Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Dienstag, 29. Juni 2010

Montag, 27.04.2009, Awa City, Business Hotel Acess Awa

Der 43. Tag in Japan
Ich bin zwar schon um 6.00 Uhr auf, aber da es das Frühstück erst ab 7.00 Uhr gibt, packe ich meinen Rucksack und gehe ins Internet, um noch ein paar E-Mails zu schreiben und mir Infos zum Koyasan herauszusuchen. Endlich wieder einmal ein Frühstück so ganz nach meinem Herzen: Minichroissants, Brioschbrötchen und Kaffee satt! Das hatte ich so richtig vermisst! Ein richtig westliches Frühstück, wenn man mal davon absieht, dass das Messer für die Brötchen so ähnlich gestaltet ist wie der Löffel für den Kaffee, mehr Spatel als Messer und ich die Brötchen eher aufreiße als schneide. Die Frühstückseier sind zwar hart, aber kalt, dafür labe ich mich am Kaffee, der hier frisch aus dem Kaffeeautomaten kommt. Ich laufe, nachdem ich im Awa Access ausgecheckt habe, in Richtung Tempel Nr. 1. Es ist ganz schön schwierig, den Weg zu finden, da jetzt die Schilder alle in der falschen Richtung stehen. Während man sich auf dem Hinweg leicht orientieren konnte, hängen die Schilder einem jetzt meist im Rücken und man muss sich in Gegenrichtung orientieren. Die steinernen Wegweiser (hyoseki) sind leichter zu finden, da sie so aufgestellt sind, dass man sie aus beiden Richtungen leicht erkennen kann. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb einem eine Pilgertour in Gegenrichtung (gyaku uchi) wie vier Touren in richtiger Richtung (jun uchi) angerechnet werden. So kann man die Tour nur einmal (in Gegenrichtung) gelaufen sein, aber schon bei der nächsten Tour in der richtigen Richtung grünen Namenszetteln (osamefuda) in den Tempeln verteilen. Es gibt auch so eine Hierachie in der Anzahl absolvierter Pilgerreisen. Wie ich im Pilgermuseum lernen konnte, sind auf den Touren Nr. 1 bis Nr. 4 weiße Namenszettel (osamefuda) zu verwenden, ab 5 Runden sind es grüne, ab 8 Runden rote. Danach folgen ab 24 Runden silberne, von 55 bis 88 goldenen und ab 100 Runden auf der Pilgerreise (ob zu Fuß oder motorisiert) darf der Pilgerwütige dann Stoffkarten verwenden, die mit „Brokat“ bezeichnet werden.

Aber ich will jetzt erstmal meine erste Runde abschließen bzw. noch den fehlenden Besuch in Bangai Tempel Nr. 1 nachholen. Ich passiere ein Schild mit der Aufschrift „Gosho Kindergarten“. Dazu muss ich noch bemerken, dass das deutsche Wort im englischen Sprachraum mit der deutschen Schreibweise übernommen worden ist. Als mir Pilger entgegenkommen, grüße ich sie mit einem herzlichen „Gambatte Kudasai“ (Geben sie Ihr Bestes – nur Mut!). Ich sehe allerdings auch immer wieder Pilger, die mich aus der Entfernung sehen und dann etwas Japanisches zurufen, als ob ich in die falsche Richtung laufen würde. Mit einem japanischen „Owarimashita“ („Ich habe beendet“) kläre ich sie dann auf und versuche dann unbeirrt, meinen Rückweg zu finden. Auf dem Bürgersteig entdecke ich einen klappbaren Kamm. Wieder einmal versorgt mich mein Meiser, Kōbō Daishi, mit allen Notwendigen. Mein eigener Kamm hatte vor ein paar Tagen so viele Zinken verloren, dass ich ihn weggeworfen habe. Aber wie schon mit den Miniatur-Sandalen als Glücksbringer, kann der Daishi bescheidenen Wünsche erfüllen (;-) grins!).

Bei einem Kurzbesuch im Tempel Nr. 7 (Juurakuji), bin ich dann doch erstaunt, was von den Eindrücken aus den 88 Tempeln noch so hängen geblieben ist. Anfangs habe ich das Gefühl, als würde ich ihn das erste Mal in meinem Leben besuchen. Nun muss ich dazu sagen, dass so ein paar grüne Bäume einen Tempel doch schon sehr verändern können. Ich hatte vor knapp 6 Wochen hier nur kahle oder spärlich blühende Pflaumen- und Kirschbäume zu sehen bekommen. Während die zart rosa Kirschblüte einem Tempel noch so eine edle Note verleiht, zieht das grüne Laub ihn wieder in die Gefilde der Normalität. Ja ich möchte sagen in die Art Ländlichkeit, die ich auf Shikoku kennengelernt habe. Derb, aber mit Herz, freundlich, aber mit respektvollem Abstand. Oh, wie werde ich das vermissen! Aber ich wundere mich, dass man dann doch so ein paar Gedächtnisblitze hat. Man erkennt zwar nicht mehr die Einzelheiten der Lokalitäten, kann sich aber an bestimmte Situationen erinnern, wo man Pilger getroffen, nach Unterkunft oder Weg gefragt hatte oder etwas anderes mit verbindet, als es nur angeguckt oder fotografiert zu haben. Hier im Pilgerbüro kaufe ich einige Kleinigkeiten, die ich mir auf der Hintour zwecks Gewichtsbeschränkung verkniffen hatte. Ich kaufe eine weiße Tasche (zudabukuro), eine Glocke (jirei) und eine Wagesa, eine Art Kragen, der an eine Mönchkutte (kesa) erinnern soll. Ich werde meine Pilgerausstattung komplettieren und kann sie dann vom nächstmöglichen Postamt nach Hause schicken.

Mein weiterer Plan für heute sieht vor, mein Gepäck, wenn möglich, bei Tempel Nr. 6 (Anrakuji) zu deponieren, um dann den Weg unter dem Tokushima Expressway (Autobahn) zum Bangai Tempel Nr. 1 zu nehmen. Als wir den Tempel Nr. 4 (Dainichiji) vor einiger Zeit besucht haben, wurde uns gesagt, dass die Route von dort zum Bangai nicht passierbar sei. So wähle ich die andere Route, ausgehend von Tempel Nr. 6, und hoffe, dass mir der Übergang von der englischen Karte auf die japanische gelingt. Glücklicher Weise ist der Bangai Tempel nicht ganz so weit entfernt, so dass mir erlaubt wird, mein schweres Gepäck im Tempel zu deponieren. Wenn ich mich recht erinnere, so kann man hier im Glockenturm sogar kostenlos schlafen. Wenn ich also spät dran wäre, hätte ich schon mal ein Nachtlager sicher. Außerdem gibt es hier vor dem Parkplatz des Tempels noch eine recht komfortable Pilgerhütte mit WC.

