder auf den Weg. Doch als ich hier zwischen den Hochhäusern der Stadt Takamatsu, was so viel wie „hohe Pinie“ bedeutet, entlang laufe, überholt mich ein Auto und bremst plötzlich kurz hinter mir. Ich warte, dass was passiert, dass jemand aussteigt - aber Fehlanzeige. Schließlich springt dann doch noch eine Frau aus dem Auto und übergibt mir eine Dose Tee und einen schildkrötenförmigen Schlüsselanhänger mit viel Verbeugen und „Ohenro-san“ („Ehrenwerte Frau Pilgerin“). Ich will mich noch bedanken, aber da ist sie schon wieder ins Auto gesprungen. Mein Gott - sind die Japanerinnen schüchtern!

Ich laufe eine ganze Zeit an der Straße Nr. 11 entlang, der Abzweiger zum Yashima Plateau, auf dem der Tempel Nr. 84 liegt, darf ich nicht verpassen. Aber ich habe was ganz anderes im Sinn, da ich im naheliegenden Fluss wilde Schildkröten beobachte. Nach einem kurzen Blick in die Karte stehen meine Pläne fest: Ich will hier in der Nähe des Bahnhofs Kotoden-yashima in die Jugendherberge einchecken, mein Gepäck dort lassen und für den Rest des Tages den Tempel Nr. 84 besuchen. Aber ich habe mal wieder nicht mit den japanischen Geflogenheiten gerechnet, denn als ich mich endlich die steile Straße hoch gequält und den Zugang zur Jugendherberge gefunden habe, ist die verrammelt. Das Gebäude sieht verlassen aus, obwohl ein Schild mir Hoffnung gemacht hatte, das es die gesuchte Jugendherberge ist. In der Nachbarschaft suche ich Leute, die mir Auskunft geben könnten. Zum Glück finde ich einige freiwillige Helfer, die hier wohl den nicht vorhandenen Verkehr regeln. Ein an mir vorbeischlendernder Pilger schenkt mir einen Schoko-Bonbon, aber da Smalltalk schwierige ist, er spricht mal wieder kein Wort Englisch, weiß ich nicht warum er diese Straße hoch wandert, da dort nur die gebührenpflichtige Autostraße hoch läuft bzw. der der Trail zum Tempel auf der anderen Seite entlang geht. Gefrustet mache ich mich wieder auf den Trail und versuche die eingetragenen Unterkunftsmöglichkeiten zu erkunden. Aber Fehlanzeige, hier stehen so viele Häuser bzw. die Nachfrage bei den freiwilligen Helfern hat keine klare Antwort ergeben, wo und ob die anderen Unterkünfte hier zu finden sind. So mache ich mich dann also auf den Weg, den Yashimaji Tempel zu besuchen und das mit vollem Gepäck! Ich schleppe mich hier den mit Steinplatten ausgelegten Weg hoch, muss mich aber an einer roten Cola Bank verpusten. Hier ist es so steil, dass Schilder darauf hinweisen, damit man sich nicht hinfällt. Aber irgendwann stehe ich dann vor dem ersten der Eingangstore, das mit herkömmlichen Niō (Wächterstatuen) bestückt ist. Das zweite Tor hat keine hölzernen Wächter, sondern aus Metall gegossene, die noch dazu in einem schön gestalteten, mich an ein chinesisches Fenster erinnernde, Holzkonstruktion stehen.

