Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Sonntag, 13. Juni 2010

Dienstag, 21.04.2009, Zentsūji-City, Yamanote Ryokan

Der 37. Tag in Japan
Auch heute gibt’s das Frühstück um 6.00 Uhr. Die Wirtin hat sich vorgenommen, mich zu mästet, damit ich wenigstens während meines Aufenthalts hier kein weiteres Gewicht verliere. Mir wird schon zu Frühstück ein Salat mit Extra Wursteinlage serviert. Ich glaube, dass Japaner meinen, wir Ausländer würden Würste lieben. Aber da die japanischen „Wurstimitate“ kaum mit guten deutschen Bockwürsten oder Wienern zu vergleichen sind, es fehlt ihnen meist der Rauchgeschmack, kann ich mich mit solchen Geschmacksproben nicht anfreunden. Da genieße ich lieber die traditionelle japanische Küche. Leider muss ich mich jetzt loseisen, ich wäre noch gerne geblieben, aber die Tempel rufen. Auch das Wetter verspricht besser zu werden als gestern angekündigt – von wegen Regen! Bei der Wirtin berappe ich nochmals 7850 Yen, bekomme aber zwei Kaffee Bonbons und ein Päckchen Taschentücher. Sie erklärt mir, dass jetzt die Kirschblüte ein Ende hat und von der Azaleenblüte abgelöst wird. Auf meine Frage nach den Schulkindern mit Uniformen erläutert sie mir, dass Mädchen meist rosa oder rote Schultaschen tragen, während Jungen die Farbe Schwarz bevorzugen. So etwas Ähnliches war mich schon damals bei den Identifikationskarten meiner japanischen Firma aufgefallen. Während alle japanischen Frauen rote Bänder gewählt hatten, um die Karten um den Hals zu tragen, bin ich die einzige gewesen, die wie die Männer ein blaues Band bevorzugt hat. Blau und Grün sind meine Lieblingsfarben, als Kind habe ich wohl zuviel Rot, Rosa und Pink getragen, so dass ich diese Farben heute nicht mehr ausstehen kann.

Aber zurück zum Ryokan, wo ich noch ein Foto von dem kleinen Zimmerbrunnen mache, der hier direkt am Eingang steht. Ob das der chinesischen Lehre von „Wind und Wasser“, auch Fengshui, entspricht, welche die positiven Energien im Haus halten soll oder nur zur Zierde dient. Auf alle Fälle wäscht die Wirtin hier die Wanderstöcke der Pilger. Da der Stock den Fuß von Kōbō Daishi symbolisiert, kann man so gutes Karma ansammeln und verhindert nebenbei, dass die Pilger Dreck ins Haus bzw. in die Ziernische (tokonoma) schleppen, wo der weitgereiste Stock üblicher Weise deponiert wird. Ich habe mich darauf beschränkt den Stock mit dem Hut immer an der Tür meines Zimmers zu deponieren, damit ich ihn auch ja nicht vergessen, nachdem ich meinen großen Rucksack geschultert habe. Ich muss jetzt weiter und verabschiede mich von meiner „Ryokan Mutter“, die sich so rührend um mich gekümmert hat. Die paar Kilometer (ca. 4 km) bis zum Konzōji Tempel sind schnell gelaufen.