So mache ich mich auf den Weg, aber was in der Karte einfach wirkt, ist in Natura dann doch komplizierter. Zwischen den ganzen Häusern und Feldern ist es nicht leicht den Pilgerpfad zu finden und zur Orientierung gibt es auch nur wenige Anhaltspunkte. Nur nicht die falsche Autobahnunterquerung wählen, sonst bin ich gleich auf dem falschen Weg, den ich dann auch nicht mehr korrigieren kann. Ich merke mir die Nr. 42, die hier auf einem Schild an einer Unterquerung angebracht ist. Ich werde versuchen, den gleichen Rückweg wie Hinweg zu laufen, dann sollte ich wohlbehalten wieder im Tempel Nr. 6 ankommen. Aber es ist schwierig, die spärliche Wegbeschilderung zu interpretieren, da nicht alle Schilder mit rotem Pfeil unbedingt auf den Taisanji (Bangai Tempel Nr.1) hindeuten. Das Gelände ist steil und schwierig und ich bin mir nicht sicher, ob ich den richtigen Pfad gewählt habe. Ich glaube aber, dass es hier eine steilen Autostraße gibt und einen noch steileren Pilgerpfad. Aber je höher ich den Berg hinaufsteige, desto besser wird die Aussicht über die Ebenen von Awa City bzw. Kamiita Town. Auf einem Nebenhügel kann ich ein Häuschen ausmachen, ob es ein Schrein oder ein Tempel ist kann ich leider nicht erkennen. Funkmasten, die wie Pagoden wirken, täuschen mich, aber ich habe während meiner Pilgerreise noch ganz andere „Gebilde“ gesehen, die sich dann doch als modern gestaltete Pagoden herausgestellt haben. Es ist warm und die Sonne brennt. Die Kälte der letzten Tage hatte, wie erwähnt, dann doch ihren Sinn, aber jetzt schmore ich im eigenen Saft. Als ich den Weg zum Tempel schon fast geschafft habe, hält ein Auto neben mir. Die ganze Zeit hatte ich weder einen Pilger noch ein Auto hier oben gesehen, und jetzt besteht der Fahrer darauf, mich das letzte Stück mit nach oben zu nehmen. Aber auch der Motor des Autos hat arge Probleme hier den steilen Berg hochzukommen oder ist es einfach die rasante Fahrweise, die hier Maschine und Bremsen zum Ächzen bringen. Auf dem Gelände entlässt mich mein japanischer Autofahrer, er wirkt aber nicht, als sei er ein Pilger. Na - hoffentlich ist der nicht nur wegen mir den Berg hochgebraust, hat mich irgendwo zwischen den Häusern laufen gesehen und ist dann, damit ich mich nicht verlaufe, nachgefahren.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 1 Taisanji (大山寺)
„Der große Berg Tempel“ kann im Japanischen aufgrund der Lesung der Kanji (Symbolzeichen), die für jedes Zeichen eine ursprünglich chinesische (bzw. sino-japanische) und eine japanische Lesung vorsieht, sowohl „Taisanji“ als auch Oyamaji“ gelesen werden. An der Bedeutung der Kanji ändert das jedoch nichts. Der Tempel wurde vor ca. 1470 Jahren, also vor der Zeit Kōbō Daishis gegründet, und war damals ein wichtiger Tempel des Shugendō (Bergasketentum). Als der Daishi hierher kam, war der Tempel verfallen und musste erstmal wiederaufgebaut werden. Der Tempel ist Senju Kannon gewidmet. Einer Legende nach soll Kōbō Daishi sie von seinem chinesischen Lehrer Huikuo geschenkt bekommen haben als er in China den Buddhismus studierte. Nachdem er wieder in Japan war hat er dem Tempel die Statue geschenkt, aber es gibt auch noch eine Fudō Myōō Statue im Hondō (Haupthalle). Eine weitere Namikiri Fudō Statue („Wellen glättende Fudō“) befindet sich im Schrein auf der Bergspitze. Der Tempel ist ebenfalls als „Wunsch Gewährungstempel“ bekannt, weil hier Minamoto Yoshitsune für den Sieg gebetet haben soll, bevor er zum Kampf nach Yashima geritten ist, wo er, wie wir jetzt wissen, den Kampf gegen den Klan der Taira (Heike) gewann. Sein Pferd (jap. uma) soll in der Nähe der Pagode des Taisanji begraben worden sein. Aber der Tempel ist in der ganzen Präfektur bekannt als „Heiratstempel“. Da die Silben „go en“ im Japanischen sowohl „fünf Yen“ als auch „gute Heirat“ bedeuten, wirft man hier 5 Yen-Stücke in die Spendenbox. Man sollte dann eine schöne Hochzeit feiern können bzw., wenn man noch nicht verheiratet ist, den richtigen Partner dafür finden. Es gibt hier noch eine weitere Legende, die sich vor ca. 400 Jahren zugetragen haben soll, als ein lokaler Kriegsherr 21 Tage lang für Kraft betete. Auf seinem Heimweg begegnete ihm eine Monsterkuh, die er mit einem Hieb niederstreckte. Doch als man das Untier inspizieren wollte, fand man nur eine Jizō Statue, die in zwei Hälften gespalten war. Nun glaubte man, dass sich die Gottheit Kannon in das Monster verwandelt hatte, um den Kriegsherrn seine Kraft zu „demon“-strieren. In Erinnerung daran steht im Tempel eine neunstufige Steinpagode, die der Kriegsherr zum Dank von der Spitze des Berges zum Tempel getragen haben soll.

Man merkt sofort, dass es hier kein gewöhnlicher Tempel ist, sondern ein, wie soll ich sagen, alternativer Shugendō Tempel. Die vielen Besonderheiten, das europäisch wirkende Giebelhaus, die weiße Statue mit dem Block und die vielen farbenprächtigen Bilder sprechen für sich. Ich erkunde das Tempelgelände, der Verbindungsgang zwischen Daishidō (Dasihi Halle) und Hondō (Haupthalle) mit den vielen Votivtäfelchen (ema) und den überdimensionierten Holzketten hat es mir angetan. Als ich mich für ein kleines Päuschen niedersetzen will, dringt ein Fiepen an mein Ohr. Immer wieder höre ich es und in meiner Vorstellung formt sich aus dem Fiepen schemenhaft ein Kätzchen. Ich bin dann doch ganz schön erstaunt, dass mein Kätzchen dann, Federn hat und der weit aufgerissene Schnabel so gar nicht zu dem kleinen Körper passt. Ein Spätzchen sitzt hier im Sand auf der Erde und ruft vielleicht nach seiner Mutter. Er hat zwar schon Flugfedern, macht aber keine Anstalten. Mit den weichen Puschelfedern um den eingezogenen Hals sieht her mehr wie eine fiepende Fellkugel aus. Na, wollen wir hoffen, dass es hier keine Tempelkatze gibt, die sich über leichte Beute freut.

Nachdem ich meinen Pilgerverpflichtungen nachgegangen bin und mein Pilgerbuch habe vervollständigen lassen, trete ich fröhlichen Herzens den Rückmarsch an. Aber ganz so fröhlich bin ich dann doch nicht, weil das Auto immer noch auf den Parkplatz steht. Beim Hinauffahren war mir das verwitterte Eingangstor aufgefallen, welches ich unbedingt noch besuchen möchte. Ich wandere also wieder talwärts. Das Tor ist wirklich sehr alt und verwittert. Als ich es besuche ist es sogar mit einer blauen Plane als Dachersatz ausgestattet, wohl um weitere Schäden zu minimieren. Der Weg bergab ist natürlich umso leichter, da es abwärts geht und man sich nicht allzu viele Sorgen machen muss, den Weg zu verlieren. In einer Kurve, in der ich über die Bäume hinweg sehen kann, genieße ich die Aussicht von hier oben. Es ist zwar etwas diesig, aber trotzdem habe ich eine phänomenale Weitsicht. Ich bin immer wieder verwundert, wie es so flache Örtlichkeiten zwischen so vielen Bergen geben kann. Gleich so, als hätte eine riesige Hand, die Ebenen flachgeklopft. Als ich noch in der Kurve stehe, höre ich von hinten ein Auto angerauscht kommen. Natürlich mein hilfsbereiter Autofahrer, der mich schon das Stück zum Tempel hinauf mitgenommen hat. Mit den Worten „aruki henro desu“, „ich bin ein Laufpilger“, entschuldige ich mich mit einem Lächeln und bedanke mich mit einer Verbeugung für seine Hilfsbereitschaft. Der Rückweg, ich verlaufe mich in einem Orangenhain, ist dann doch schneller gefunden als gedacht. Ich beobachte noch eine Bäuerin und einen Bauer wie sie im Feld arbeiten und sich durch den schlammigen Untergrund vorankämpfen. Das ist hier so eine richtige Kunst, die Reisfelder zu bewässern, überall muss genügend Wasser stehen, aber es darf nicht stagnieren.