Exkurs Tempel Nr. 84 Yashimaji (屋島寺)
„Der Tempel der Dach Insel“ würde die Bedeutung der Kanji wiedergeben, aber vielleicht auch „Tempel auf dem Plateau“, da es hier das Yashima Plateu gibt, auf dem der Tempel gestanden haben könnte, bevor er von Kōbō Daishi Richtung Süden versetzt worden ist. Davor hieß der Tempel Nanmen-zan („Berg, der nach Süden blickt“) und soll 754 von einem chinesischen Mönch namens Chinen-Chen (jap. Ganjin) unter dem Namen Fugendō auf seinem Weg nach Osaka gegründet worden sein. Später hat Keiun Ritsushi hier eine Halle errichtet und wurde erster Oberpriester. 815 bestieg dann Kobō Daishi auf Anordnung des Kaisers Saga (786-842; 52 Tennō), den Berg und versetzte den Tempel nicht nur gen Süden, sondern konvertierte ihn von der Ritsu Schule zu einem Shingon Tempel. Der Legende nach wurde der Daishi von einem alten Mann mit Regenmantel auf dem nebligen Berg herumgeführt. Dieser soll einst ein Tanuki (Maderhund) gewesen sein, der von der Gottheit Kannon in den Menschen Yashima Tasaburō verwandelt worden ist und ihr fortan als Bote gedient haben soll. Daraufhin habe der Daishi die Haupthalle (Hondō) in einer Nacht errichtet und für sie die Statue der elfgesichtigen (juuichimen) und 1000-armige (senju) Kannon geschnitzt haben. Ende des 12. Jahrhundert fand hier in der Nähe eine der letzten Schlachten der „Gempei Kriege“ („Minamoto-Taira-Kriege“), einer Auseinandersetzung der konkurrierenden Minamoto (bzw. Genji) und Taira (bzw. Heike) Klans, statt. Der Konflikt begann im Jahr 1156. Der abgedankte Kaiser Sutoku, uns bereits bekannt, und der regierende Tennō Go-Shirakawa, sein Halbbruder, hatten erhebliche Differenzen, die zu einer militärischen Auseinandersetzung führten. In diesem Konflikt unterstützten die Taira unter Taira Kioyomori den amtierenden Kaiser und gewannen. Die Minamoto standen diesmal noch auf der Verliererseite, ihr Oberhaupt wurde hingerichtet. Nach fünf Jahren Krieg und vielen Schlachten, fand 1185 die entscheidende Seeschlacht bei Danoura statt, aus der die Minamoto erfolgreich hervorgingen. Von Minamoto Yoritomo hatte ich im Zusammenhang mit der Hōgen Rebellion (1156) schon berichtet. Dieser nutzte den Besatzungszustand Japans aus, um seine Kamakura-Regierung und die damit verbundene Zeltregierung (bafuku), eigentlich Beamtenregierung, zu installieren. Das Museum auf dem Tempelgelände ist dieser vorletzten Schlacht gewidmet. Es gibt Relikte, Rüstungen und Bilderrollen, die die Geschichte der beiden rivalisierenden Klans zeigen. Eine Glocke von 1223 erinnert noch heute an den Niedergang der Taira.

Das ist hier schon ein beeindruckender Tempelkomplex: das Museum mit seinem postmodernen Design, die steinernen Tanuki Figuren (Marderhunde) mit dem Schrein und die vielen großen und kleinen Gebäude. Die unzählige Statue und vor allem der große Vorplatz machen so richtig Eindruck auf mich. Aber ich will mich hier nicht lange aufhalten, da ich meine Pläne umstellen muss. Nachdem ich meine Pilgerverpflichtungen erfüllt habe, mache ich mich wieder auf den Weg, diesmal aber an der anderen Seite des Berges entlang zum Gokenzan, auf dem der nächste Tempel auf mich wartet. Hierzu muss ich allerdings wieder ganz nach unten in die Stadt laufen, um dann durch das Hafengebiet wieder zum nächsten Tempelberg hinaufzukraxeln. Ich muss mich von der herrlichen Aussicht, die ich von hier oben habe wieder losreißen, aber auf meinem Weg nach unten treffe ich immer wieder auf interessante Örtlichkeiten. Schilder geben Auskunft welche Helden hier den Tod gefunden haben. Während ich am Anfang auf den Blättern, die auf dem Trail liegen, fast ausrutschte, ich hätte wohl doch nicht diesen steilen Trail wählen dürfen, verläuft der weitere Weg einige Zeit über die vorher erwähnte Autostraße, um dann durch ein Wohngebiet zu führen. Hier treffe ich auf zwei alte Damen, die ihre Einkäufe mit einer Schubkarre den steilen Hang hochschieben. Mit einem von Herzen kommenden „ganbatte“ (Geben sie Ihr Bestes; nur Mut!) versuche ich, den beiden älteren Damen Mut zuzusprechen. Aber so halten sich die beiden Damen auch fit, die werden bestimmt nicht an Bewegungsmangel sterben. Es ist jetzt knapp 16.00 Uhr, ich liege gut in der Zeit, um noch den nächsten Tempel in mein Pilgerbuch aufzunehmen. Aber die Henrozeichen sind hier nicht eindeutig – zum Glück kann ich aus der Ferne eine Seilbahnstation erkennen. Ich vertüddel mich zwar kurz vorher in einem Wohngebiet, kann aber dann doch noch die Seilbahn zum Tempel besteigen. Es ist keine Seilbahn im strengen Sinne, sondern eine Schienenbahn, die an einem Seil den Berg hochgezogen wird. Zusammen mit einigen älteren Damen und Herren stürze ich dann kurz vor 17.00 Uhr aus der Bahn zum Pilgerbüro.