Exkurs Tempel Nr. 76 Konzōji (金倉寺)
„Der Tempel des goldenen Speichers“ wurde 774 ursprünglich unter dem Namen Dō-zen-ji (Weg + Güte + Tempel; „Tempel des Weges der Güte“) von einem Mann namens Waki Dōzen gegründet. Es ist der Geburtsort von Kōbō Daishis Neffen Enchin (auch Ehrentitel Chishō Daishi; 814-891), der später 6. Patriarch der Tendai-Schule des Buddhismus werden sollte. Dementsprechend ist der Tempel auch heute noch unter Führung der Tendai. Im frühen 9. Jahrhundert, nachdem Kōbō Daishi in China studiert hatte, kam er hierher, um für seine Ahnen zu beten. Er schnitze die Statue des Yakushi Nyorai und weihte ihm den Tempel. Auch Enchin zog es nach China, wo er sich allerdings dem Tendai widmete. Dementsprechend gestaltete er diesen Tempel nach dem Vorbild des Grünen Drachen Tempels (Ching-Lung-ji) in Chang-an. 928 wurde der Tempel auf Geheiß des Kaisers Daigo (885-930; 60. Tennō) in Konzōji umbenannt, er hatte mittlerweile eine Größe von 132 Gebäuden und 32 km2 erreicht. Nachdem der Tempelkomplex im 16. Jahrhundert niederbrannte, wurde er in kleinerem Umfang von Matsudaira Yorishige (1622-1695), Herrscher über die Provinz Sanuki, wiederaufgebaut. Nur die Yakushi Nyorai Statue sowie ein berühmtes Selbstbildnis Enchins überstand dieses Feuer, bei dem 1983 der Oberpriester getötete worden ist. Berühmt ist der Konzōji aber auch für die „Tsuma ga eshi no matsu“, „die Pinie, welche die Ehefrau zurückhielt“. Gemeint ist damit Shizuko, die Ehefrau des Generals Nogi Marsuke, der im Konzōji drei Jahre untergebracht war. Er hatte im „Japanischen Bürgerkrieg“ (1877) für den Kaiser gekämpft und war berühmt für seine Einnahme von Port Arthur im Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905). Warum er hier die lange Zeit untergebracht war verschließt sich meiner Kenntnis, da das Ehepaar aus Tokyo stammt. Die Ehefrau kam aber unangemeldet angereist, um ihren Mann zu besuchen. Er aber wollte sie nach Hause schickten, doch als sie unentschlossen an der Pinie vorbei kam, setzte sie sich in ihren Schatten. Nach einiger Zeit des Überlegens, entschloss sie sich, die Nacht in einem Hotel in Tadotsu zu verbringen. Es sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass beide am 13.09.1912 Suizid durch rituellen Selbstmord (Seppuku) gegangen haben, um dem verstorbenen Kaiser Mutsushito („Meiji“, 122. Tennō ) in den Tod zu folgen. Andere Länder – andere Sitten!

Das Gelände des Konzōjis ist weitläufig und überall kann man Details finden, die man sonst in keinem anderen Tempel findet. Es gibt hübsche Dachreiter, ich sehe eine Statue eines Yambushi (Bergasketen) und eine Daikoku (einer der 7 Glücksgötter) Figur, die man passend zum Tempelnamen eigenhändig vergolden kann. Aber auch ein kleiner silberfarbener Jizō und die Statue eines älteren Herr, es ist wohl nicht der Neffe des Daishi Enchin, haben es mir angetan. Letztere Statue ist mit Haori (jap. kurze Jacke) und Hakama (jap. Hosenrock) bekleidet. Übertragen auf Europa, würde man sagen, er trägt einen Ausgehanzug, eben die traditionelle Kleidung eines Japaners. Da er keine Glatze trägt und auch sonst nicht an einen Mönch erinnert, könnte dies General Nogi sein. Da ich aber nicht so ganz den Blick für japanische Gesichter geschärft habe, bin ich mir nicht sicher. Denn auch im Netz gibt es die Information, dass es in der letzten