Mitten hier in der Pampa sehe ich ein Schild, dass auf den „Jingui Fruchtmarkt“ verweist und Waza-no-yakata, eine Art Museum zum Mitmachen, in dem der Besucher traditionelles Handwerk der Präfektur Tokushima ausprobieren kann. Das ist auch wieder so typisch Japanisch, nicht nur in Museen Wissen konsumieren, sondern etwas im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ machen. So werden Papierschöpfen, Färbe- und Webetechniken zum Selbermachen angeboten. Ich bin dann schneller wieder im Tempel Nr. 6 als erwartet, nehme meinen Rucksack wieder in Empfang und mache eine Pause in besagter Pilgerhütte vor dem Parkplatz. Den weiteren Weg laufe ich an der Straße Nr. 12 entlang, wenn ich dem Pilgertrail folgen müsste, ich laufe jetzt in Gegenrichtung, würde ich schnell Probleme bekommen. Hier an der Hauptstraße finde ich eine Vielzahl von Automaten, der eine für Fertignudelsuppen („Cup Noodle“), für Süßigkeiten, Getränke und sogar einen für Eiscreme. Ich genehmige mir ein Erdbeereis, denn leider war meine Lieblingssorte „matcha“ ausverkauft. Macha oder „Grüner Tee“ ist mein Favorit, da der bittere Geschmack des Grünen Tees so herrlich mit der Süße des Vanilleeises harmoniert. Ich hatte zwar auch zwischenzeitlich ein Schokolade überzogenes Vanilleeis als Eiskonfekt probiert, aber Grünteeeis mit Waffel oder pur als kleine Eiskugeln sind für mich unschlagbar.

Ich passiere Tempel Nr. 2, der hier direkt in der Kurve liegt und lande schließlich wieder in Tempel Nr. 1, dem Ryōzenji. Ich hatte noch auf Höhe des Abzweigers zum Deutschen Haus überlegt, ob ich Patrik noch einen Besuch abstatten sollte, da es aber schon 16.15 Uhr ist, und die Öffnungszeit nur bis 16.00 Uhr geht, habe ich mich dann doch dazu entschlossen, weiter zu wandern. Jetzt bin ich wieder am Anfang, dort wo ich gestartet bin, voller Anspannung, voller Tatendrang und voller Ungewissheit, was die nächsten Wochen wohl bringen werden. Ich muss mir ein Tränchen verdrücken, als ich meine Herz Sutra rezitiere, aber ich habe es wirklich geschafft! Aus der anfangs vor allem sportlichen Herausforderung ist eine spirituelle geworden. Hier schließt sich der Kreis! Ich erhalte einen weiteren Eintrag in mein Pilgerbuch (nokyochō) und kaufe noch Namenskarten (osamefuda), Baumwolltücher (tenugui), Räucherstäbchen und Kerzen. Zusammen mit den anderen Pilgerutensilien, die ich nicht mehr für den Besuch des Koyasans benötige, schicke ich sie nach Deutschland. Kurz vor Dienstschluss kann ich noch ins Postamt von Bando stürmen und oh Wunder – es gibt kein Problem mit der Adresse! Mit dem „Tempelbus“ fahre ich dann um 17.22 Uhr in Richtung Tokushima und ich schwöre, dass dies bestimmt nicht meine letzte Pilgertour gewesen ist. Von meinem Sitzplatz aus beobachte ich, wie die Sonnen unter geht. Ich hoffe jetzt nur, dass ich das Businesshotel Sakura, in dem ich mit Hajo auf dem Hinweg abgestiegen waren, wiederfinde. Aber es läuft alles wie am Schnürchen. Ich checke im BR Sakura ein und stelle verwundert fest, dass sich im Gästebuch hauptsächlich Ausländer eingetragen haben. Typische Ausländer Absteige, denke ich so bei mir, als ich die Menge und vor allem die Größe der Schuhe im Eingangsbereich bemerke. Japaner hätten sie alle ordentlich in Reih und Glied gestellt, aber bei den Ausländer fliegen sie alle durcheinander. Ich kaufe noch etwas zum Abendessen aus dem Lawson Kombini (24-h-Markt) am Hauptbahnhof Tokushima und frage nach, wann der Bus morgen zum Flughafen Kansai fährt. Auf meinem Zimmer finde ich bei meiner Rückkehr eine Banane, sowie ein Stück Baumkuchen und Tee. Diesen Ritus lob ich mir, da kann man bei Einchecken schon mal ein kleines Teepäuschen einlegen, bevor man sich dann wieder aufrappelt, um noch Besorgungen zu machen oder ein heißes Bad im Ofuro zu nehmen.

Sonntag, 26.04.2009, Hotel S. 106 Onsen

Der 42. Tag in Japan
Heute ist Sonntag, das Frühstück hier im Onsen (Thermalquelle) Hotel gibt es zwar erst um 7.00 Uhr, aber ich bin schon früher auf, da ich meine Sachen noch packen muss. Ich hatte sie zum Trocknen aufgehängt, weil ich gestern doch ziemlich durchgeweicht bin. Das Wetter ist trübe, aber es regnet zum Glück nicht. Als ich heute in den Spiegel schau, muss ich grinsen, denn mein Gesicht ist voller Sommersprossen. Das war mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ganz am Anfang meiner Pilgertour hatte ich echte Schwierigkeiten mit der starken Sonneneinstrahlung. Meine Hände hatten eine Sonnenallergie entwickelt und waren, neben den sich entwickelnden Sommersprossen, mit kleinen Bläschen überseht. Auch die Sehnenscheidenentzündung der Handgelenke hat sich ohne medikamentöse Unterstützung zurückgebildet. Meinen Füßen geht es gut, wenn ich mal von den etwas tauben Zehenspitzen und meinen verkürzten Achillessehnen absehe. Nichts, was so schlimm gewesen wäre, als dass ich hätte pausieren oder womöglich die Pilgerreise abrechen müssen. In wenigen Tagen werde ich mein Ausgangspunkt wieder erreicht haben und mit Ausnahme kleinerer Blessuren, mir tut der Hintern von gestern noch etwas weh, bin ich doch ganz gesund durchgekommen.