Exkurs Tempel Nr. 85 Yakuriji (八栗寺)
„Der Tempel der acht Kastanien“ liegt auf dem Gokensan, „Fünf Schwerter Berg“, und beide Namen gehen auf Legenden zurück, die Kōbō Daishi betreffen. Bevor Kōbō Daishi 804 nach China reiste, vergrub er hier 8 geröstete (!) Kastanien, die, nachdem er von seiner Reise zurückgekehrt war, zu 8 stattlichen Bäumen ausgewachsen waren.

Als der Daishi 827 hier die Morgensternmeditation vollzog (Gumonjihō), erschienen ihm fünf Schwerter und die Shinto Gottheit Zaō Gongen, die ihn auf die Heiligkeit des Berges hinwies. Die Schwerter vergrub er in einer Höhle und gründete den Tempel. Da der Berg ebenfalls fünf große Felsen auf der Spitze aufwies, war der Name nicht unbegründet. Als Honzon (Hauptgottheit) schnitze er eine Shō Kannon Figur. Der Tempel erblühte, fiel jedoch im 16. Jahrhundert Chōsokabe Truppen zum Opfer und wurde niedergebrannt. Zwischen 1592 und 1596 erneuerte ein Priester namens Muhen den Tempel, 1642 der Herrscher von Takamatsu. 1709 wurde der Tempel von Matsudaira Yoritoyo (1680-1735) an seine heutige Stelle versetzt. In der Shōten Halle von 1676 (auch Kangiten Halle) wird der elefantenköpfigen Hindugottheit Ganesha gehuldigt, dessen Statue von Kōbō Daishi stammen soll. Auf alle Fälle wird die Statue nur alle 50 Jahre der Öffentlichkeit präsentiert, sie steht für Erfolg im Job, harmonische Beziehungen und allgemeines Glück – ein Leben lang.

Nach dem Eintrag in mein Pilgerbuch (nokyocho) kann ich getrost meinen Pilgerverpflichtungen nachkommen und mich in Ruhe auf dem Gelände umsehen. Hier Tempel und Schrein auseinander zu halten ist schwierige, schon das Tempeltor erwartet den Pilger mit eigenartig grün bemalten Wächterfiguren. Es gibt hier Statuen in Hülle und Fülle, aus Stein, Metall und Holz. Kannon als Honzon (Hauptgottheit), eine sitzende Statue eines Priesters, vielleicht Muhen? Nach einer kurzen Treppe eine Minipilgertour der 88 Tempel, und die 13 Buddhas des Shingon Buddhismus. In den Fels sind Nischen gearbeitet in denen Buddhas stehen, Gorintos (5-stufige Steintürme) sind ebenfalls in den Fels geritzt. An einer verborgenen Stelle zwischen den Gebäuden entdecke ich eine Sammlung von Getas (hölzerne Sandalen) und Strohsanalen in allen Größen – was es damit wohl auf sich hat? Ich überlege, da die Sonne langsam untergeht, wo ich hier eine Unterkunft finden könnte. Im Tempel geht es nicht, da hier kein Shokubō (Tempelunterkunft) angeboten wird. Ich könnte in der Hütte neben der Bergbahnstation schlafen, aber ich weiß nicht wie kalt es hier auf dem Berg werden kann. Ich passiere noch eine Ladenzeile und stehe vor einer Steinlaterne, als mir die fantastische Aussicht über Takamatsu auffällt. So im Sonnenuntergang wirkt das alles sehr idyllisch. Laut Kartenmaterial gibt es hier zwei Ryokans. Ich nehme also mein Herz in die Hand und schiebe einfach die Tür zum ersten Gebäude auf der linken Hand auf und rufe laut „sumimasen“. Und - oh Wunder - es kommt sogar jemand, den ich nach einem Zimmer fragen kann. Der Wirt lässt mich bei einem Glas Eistee warten, da mein Zimmer noch gesaugt und hergerichtet werden muss. Sie hatten wohl so spät nicht mehr mit Gästen gerechnet. Ich bezahle 3350 Yen für die Übernachtung, ohne Essen, aber glücklicher Weise hatte ich genug Proviant gebunkert, um sowohl Abendessen als auch Frühstück davon zu bestreiten.