Stadt Zentsūji den Kagawa-Ken-Gokoku-Schrein gibt, der zu Ehren von General Nogi errichtet worden ist. In der Karte kann ich nur den Kasuga Schrein finden, der in der Nähe von Tempel Nr. 74, dem Kōyamaji, liegt. Aber zumindest bin ich mir sicher, dass ich die besagte Pinie gesehen habe, da sie von einem Steinzaun eingefasst und mit Infotafeln bestückt ist. Erwähnen möchte ich noch den Perlen-Gong, der hier vor einer Halle anstelle des normalen Gongs (waniguchi) hängt. Wenn man an der Strippe zieht, werden große Holzperlen bewegt, die dann mit einem lauten Knall aufeinanderschlagen. Ein Geräusch, dass ich schon von Weitem gehört habe, es aber nicht einzuordnen wusste bis ein Pilger das Teil vor meinen Augen betätigt. Von den vielen hübschen Ema Täfelchen schieße ich Fotos. Ich habe noch nie einen Tempel oder Schrein besucht, in dem so viele verschiedene Motive gab. Normaler Weise zeigt so ein Votivtäfelchen, auf das man einen Wunsch schreiben kann, eines der 12 Horoskop Tiere des jeweiligen Jahres (2010 – Tiger!) oder eine Szene aus einer Legende, die irgendwie mit der Örtlichkeit zu tun hat. Aber hier hängen viele verschiedene. Auch das Wildschwein, das laut Kalender eigentlich im Jahr 2006 dran war, hängt hier noch, obwohl am Jahresende die Täfelchen ihre Schuldigkeit getan haben und ebenso verbrannt werden, wie die Talismane, die man im letzten Jahr gekauft hatte. Das sich so ein Glücksbringer mit der Zeit „entläd“ bzw. die enge Verbindung mit seinem Träger ist weitverbreiteter Glaube in Japan und beschert den Tempeln und Schreinen einen alljährlichen Kaufrausch in den ersten Tagen des neuen Jahres. Wer will schon ungeschützt das neue Jahr beginnen?

Jetzt führt mich mein Weg wieder zurück zu der Stelle, an der ich vor drei Tagen vorbeigekommen bin, da ich jetzt Bangai Nr. 18 besuchen möchte. Auf dem Weg dorthin, kurz hinter dem Tempel Nr. 76, fällt mir eine alternative Pagode auf: Es handelt sich um ein Betontürmchen, welches mit vier balkonartigen Geländern umgeben ist. Da ist mir die traditionelle Pagode aus Holz, die zwar abbrennen kann, dann doch lieber. Aber wer modernes Design mag, sollte sie nicht verpassen. Ich wandere am Takamatsu Expressway (Autobahn) entlang, biege an einem Sunkus Kombini (24-h-Shop) ab und muss dann wieder auf meine japanische Karte ausweichen. Ich finde nicht ein Henrozeichen auf der ganzen Strecke. Nicht einmal eine Pilgerhütte, die einen sehr neuen Eindruck auf mich macht, ist hier verzeichnet. Von Ferne kann ich eine Pagode erkennen, aber ich werde enttäuscht, da diese zu einem Tempel gehört, der nur einige hundert Meter entfern vom Kaiganji (Bangai Nr. 18) liegt. Ich laufe noch an einer Schutzanlage vorbei, die man wohl bei zu heftigem Seegang absenken kann, damit der Fluss nicht über die Ufer tritt und schon stehe ich vor dem Tempeltor. Dieses Tor ist eine große Besonderheit auf der Shikoku Pilgerreise, denn hier dienten lebende Sumoringer als Vorbild für die Wächterstatuen (niō oder deva) des Tors (niōmon). Was für eine Ehre so für die späteren Generationen in Erinnerung zu bleiben. Sumo Ringen ist zwar der Nationalsport in Japan schlechthin, aber wie so viele Traditionen verlieren die jungen Japaner das Interesse, ihre alte Kultur zu pflegen. Nicht nur die Zuschauerzahlen sinken, auch das Berufsbild des Ringers, das geprägt ist von