Zum Frühstück gibt’s diesmal nicht nur die gewöhnliche Miso Suppe mit Einlage, sondern so einen Nudelsuppentopf auf einem Stövchen. Nach einem reichhaltigen Frühstück checke ich aus. Ich kann mir mittlerweile auch ungefähr denken, wo ich mich jetzt befinde, denn hier in der Gegend gibt es nicht viele Unterbringungsmöglichkeiten. Wenn ich hier am Hotel die Straße entlang laufe und nach einem Fluss auf die Straße Nr. 193 treffe, weiß ich, wo ich heute Nacht geschlafen habe. Zurück zum Tempel Nr. 88 sollte es dann kein Problem mehr sein. Das Wetter ist, wie gesagt, bedeckt, doch kaum stehe ich vor der Tür, fegt mir ein kräftiger Windstoß meinen Pilgerhut vom Kopf. Ich flüchte wieder hinter die automatische Eingangstür des Hotels und krame meinen Regenponcho heraus. Den Pilgerhut binde ich am Rucksack fest. Anstelle meines Seggenhuts ziehe ich meine Mütze über die Ohren, die ich sonst nur bei den Übernachtungen in den Pilgerhütten getragen habe. Zusammen mit den Handschuhen haben sie mich immer schön warm gehalten. Und das brauche ich heute auch, denn der Wind ist eisig, kein Sonnenstrahl hat es seit geraumer Zeit geschafft, hier Wärme zu verbreiten, dabei habe ich zeitweilig schon richtig auf meiner Tour schwitzen müssen. Aber auf einmal ist es, als wäre ich in einem anderen Land, in dem es nur Kälte und Wind gibt. Dabei ist es doch fast Ende April und so hoch in den Bergen liegt diese Ortschaft auch nicht.

Laut Karte sollte es bis zum Ōkuboji ca. 14 km sein, natürlich muss ich den Tempel nochmals besuchen, da ich gestern bei dem vielen Regen nicht ein Foto schießen konnte. Auf meinem Weg liegt eine große Steinmetzfabrik, auf deren Betonmauer sind unzählige kleine Steinlaternen aufgestellt. Ich kann eine Steinsäule mit Löwen erkennen, eine Statue von Hotei, dem dicken, lachenden Mönch und eine Gruppe von drei Katzen. Es regnet noch ein paar Tropfen, der Wind weht mir um die Ohren, aber schließlich habe ich die Ortschaft erreicht, an der ich gestern zum Damm abgebogen bin. Hier hat sogar ein kleiner Laden geöffnet und das am Sonntagmorgen! Ich kaufe mir eine Tüte mit Muffins als Proviant und gefüllte Brötchen, die ich sogleich verspeise. Ohne Brot bzw. Stärke komme ich morgens nicht in Tritt! Der Weg zu Tempel Nr. 88 erscheint mir dann auch viel länger, vielleicht weil man die Strecke schon kennt. Aber kurz vor dem Ziel überholt mich so ein japanischer Schnellläufer. Ich hatte zwar versucht, ihn nicht davon wandern zu lassen, es ist immer gut, einen Tempomacher zu folgen, aber schließlich muss ich ihn dann doch ziehen lassen.

Exkurs Tempel Nr. 88 Ōkuboji (大窪寺)
„Der Tempel der großen Höhle“ geht auf eine Höhle zurück, die hier einmal existiert hat. Der Tempel wurde 717 von Gyōgi (669-749) auf Geheiß der Kaiserin Genshō (680-748; 44. Tennō) gegründet. Im 9. Jahrhundert, nachdem er aus China zurückgekehrt war, schnitzte Kōbō Daishi den Honzon (Hauptgottheit) Yakushi Nyorai und widmete ihm und seinen Wanderstab mit rasselnden Metallringen (shakujō) eine Halle. Zwischen 1573 und 1592 brannten alle Hallen bis auf eine nieder. Nur die Statue und der Stab des Daishi überdauerten die Zeit der brandschatzenden Chōsokabe Truppen. Zwischen 1673 und 1704 wurde der Tempel unter Masudaira Yorishige, Herrscher von Takamatsu, wiederaufgebaut. Um 1900 brannte der Tempel abermals nieder, wurde aber nach einiger Zeit wiederhergestellt. Der Daishidō (Daishi Halle) stammt aus dem Jahre 1984. Man beachte die Krücken, die Pilger hierließen, nachdem sie auf der Pilgerreise geheilt wurden, die heiligen Buppōsō Vögel und die Kechigan Omamori (Talismane der abgeschlossenen Pilgerreise). Früher war Frauen der Zutritt verboten, heute gilt das glücklicher Weise nicht mehr. Auf einer Steinsäule vor dem Wächtertor (niōmon) kann man lesen, dass das Ende der Pilgerreise naht. „Hachijuchaich Kechigan-sho“, steht da in Kanji (Symbolzeichen) geschrieben, was so viel heißt wie „die heiligen Orte der Shikoku Pilgerreise, wo die Wünsche sich erfüllen“. Hier endet die Pilgerreise für viele Pilgerstöcke, die in der Hōjō Halle verwahrt werden und am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling oder während eines Goma Feuerrituals im August verbrannt werden. Aber der Pilger muss jetzt noch den Kreis mit dem Besuch des Tempels Nr. 1 schließen und den erfolgreichen Abschluss der Pilgerreise im Hauptquartier des Shingon Buddhismus, der gleichzeitig auch das Mausoleum des Daishis birgt, im Pilgerbuch (nokyochō) quittieren lassen.

Ich sehe mich auf dem Tempelgelände um, das Wetter ist zwar grau und windig, aber noch regnet es nicht. Gestern musste ich infolge von Dauerregen das Fotografieren aufgeben, aber auch heute mache ich nur wenige Fotos. Da ich meinen Kōbō Daishi Stock liebgewonnen habe, möchte ich ihn hier nicht zurücklassen. Schließlich muss ich noch zu Tempel Nr. 1 wandern. Wenn dann auf einmal der Wanderstock fehlt, den man über 40 Tage mit sich herumgeschleppt hat, ist das ein ganz komisches Gefühl. Man hat auf einmal eine Hand frei und weiß nicht, was man damit machen soll. Aber meinen kurzgelaufenen Stock, ich schätze er hat mindestens 10 cm verloren, wird sich Zuhause als Souvenir zu meinem Wanderstock vom Fuji und einem anderen Pilgerstock aus Kamakura (Nähe Tokyō) gesellen. Auf dem Gelände des Ōkuboji ist heute richtig was los, das liegt auch daran, dass die wenigen Läden und Shops hier direkt vor dem Tempelgelände liegen.

Mein Plan für heute sieht vor, nach einer kurzen Fotosession in Tempel Nr. 88 den Rückweg nicht direkt zu Tempel Nr. 1 einzuschlagen, sondern den Umweg über Tempel 10 zu wählen, da ich den am Anfang ausgelassenen Bangai Tempel Nr. 1 noch in meinem Pilgerbuch (nokyochō) verewigen lassen möchte. Den Bangai Tempel Nr. 1 direkt anlaufen zu wollen, zerschlägt sich schnell, da das Kartenmaterial keine solche Querfeldeinwanderung hergibt. Aber ich bin fast drei Wochen vor meinem eigentlichen Plan, wie und was ich danach mache, ob ich umbuchen oder die Restzeit in Japan verbringen kann, steht jetzt noch in den Sternen. Ich habe also Zeit und muss mich nicht beeilen und so wandere über den verzeichneten Trail in Richtung Tempel Nr. 10 (Krihataji), der hier in fast einer Linien mit den anderen Tempel, (Nr. 9 bis Nr. 1) liegt.

Ich mache mich jetzt auf den Rückweg, über die mehrspurig ausgebaute Autostraße wandere ich am Higaidani Fluss entlang. Kurz vor einem Tunnel entdecke ich noch eine nichtverzeichnete Übernachtunsmöglichkeit. Es ist wohl so eine Art Rastplatz mit Toilettenhäuschen, das direkt über dem Fluss gebaut worden ist. Wenn es von der gegenüberliegenden Rinderfarm nicht so stinkend herüberwehen würde, wäre dies ein gemütliches Plätzchen. So aber sehe ich zu, dass ich meine Pause so kurz wie möglich halte. Auf einem Schild, auf der die Internetseite (http://www.road.pref.tokushima.jp/h/i/index.html) vermerkt ist, gibt es Informationen zu allen Möglichen wie Verkehr, Wetter, Erdbeben, Tsunami und Wasserstandmeldungen, leider alles nur in Japanisch und ohne Bilder. Hier esse ich meine Osettai (Pilgergeschenk) vom Bangai Nr. 20, die Nudelcracker und ein paar Kekse.