täglichen Training und der strengen Hierachie in den Sumoställen, passt wohl nicht mehr ins Bild eines jungen Japaners, der lieber als Saleryman (jap. Geschäftsmann) sein Geld verdienen möchte. Mal ganz abgesehen von körperlichen Voraussetzungen, die mit spezieller Kost erlangt werden und dazu führen, dass die aktive Kampfphase eines Sumotori (Sumoringer) nur wenige Jahre dauert. Was früher mal als Opfergabe an die Götter (kami) galt und tief im shintoistischen Glauben verwurzelt ist, wird heute sechsmal im Jahr als sogenanntes Basho (Turnier) ausgetragen.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 18 Kaiganji (海岸寺)
„Der Tempel der Meeresküste“ bzw. „Strandtempel“ könnte man diesen Tempel auch nennen, der von Kōbō Daishi gegründet worden und Shō Kannon geweiht worden ist. Leider gibt es über die Bangai-Tempel (Nebentempel) nur wenige Infos im Netz. Aber hinterher ist man meistens schlauer und so halte ich den Komplex mit der Pagode für einen anderen Tempel. Mir war zwar aufgefallen, dass der Kaiganji doch recht klein ist, hier direkt am Strand, hatte das aber darauf zurückgeführt, dass nebenan gleich eine Jugendherberge liegt. Auch so kann man das Tempelbudget aufbessern, wenn man nicht nur Pilgerunterkunft (shukobō), sondern für die „Saure-Gurken-Zeit“ im Sommer bzw. Winter auch jungen Japaner Unterkunft anbietet. Ich erfahre aus einer Zusammenstellung der 20 Banagai Tempeln, die ich vom Sohn des Tempeloberhaupts von Bangai Nr. 20 erhalten habe (Story folgt bei Bangai Nr. 20!), dass auch der Komplex mit Pagode zum Kaiganji gehört. Er gilt wohl als „Inneres Heiligtum“ (okunoin) vom Kaiganji und ist somit der „Berganteil“ des Tempels. Er soll 733 erbaut worden sein und gilt als Geburtsort von Kōbō Daishi, wenn dies nicht schon der Zentsuji für sich beanspruchen würde. Auf alle Fälle soll der Daishi hier, nach seiner Rückkehr aus China, das erste Mal eine Technik des Shingon Buddhismus angewandt haben, um eine grassierende Krankheit zu heilen. Der Daishi soll hier auch am Berg hinter dem Tempelkomplex Sutren vergraben haben, um das Land zu reinigen. Aber wie gesagt - ich hab es nicht gewusst und stattdessen eine Erkundungstour zum Strand gemacht. Im Tempel hier am Strand ist die Halle wie ein kleiner Supermarkt für Pilgerutensilien gestaltet. Die Buddha Figuren oder sind es Absaras (buddhistische Engel), die hier an der Wand hängen, wirken auf mich wie Galionsfiguren, da ihre Körper schräg nach vorne verlaufen. Ich habe zwar noch nie ein japanisches Schiff mit Galionsfigur gesehen(, mit Ausnahme der Nippon Maru, ehemaliges Segelschulschiff, das nach europäischen Vorbild gebaut, heute in Yokohama als Museumsschiff dient,) aber vielleicht war das bei größeren Schiffen oder in alten Zeiten gebräuchlich? Im Tempelgarten kann ich die 13 Buddhas des Shingon Buddhismus bewundern, die 7 Glücksgötter sind hier auch versammelt, aber am beeindruckensten finde ich hier die Gartenlaube. Das klingt jetzt so profan - klein und hölzern, aber hier in Japan werden Lauben aus Gestängen gebaut, die mit Blauregen oder ähnlichen Rankengewächsen „begrünt“ werden. So ein lebendes Dach mit Ästen, Blättern und Blüten und allem Getier, was da so kreucht und fleucht. Die Laube ist aber 20 m lang, hat noch ein schützendes Dach an der Seite, da die Pflanzen noch nicht allzu dicht gewachsen sind.