Die Luft ist irgendwie raus. Die anfängliche Spannung war sorglosem Wandern gewichen. Keine Sorge, wie weit man kommt, keine Sorge, ob man eine Unterkunft findet, aber immer Aufmerksamkeit darauf, Alternativen zu finden, die einem eine Ausweichmöglichkeit eröffnen. Nicht lange über etwas ärgern, nein - andere Möglichkeiten finden, weiter zu kommen oder im Zweifelsfall früher einkehren, als plötzlich im dunklen Wald zu stehen. Kein regelmäßiges Fernsehen, kaum Nachrichten, obwohl die japanischen Berichte über die Schweinegrippe aus Mexiko verfolgt habe und auch versucht habe, regelmäßig den Wetterbericht zu sehen. Die Dinge auf solcher Tour bekommen eine andere Wertigkeit. Man überdenkt Gewohnheiten, fragt sich, ob das wirklich nötig ist und erkennt, dass „Weniger oft Mehr“ ist. Das ist jetzt wieder so eine buddhistische Phrase, aber es ist wirklich so. Auf meiner Tour habe ich gemerkt, was ich wirklich brauche, natürlich bezogen auf die Tour, man muss sich wundern, mit wie wenig Sachen man über die Runden kommt und natürlich wägt man ihm wahrsten Sinne des Wortes jedes Stück ab, was man mit sich herumschleppt. Sollte man das nicht auch im täglichen Leben so machen, denn nichts anderes ist unser Alltag, eine Pilgerreise, die wir umso mehr genießen können, je weniger wir Wert auf Nebensächlichkeiten legen, die uns die Zeit für Dinge rauben, die wirklich wichtig sind. Ich hoffe ich kann diesen Aspekt in meinen deutschen Alltag hinüberretten.

Aber genug des Philosophierens – noch bin ich nicht wieder in Deutschland. Zurzeit wandere ich noch durch die Wälder hier in den Bergen, die sich vor mir wie eine grüne Wand auftürmen. Zwischendurch mal eine Brücke, die, im Gegensatz zu vielen Straßen, jede einen eigenen Namen trägt. An einem kleinen Bambushain sehe ich wie ein Japaner Bambussprossen ausgräbt. Später erfahre ich aus dem Internet (Wikipedia sei Dank!), dass Bambus bis zu 1 m pro Tag wachsen kann und zu den am schnellsten wachsenden Pflanzen überhaupt zählt! Waldbambus kann bis zu 38 m hoch wachsen und gehört dem Namen nach zu den „Süßgräsern“. Ein Grashalm von 38 m Höhe – Japan wartet gerne mit Superlativen auf!

Ich passiere so ein blaues „Ensemble“ aus Getränkeautomaten, Sitzbank und Blumenständer. Da hat sich jemand aber besonders Mühe gegeben, um es hier gemütlich zu machen. Man muss immer bedenken, dass es hier in Japan durchaus nicht üblich ist, in der Sonne zu sitzen. Fast jede Etagenwohnung besitzt zwar einen Balkon, der aber wird nicht zum Entspannen genutzt, sondern dient als Rumpelkammer bzw. Waschkeller. Hier hängt die Wäsche zum Trocknen, werden die Futon-Betten zum Lüften aufgehängt und alles gelagert, was man nicht mehr in den kleinen Wohnräumen unterbringen kann. Apropos kleine Räume, da fällt mir ein, dass ich nicht eine Nacht in einer Reismühle übernachten musste, obwohl das ideale Unterkünfte sind. Auch eine Übernachtung in einem Kapsel-Hotel ist mir erspart geblieben, obwohl in Kōchi die Möglichkeit bestanden hätte. Letzteres kenne ich vom Hörensagen aus Tokyo, wo man, wenn man den letzten Zug verpasst hat, die Nacht in so einem kleinen Schlafcontainer (capsule) in einem Saal übernachten kann. Hinter einem kleinen Vorhang findet sich ein mit TV, Radio und Lampe ausgestattetes Bett. In letzter Zeit werden auch immer mehr Internetcafes zum Übernachten genutzt, da sie meist billig sind als ein Hotel. Man muss allerdings erwähnen, dass in Japan diese Art der Cafes aus abgetrennten und abschließbaren Kabinen besteht, also kein großer Raum ist wie bei uns, in dem sich die Computer dicht an dicht drängen. Duschmöglichkeiten und Decken gehören in den Cafes meist mit zu Service – es ist zwar anders gedacht gewesen, aber man muss eben ein bisschen erfinderisch sein.

Für heute ist mein Ziel allerdings weder eine Reismühle, noch ein Internetcafe, obwohl ich das Internet in meiner geplanten Unterkunft kostenlos benutzten darf. Wie schon auf dem Hinweg werde ich im Hotel Awa Access, eiem Businesshotel, absteigen. Es liegt hinter dem Hōrinji (Tempel Nr. 9) etwas abseits vom Pilgerpfad. Ich hatte es mir in die Karte eingetragen, weil hier die Unterkunftsmöglichkeit doch recht dünn gesät sind. Als ich durch Awa City laufe, immer an der Straße Nr. 12 entlang, kommt mir die Strecke dann doch länger vor. Als ich an einer Bushaltenstelle vorbeikomme, die mit einem soliden Holzhäuschen versehen ist und an einen „Getränkeautomaten Park“ grenzt, überlege ich noch kurz hier zu übernachten. So könnte ich immerhin 5500 Yen sparen, aber ich freue mich schon auf das „Westliche Frühstück“ mit Eiern und Kaffee satt. Außerdem möchte ich das Internet dazu nutzen, mir Informationen über Umbuchungsmöglichkeiten, Transportmöglichkeiten zum Koya-san und weitere Reisetipps in Japan, zu beschaffen. Ja, ich nehme langsam Abschied von der Pilgertour, der Natur und der Insel, auf der ich so viel Spaß hatte. Morgen noch den letzten Abschnitt bis zum Tempel Nr. 1 gewandert und eine Stippvisite auf dem Koyasan und was danach kommen mag, weis bis jetzt nicht mal Kōbō Daishi.

Als ich heute Abend am Computer im Access Awa meine E-Mails checke, erwartet mich eine Überraschung. Sowohl die „Berliner Mädels“ als auch Hajo haben mir eine Warnung zukommen lassen, dass die vielbesagten Schlangen unterwegs sind. Explizit Hajo warnt mich davor den Trail bei Bangai Tempel Nr. 20 zu benutzen, da er erstens schlecht markiert ist und zweitens es viele Schlangen auf dem Berg geben soll. Knapp daneben ist auch vorbei, denke ich so bei mir, bei der Kälte auf dem Berg, hätte ich die allenfalls „Schlange in Eis“ oder „Schlange ganz steif“ begegnen können. So hatte das kalte Wetter also doch sein gutes: Ich habe zwar ziemlich gefroren, dafür hatte ich keinen Schlangenkontakt. Im nahe liegenden Sunkus Kombini (24-h-Shop) besorge ich mir zum Abendessen, im Hotel wird nur Frühstück angeboten, eine japanische Pizza (okonomiaki) und eine Traubenlimonade („Fanta Budo“), sowie für morgen Gebäckteilchen mit Schokostreußeln und Teile, die wie „Berliner“ schmecken.