Jetzt muss ich mich aber wieder auf den Weg machen, da ich heute noch bis mindestens Tempel Nr. 77 kommen will. Die Straße führt mich hier direkt an der Küste entlang, ich folge der Straße Nr. 21 durch einen Hafen, an einem Schrein vorbei. Als ich auf ein europäisch wirkendes Haus treffe, vor dem noch dazu ein Elch im vollem Galopp mit einem Kind zwischen den Schaufeln als Statue verewigt ist, bin ich etwas ratlos. Vor einem Geschäft steht ein Papagei und das nächste merkwürdige Gebäude scheint das lokale Heimatmuseum zu sein, da ich unter einem Unterstand eine zerlegte Feuerspritze ausmachen kann. Ich sehe ein Postamt und versuche mein „Übergewicht“ in Form eines Päckchens nach Deutschland loszuwerden. Das ist Post, die erste Episode, aber gefehlt - der Typ am Schalter will einfach nicht kapieren, dass ich auf Ferien hier in Japan bin. Er will unbedingt eine japanische Adresse haben! Als ich den Ryokan in Zentsūji eintrage, genügt ihm das nicht, weil ich dort nur zwei Tage übernachtet habe. Gewissenhaft wie ich bin, zeige ich ihm, dass ich weder etwas Wertvolles noch was Gefährliches verschicken will. Insgesamt präsentiere ich ihm den Inhalt meines potentiellen Pakets dreimal. Aber der Typ telefoniert nur minutenlang herum und kommt zu keinem Schluss. Jetzt habe ich echt einen Hals, mit Engelszungen habe ich jetzt eine Halbe Stunde auf ihn eingeredet und mein Gepäck habe ich ganz umsonst auseinandergerissen! Verärgert packe ich meine Sachen und mit einem „domo arigatō gozaimashita“ (herzlichen Dank) und einer Verbeugung verlasse ich diesen Vorposten der Bürokratie. Himmel, warum spreche ich nur so wenig Japanisch, aber ich glaube das hätte mir auch nicht weitergeholfen. Japaner halten sich immer streng an die Vorschriften, rufen bisweilen den Vorgesetzten, würde aber nie etwas selbst entscheiden, wenn mal was Unverhofftes eintritt. Ich laufe weiter und bin dann ganz schön verblüfft: Wenn man der Meinung ist, dass man auf der Straße Nr. 21 läuft und dann entsetzt feststellen muss, dass es eine zweite Nr. 21 gibt, die noch dazu fast parallel zur ersten verläuft. Was es jetzt meine Verärgerung über den missglücken Versuch, meine Wandergewicht zu minimieren, oder allgemeine geistige Erschöpfung? Wie soll man sich denn da orientieren? Aber zum Glück verkündet mir ein blaues Straßenschild, dass es jetzt noch 200 m bis zum Dōryūji Tempel sind. Schwein gehabt!

Exkurs Tempel Nr. 77 Dōryūji (道隆寺)
„Der Tempel des sich ergebenden Weges“ wurde ursprünglich von Wake Michitaka 749 gegründet. Er wollte dafür Buße dafür tun, dass er aus Versehen seine Amme mit Pfeil und Bogen getötet hat, weil er eines Nachts auf ein seltsames Licht geschossen hatte. Er war es auch, der eine kleine Figur von Yakushi Nyorai aus Maulbeerbaum als Honzon (Hauptgottheit) für den Tempel geschnitzt hat. Im 9. Jahrhundert weilte Kōbō Daishi hier, schnitzte eine 75 cm große Statue von Yakushi Nyorai, in die er die kleinere von Michitake verwahrte. Waki Chōyu, zweiter Oberpriester des Tempels vergrößerte den Tempelkomplex, dem Wunsch seines Vaters Michitake entsprechend, um 23 Gebäude und nannte den Tempel fortan „Dō ryūji“. Hierfür verkaufte er die Maulbeerbaumfarm seiner Familie, die zur Gewinnung von Seide aus Seidenraupen genutzt wurde, und all sein Hab und Gut. 976 wurden die Tempelgebäude durch ein Erdbeben zerstört, im 16. Jahrhundert durch Feuer. In der Meiji-Zeit (1868-1912) wurden Reparatur- und Restaurationsarbeiten durchgeführt und 1985 die zweistöckige Pagode gebaut. Man kann neben der Haupthalle (hondō) eine Statue von Kōbō Daishi und Emon Saburo, der die Pilgerreise begründet hat, finden. Es gibt hier aber auch 270 Bronzestatuen von Kannon und der „Fünf Wächter“, die Enchin (814-891), dem Neffe des Daishi, zugeschrieben werden. Der Daishi selber soll ein Bild der „Fünf Heiligen“ gemalt haben und auch ein Bild des „Stern Mandala“ gelten heute als „Wichtiges Nationales Kulturgut. Streng genommen gehört der Tempel heute als Dai-Honzan („Großes Hauptquartier“) zum Daigo-ha Zweig des Shingon, also dem shintoorientierten Shugendō (Bergasketentum). Doch seit Chishō (Neffe des Daishi, Tendai Oberpriester) hier jährlich das Lesen der „Lotus Sutra“ abgehalten hat, wurden immer wieder, sowohl Tendai als auch Shingon, Priester auf kaiserlichen Befehl hierher geschickt, um gemeinsam den Buddhismus zu studieren. Bemerkenswert sind hier die riesigen Strohsandalen (waraji) am Eingangstor. Im Tempelführer wird ebenfalls erwähnt, dass in der Nähe, Tadotsu Town, der Kaiganji Tempel (Bangai Nr. 18) liegt, der Ort an dem Kōbō Daishi zur Welt gekommen sein soll, wenn dies nicht schon der Haupttempel Nr. 75 (Zentsūji) beanspruchen würde. Des Weiteren wird das Shōrinji Dōjō erwähnt, welches besonders für Kampfsportinteressierte von Bedeutung sein könnte, da es das Hauptquartier dieser „Shōrinji Kempo“ genannten Stilrichtung des Karate bzw. Kempos (mehr China-lastige Ausprägung des Karate) ist. Sie wurde 1947 von einem Mann namens Doshin So in der Stadt Tadotsu begründet, der die Kampfkunstwurzelt an ihren Ursprüngen in China studierte. Sie vereinigt die verschiedenen chinesischen und japanischen Kampfkunsttechniken und die Lehre des Buddhismus bzw. Bodhidharmas, dem legendäre Kampfmönch, der die Kampfkunst von Indien nach China (Shaolin Kloster!) gebracht haben soll, zu einem ganzheitlichen System.

Der Tempel liegt direkt an der Hauptstraße, weder Wald noch ein Weg in die Berge trennen den Tempel vom städtischen Leben. Es gibt hier zwar große Bäume, aber der Komplex ist von fast von allen Seiten zugänglich. Es gibt eine kleine Pagode auf deren Vorplatz, auf dem sich eine Horde Tauben niedergelassen hat. Ich sehe eine große, zentrale Kannon Statue und auch den vor dem Daishi knienden Emon Saburo. Aber dass es hier irgendeinen Zusammenhang mit Kampfsport geben soll, bleibt mir verborgen. Aber hier ist auch vieles hinter Glas, man kann meist nicht viel erkennen. So auch der Binzuru, der ehemalige Jünger Buddhas, der bei Berührung die Schmerzen aus entsprechenden Körperteilen verschwinden lassen soll. Hat man hier in Japan noch nichts von Entspiegelung gehört? Beeindruckend sind hier die vielen, kleinen Kannon Statuen, die jeweils ausgestattet mit Jizō -Lätzchen, gelber Halskette und weiteren Ketten um Arm und Hand, eine richtige „göttliche Armee“ formieren, wenn es nicht gerade 88 sind und den Tempeln des Pilgerwegs entsprechen würden. Unter einem großen Baum steht noch ein kleiner Schrein. Ich mache eine kleine Pause. Der Himmel sieht sehr nach Regen aus, aber solange es nur bewölkt ist, soll es mir recht sein, dann