Samstag, 25.04.2009, Sanuki City, Takeyakiki Ryokan

Der 41. Tag in Japan
Hätte ich heute am Morgen gewusst, was mir bis zum Abend passiert, wäre es von mir wohl mit „Pleiten, Pech und Pannen“ überschrieben worden. Aber es fing alles schon gestern mit den Kommunikationsproblemen an. Als ich heute in meinem kleinen Zimmer erwache, ich hatte die Soji (Schiebetüren), die als Gardinenersatz dienen, offen gelassen, ist es dunkel und regnet. Ausgerechnet heute, wo ich eine recht weite Strecke wandern muss, noch dazu durch die Berge! Um 6.00 Uhr bereche ich auf. Die Dame an der Rezeption, mit der ich gestern das Missverständnis über die Übernachtungspreise hatte, checkt mich aus und drückt mir noch ein 1000-Yen-Schein in die Hand. Sie sagt mir es sei für „Pan“ (Brot), da ich sie aber nicht wieder brüskieren will, sie hatte mein Schrecken bzw. Ärger wohl durchaus verstanden, bedanke ich mich und mache mich auf den Weg zu Tempel Nr. 88.

Eigentlich wollte ich im Ryokan zwei Tage bleiben und mein schweres Gepäck hier deponieren. Aber jetzt bin ich gezwungen, mich mit meiner gesamten Habe zum Ōkuboji (Nr. 88) zu schleppen. Eventuell kann ich dort den Rucksack im Pilgerbüro lassen und den Weg zum Bangai Tempel Nr. 20 dann noch mit leichtem Gepäck antreten. Den Weg zum Ōkuboji Tempel hatte ich mir dann doch kürzer und leichter vorgestellt. Auch meine Freude, endlich den letzten Tempel der Hauptkette zu besuchen, ist getrübt und das nicht nur aufgrund des Regens. Es ist verdammt kalt geworden, der Regen fließt in Strömen. Zum Glück trage ich über meiner Doppeljacke einen Regenponcho, der mich mitsamt meines Rucksacks umhüllt. Er hätte vielleicht etwas länger sein können, denn ich bekomme recht schnell nasse Füße, aber eigentlich das optimale Teil für so eine regnerische Insel wie Shikoku. Ich brauche für die knapp 2,5 km bis zum Tempel eine halbe Stunde und bin so natürlich viel zu früh am Pilgerbüro.

Zum Glück kann man sich hier vor dem Tempelbüro unterstellen. Es gibt sogar Bänke zum Ausruhen. Ich schäle mich aus meinem „Zwiebel Look“ und beschließe, den ersten Mönch, der das Pilgerbüro öffnet, zu fragen, ob ich meinen Rucksack hier hinterlegen kann. Aber ich habe Pech, denn der alte Kauz besteht darauf, dass ich den Rucksack mitnehme, da der Bangai (Nebentempel) einfach zu weit weg ist. Es verkürzt die Strecke aber auch nicht, wenn ich mit vollem Gepäck laufe, denke ich so bei mir. Ich ärgere mich, verstehe aber auch sein Ansinnen. Denn was geschieht, sollte ich nicht vor Ablauf der Öffnungszeit wieder im Pilgerbüro erscheinen? Soll er dann meinen Rucksack vor die Tür stellen, wird er eventuell geklaut. Komme ich jedoch nach der Öffnungszeit wieder zum Tempel, finde ich niemanden, der mir mein „Gutes Stück“ wieder rausgeben kann. Niedergeschlagen trabe ich von Dannen. Bei dem Regen kann ich kein Foto vom Tempel machen, nehme mir aber bei nächster Gelegenheit vor, das nachzuholen. Ich werde versuchen, heute den Bangai Tempel zu erreichen. Je nachdem wie schnell oder langsam ich bin, werde ich den Rückweg zu Tempel Nr. 1 über Tempel Nr. 88 machen. Vielleicht gibt es kürzere Strecken, aber da mein Kartenmaterial begrenzt ist, wähle ich lieber die ausgewiesenen Pilgerstrecken, als mich querfeldein zu schlagen.

Regen, Regen und nochmals Regen, ausgerechnet heute wo ich ihn nicht gebrauchen kann. Ich laufe wieder den Weg zurück zum Takeyakiki Ryokan, von hier muss ich wieder nach japanischer Karte laufen, die für die Strecke zum Bangai Tempel so ca. 20 km nennt. Unter einer Straßenunterführung mache ich kurz Pause. Warum es hier wohl eine Unterführung gibt, eine einfache Kreuzung wäre hier doch auch keine Problem gewesen, so wenige Autos wie hier fahren? Während auf der Karte eine längere Tour vermerkt ist, die erst um den Ōtaki Berg herumführt und hauptsächlich Autostraße beinhaltet, wähle ich den, in meinen Augen kürzeren Weg. Er beginnt an einer Art Staudamm mit WC und führt dann als Wandertrail, die Serpentinen der Autostraße abkürzend, direkt den Berg hinauf. Aber wie erwähnt, der Tag ist mit „Pleiten, Pech und Pannen“ überschrieben und so habe ich das Pech, dass ich den Einstieg zum Trail nicht finde. Stattdessen gibt mir ein Hinweisschild hier an der Straße Auskunft darüber, dass der Autoweg ca. 16 km lang ist. Diese Strecke ist für mich noch annehmbar, obwohl der Trail es auf 6 km verkürzt hätte. Aber ich habe jetzt Zeit, da ich die offizielle Pilgertour so gut wie abgeschlossen habe, will ich mich nicht durch so ein paar Widrigkeiten ärgern lassen.

Ich stapfe also die Autostraße hoch, die jedoch nicht mehr vollständigen in meiner Karte verzeichnet ist. Während ich mich noch frage, wo ich mich den eigentlich auf der Karte befinde, werden Minuten zu Stunden. Ich wandere im Regen, der Nebel verdeckt die Bergspitzen. Nur von Zeit zu Zeit denke ich, dass ich diese und jene Häusergruppe bzw. Blick auf irgendwelche Plantagen schon mal gesehen habe. Da ich mich hier am Berg aber stete nach oben bewege und jede Windung der Straße durchwandern muss, habe ich jedes Mal einen anderen Blickwinkel. Zwei große Reisebusse fahren an mir vorbei. Wie gerne wäre ich mit ihnen mitgefahren, denn mittlerweile bin ich dann doch ganz schön nass geregnet, obwohl der Regen nachgelassen hat. Da bin ich dann wenigstens auf dem richtigen Weg, denke ich so bei mir, als kurz vor mir ein Mauzen ertönt. Es ist ein klägliches Mauzen, einer noch kläglicher wirkenden Katze. Es ist so ein ganz heller Tiger, aber derart abgemagert, dass man trotz langhaarigem Fell die Knochen sehen kann. Tja, Kätzchen, denke ich so bei mir, da hast du dich hier verlaufen wie ich mich verlaufen habe. Und wieder ertönt ihr schwächliches Miau. Ich habe leider nichts mehr außer meinen Pilgerkeksen und ich bezweifle, dass du die frisst. Wenn so eine Hauskatze sich hier in der Wildnis verläuft und den Weg nach Hause nicht wieder findet, muss sie entweder verhungern oder sich auf ihre Urinstinkte besinnen und selber jagen. Aber diese arme Katze ist wohl so ein entlaufener Stubenhocker, der noch nie eine lebende Maus oder einen Vogel gejagt hat. Wie gerne würde ich ihr helfen, dabei kann ich mir ja nicht mal selber helfen. Wenn sie schlau ist, versucht sie das Fleisch der Krabben zu futtern, die hier alle paar Meter von Autos platt gefahren worden sind. Aber da ich selber nicht weiß, wie weit es bis zum Tempel ist, muss ich sie schweren Herzens am Straßenrand sitzen lassen.

Ich wandere weiter, immer die nebelverhüllten Gipfel im Auge, irgendwo da oben liegt der Ōtakiji Tempel. Der Gedanke motiviert mich, was habe ich heute schon geschafft, ganz vom Tal bin ich bis in diese Höhe gekommen. Doch ein Auto, das kurz vor mir bremst, reißt mich aus den Gedanken. Ein japanisches Ehepaar winkt mir energisch zu, während ich zwei Pilgerbusse und drei andere Autos ihrer Wege ziehen ließ, denke ich, dass ich für heute meinen guten Willen bewiesen habe. Und da ich nicht wie das Kätzchen im Regen enden möchte, nehme ich diese „Pilgererleichterung“ dankend an. Jetzt beginn hier aber wieder eine Achterbahnfahrt durch die Kurven, doch schneller als erwartet, hat diese Fahrt ein Ende. Es war, um in der Begrifflichkeit zu bleiben, nur noch ein Katzensprung bis zum Tempel.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 20 Ōtakiji (大滝寺)
„Der Tempel des großen Wasserfalls“ wurde von Gōgi (668-749) gegründet und man sagt, er habe gleich 3 Statuen von Amida Nyorai als Honzon geschnitzt. Kōbō Daishi hat den Berg ebenfalls besucht, um auf seinem Gipfel die Morgensternmeditation (Gomonjihō) durchzuführen. Der Tempel ist berühmt für seine „Yakunagashi“, was so viel wie „das Unglück wegwaschen“ bedeutet, aber was sich dahinter verbirgt, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wer ist jetzt wieder Saisho Daigongen, der hier als Honzon (Hauptgottheit) angegeben ist? Nishiteru Daigongen oder auch Amano Oshihi sind Bezeichnung für die gleiche Gottheit. Vermutlich eine Shinto Gottheit (kami), da sie den Titel „Daigongen“ trägt. Angeblich soll dieser Tempel der am höchstgelegenste der gesamten Shikoku Tour sein, sogar höher als das Hauptquartier des Shingon Buddhismus auf dem Koyasan.

Als ich mit meinem japanischen Ehepaar den Tempel betrete, ist da schon eine Pilgergruppe am Sutren rezitieren. Als ich im Tempelbüro einen Pilgerbucheintrag machen lassen, erzählt mich die Frau an. Sie soll mir von meinem großen Wanderkollegen, der vor vier Tagen (also am 21.04.) diesen Tempel besucht hat, liebe Grüße bestellen. Etwas irritiert frage ich nach, ob sie Hajo oder die beiden Berlinerinnen meint, die ich bei Tempel Nr. 46 getroffen habe. Aber ich habe schon richtig gehört, dass es Hajo war, der wohl mit der ausgezeichnet Englisch sprechenden Japanerin hier ein Pläuschchen geführt hat. Jetzt haben auch meine Auto fahrenden Japaner mich hier am Pilgerschalter entdeckt und fragen mich, ob sie mich wieder mit runter nehmen sollen. Ich verneine mit der Begründung, dass ich ein „Arukihenro“, ein Wanderpilger bin. Außerdem sollte der Rückweg, der jetzt nur noch bergab verläuft nicht mehr so schwierig sein. Bei letzterem habe ich mich ganz schön getäuscht und sortiere es unter Pleiten ein, denn mein Abstieg soll meine größte Pleite auf der ganzen Pilgertour werden.

Aber zurück zu meinen motorisierten Wohltätern, die mir als Osettai (Pilgergeschenk) noch eine Flasche Tee und frittierte Nudeln, sie schmecken so ähnlich wie ungesalzene Salzstangen, zukommen lassen. Ich bedanke mich und wir verabschieden uns voneinander. Da der ganze Berg im Nebel hängt, ist es ganz schön schwierig, den Trail zu finden. Doch als ich die Straße am Tempel in Gegenrichtung laufe, zu der ich gekommen bin, sehe ich ein Schild. Hier ist der Trail mit neonfarbenen Bändern markiert, die man bei dem Nebel noch relativ gut sehen kann. Ich folge also den Bändern, merke jedoch schnell, dass der Trail hier nicht ganz „ohne“ ist. Laub hat sich auf dem Weg angesammelt und durch den Regen ist es ziemlich rutschig, zumal es hier steil rauf und runter geht. Innerlich verfluche ich meine Entscheidung den Rückweg zu laufen schon wieder, aber eigentlich sollte die Wegführung des Trail mir nicht allzu große Probleme bereiten. Laut Karte muss ich immer nur, abgesehen von einigen Kurven, geradeaus den Berg herunterwandern, bis ich auf die Straße treffe, die ich hochgekommen bin und ob ich das letzte Stück bis zum Staudamm dann auf dem Trail oder der Straße laufe, „macht den Kohl auch nicht mehr fett“.

Aber wie die Überschrift „Pleiten, Pech und Pannen“ schließen lässt, läuft heute nichts glatt, so verwechsle ich den eigentlichen Trail mit der Feuerschneise. Auf Feuerschneisen, die natürlich durch Bänder markiert sind, werden alljährlich die Bäume und Sträucher zurückgeschnitten, damit das Feuer keine Nahrung finden, um sich weiter auf dem Berg auszubreiten. Nun ja und durch die Kennzeichnung mit den Bändern habe ich wohl den Trail und die Feuerschneise verwechselt. Da ich der Meinung war, dass der Tempel schon am höchsten Punkt lag, ich dementsprechend nur noch talwärts wandern musste, bin ich anstatt den Berg noch weiter hoch zu kraxeln auf der absteigenden Feuerschneise gelandet. Dies bedeutete für mich auf den „absteigenden Ast“ zu sein, da die Schneise um einiges steiler und schwieriger zu überwinden war. Zumal hatte ich meinen, um die 14 kg wiegenden, Rucksack auf dem Buckel, der einen mächtig den Hang herunterziehen kann. Mit einem Stoßgebet an Kōbō Daishi und dem Versprechen es endlich kapiert zu haben, rutsche ich auf dem Hosenboden die Feuerschneise hinab. Wenn ich jetzt an einem betonierten Steilhang rauskomme, bekomme ich echte Probleme, wie soll ich da runter kommen? Ich bin zwar schon an solchen Konstruktionen herausgekommen, doch diese waren immer abgesichert gewesen, da der Trail an ihnen vorbei führte. Wenn ich jetzt auf einen Fluss treffe, hätte ich noch mal Glück gehabt, den an seinen Ufern kann man entlang laufen und ich hätte wieder einen Orientierungspunkt, von dem ich abschätzen könnte, wo ich denn gelandet bin. Nachdem ich so einen kleinen Bach, der hier vom Berg plätschert überwunden habe, komme ich an einem Platz mit Baumaschinen raus. Natürlich kein Mensch in der Nähe, den man hätte fragen können, denn heute ist Samstag, da arbeiten nur die Wenigsten. Hauptsache ich bin wieder im Tal gelandet, dann folge ich einfach der Straße bis in die nächste Ortschaft, doch die Ortschaft lässt auf sich warten. Ich laufe also den ganzen Weg, den ich mich vor Stunden hoch gequält hatte erneut oder warum kamen mir manche Kurven so bekannt vor? Laufe ich nun in Richtung Damm oder wieder in Richtung Tempel, gibt es denn hier nicht mal Straßenschilder, die mir Auskunft darüber geben können, auf welcher Straße ich eigentlich laufe? „Namu daishi henjo kongō“, denke ich bei mir, nur nicht fluchen oder die Ruhe verlieren.

Ich quäle mich erneut die Straßen hoch, doch endlich sehe ich ein Haus. Doch leider sind alle ausgeflogen. Als ich klopfe rührt sich nichts im Inneren. Ich wandere weiter, doch ich merke, dass das Wandern ohne das Ziel zu kennen bzw. ohne zu wissen, dass man auf den richtigen Weg ist, ganz schön anstrengend ist. Wenn ich mich früher damit motiviert habe, dass ich das, was ich jetzt am Berg an Höhenmeter erarbeite beim Abstieg genießen kann, weiß ich jetzt nicht einmal weiß, ob ich in die richtige Richtung laufe. Auch dass der Berg meilenweit von der nächsten Stadt entfernt liegt, baut mich nicht gerade auf. Ich fühle mich jetzt wie die nasse Katze von vorhin. Nass, hungrig und allein.

Plötzlich überholt mich ein Auto, aber ich war so im Gedanken versunken, dass ich nicht gleich reagieren kann. Das nächste Auto stoppst du, denke ich so bei mir, und wenn das Bergmonster persönlich am Steuer sitzt. Das schaffst du vor Sonnenuntergang nicht mehr, du bis zu kaputt. Und oh Wunder, mein Bitte wird erhört, obwohl sich meine Bergmonster dann als greiser Japaner herausstellte, der kein Wörtchen Englisch versteht und dessen Japanisch auch mir unverständlich ist und auch das Auto eigentlich zu klein ist, als dass ich mich hätte hineinquetschen können. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Und als der alte Herr, ich hatte ihm berichtet, mich auf dem Rückweg zum Tempel verlaufen zu haben, mich an mein Ziel bring, schießen mir dann doch die Tränen in die Augen. Anstelle mich in der nächsten Ortschaft rauszuschmeißen, hat er mich doch wieder zum Tempel Nr. 20 gefahren!

Aber mal ehrlich - bei den ganzen Kurven, bin ich mir nicht mal sicher, dass wir an der richtigen Seite des Berges entlang gefahren sind. Aber so bedanke ich mich recht herzlich und stehe wieder wie der sprichwörtlich begossene Pudel – Pardon - Kätzchen vor dem Pilgerschalter. Ich klingle und mir wird aufgetan, ich erzähle der netten Frau des Tempeloberhaupts von meiner Odyssee und frage nach Abschluss meiner Erzählung, ob es im Tempel eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Leider nicht, da zurzeit alles renoviert wird. Wenn es dicke kommt, dann extrem! Völlig aufgelöst reicht man mir eine Tasse „Milch- Tee“ und der Tempelvorsteher holt einen Fön, damit ich meine Schuhe trocknen kann. Die Frau ist mit dem Tempelpriester verheiratet. Priestern ist es in Japan nämlich erlaubt zu heiraten, wenn sie nicht gerade das Zölibat geschworen haben. So ein Priester ist ein Ausbildungsberuf wie jeder andere, nach mehrjähriger Ausbildung erhält derjenige, der sich bis zum Ende durchschlägt, sogar eine offizielle Lizenz, die bestätigt, dass er einen Tempel führen darf und mit allen Ritualen vertraut ist.

Auf alle Fälle erklärt mir diese Frau, ich schätze sie so um die 50 (obwohl das bei Japanerin immer recht schwierig ist), dass sie sich in ihrer Jugend auch verlaufen hatte. Sie ist auch auf der Pilgerreise der 88 Tempel gewesen, als sie sich vor Tempel Nr. 13, ich erinnere einen Bergtempel mit steilen Treppen, stundenlang im Wald verlaufen hatte. Sie ist dann auf nette Leute getroffen, die ihr geholfen haben und jetzt möchte sie dies mir angedeihen lassen. Sie fragt mich, ob ich mit ihr und ihrem Sohn einen Onsen (Thermalbad) besuchen möchte. Ein heißes Bad kann nicht schaden, denke ich so bei mir, und wo ein Bad ist, muss doch auch eine Ortschaft sein, wo mit größtem Glück auch ein Hotel zu finden ist. Aber alles der Reihe nach. Wir fahren also mit dem Auto ihres Sohnes zum Onsen. Meine Güte fegt er um die Ecken, das ist wie besagte Achterbahnfahrt. Aber auch der Weg, vom Gefühl fährt er den Weg zurück, den ich mit den anderen Pilgern per Auto absolviert hatte, verläuft hier total verschlungen.

Die Frau erklärt mir, als wir im Onsen eintreffen, dass ich zuerst ein Zimmer beziehen soll, danach werden wir gemeinsam zu Abend essen und uns dann dem heißen Wasser der Thermalquelle hingeben. Mir ist zurzeit alles egal, selbst als sie mir sagt, dass das ein Pilgergeschenk an mich ist, kann ich nicht lange Widerstand leisten und bedanke mich herzlich. Beim Essen plaudere ich mit ihr und ihrem Sohn, er ist der zweitälteste und soll den Tempel mal übernehmen, über die Shikoku Pilgerreise, dass ihr ältester Sohn in den USA als Molekularbiologe arbeitet und wie ich nun mit Hajo zusammenhänge. Nach dem Essen, will ich noch ein Handtuch und frische Wäsche aus meinem Zimmer holen. Der junge Mann gibt mir noch die Telefonnummer von einem „Kult-san“, der viele Sprachen u.a. auch Deutsch sprechen soll und auf dem Koya-san lebt. Da ich weiß, dass die japanischen Bäder je nach Geschlecht getrennt werden, verabschiede ich mich von dem jungen Mann, ihn werde ich heute wohl nicht mehr sehen. Aber mit der Mutter würde ich jetzt gerne zusammen ein Bad nehmen. Ungläubig erklärt sie mir, dass da unten laute nackte Japanerinnen sein werden, die wirklich „splitterfasernackt“ sind. Das ist mir klar, erkläre ich ihr, denn das ist nicht mein erstes Mal in einem japanischen Bad. Als ich dann noch die Begriffe „Ofuro“ (japanisches Bad) und „Sentaku“ (jap. Wäsche wie Waschmaschine) durcheinander bringe, bekommen ihre Augen doch wieder so einen fragenden Blick. Apropos Fragen – ich würde gerne noch wissen, wo ich mich denn hier eigentlich befinde. Aber als ich ihr die japanische Karte hinhalte, findet sie es nicht. Na ja, zur Not kann ich an der Rezeption morgen fragen. Auf ins heiße Ofuro, das habe ich mir heute redlich verdient! Leider trage ich im Bad keine Brille, so dass ich nach den erfolgten Badegängen einer falschen Frau in die Umkleide folge. Ich bin schon fertig, als meine nette Priestergattin schließlich den Umkleideraum betritt und erst da bemerke ich meinen Fehler. Ich bedanke mich nochmals herzlich bei ihr, dabei habe ich schon eine Revanche im Hinterkopf, so ein „Care-Paket“ aus Deutschland zur Weihnachtszeit. Ich verabschiede mich und gehe wieder auf mein Zimmer. In dieser Nacht kann ich wie ein Murmeltier schlafen, da ich mich heute mental wie physisch total verausgabt habe.