ist es wenigstens nicht so warm. Auf der Toilette begegne ich noch einem kleinen Teufel aus Ton – „Oni“ werden diese gehörnten und spitzzähnigen Kameraden genannt. Eine süße Verniedlichung der in anderen Darstellung doch sehr wild und Schrecken erregenden Sagengestalten der japanischen Mythologie, die alljährlich zum Setsubunfest, Anfang März, mit einer Hand voll Sojabohnen des Hauses verwiesen werden. Ich verlasse den Tempel und mein Weg führt mich weiter die Straße Nr. 21 entlang. Ich komme in die Stadt der runden Schildröte, wie Marugame in der Übersetzung heißen könnte. Stadt der tobenden Winde fände ich passender, da ich hier das erste Mal meinen Hut abnehmen muss, damit ihn der Wind, der sich hier in den Hochhausschluchten sammelt, nicht von Kopf reißen kann. Dabei ist die Stadt doch berühmt für ihre Burg, Papierfächer und ein Museum mit Gegenwartskunst. Aber das lasse ich alles links liegen, weil ich rechts ein Postamt sehe. Mit dem Stoßgebet der Pilger „namu daishi henjo kongō“ betrete ich das Postamt und werde angenehm überrascht. Postamt, die zweite Episode: Der Bürovorsteher lässt seine Mädels auf mich los und die Kommunikation läuft fantastisch. Am Ende schicke ich nicht nur mein Übergewicht per preiswerterer Seepost nach Deutschland, sondern lasse mir von den netten Damen sogar noch ein Briefmarkenbuch mit den 88 Tempeln von Shikoku andrehen. Ich bezahle 2500 Yen für mein Päckchen und werde noch von den Damen erinnert, dass ich den Preis der Briefmarken noch zum Gesamtwert auf der Zollerklärung ändern muss. Der Tag ist gerettet – ich bin glücklich, die Damen und der Vorsteher sind glücklich, alles könnte so einfach sein, wenn ich von den Mitgliedern der Japanischen Post nicht noch ein Pilgergeschenk erhalten würde: ein Baumwolltuch (tenugui) mit dem Logo der Japanischen Post. Haha!

Ich eile, um noch vor 17.00 Uhr zum Tempel Nr. 78, dem Gōshōji, zu kommen. Kurz hinter dem Tempel liegen zwei Unterkünfte, von denen ich zur Not auch morgen noch zurücklaufen könnte, aber ich habe Glück.

Exkurs Tempel Nr. 78 Gōshōji (郷照寺)
„Der Tempel der leuchtenden Heimat“ soll ursprünglich unter dem Namen „Dōjōji“ 725 von Gyōgi (668-749) gegründet worden sein, der auch die Figur des Amida Nyorai für den Hondō (Halle der Hauptgottheit) geschnitzt haben soll. Im 8. Jahrhundert weilte Kōbō Daishi hier, um den Tempel wiederaufzubauen. Zwischen 877 und 885 brannte der Tempel nieder, um 1288 von Ippen (1239-1289) wiederhergestellt zu werden. Der Wanderpriester Gyōgi begann hier vom „Reinen Land“ Amidas zu predigen und als die Einwohner seine Lehre annahmen, nannte er den Tempel in „Gōshōji“ um und machte ihn zu einem Tempel des Nembutsu. Nembutsu beschreibt die Anrufung des Buddha Amida, des Buddhas des „Reinen Landes“, mit den Worten „Namu Amida Butsu“. Der Gläubige soll nur durch Glaube und rezitieren dieser Wortformel (Mantra) im Paradies von Amida wiedergeboren werden, aus dem er, befreit von den alltäglichen Sorgen, den Übergang ins Nirvana (Auflösen; Ausbruch aus dem Rad der Wiedergeburten) vollziehen kann. Zwischen 1333 und 1573 erblühte der Tempel auf sieben Hallen unter dem Schutz des lokalen Hosokawa Klans, brannte jedoch dann nieder. Erst 1664 wurde er vom 1. Herrscher von Takamatsu, Matsudaira Yorishige, wiederaufgebaut. Bemerkenswert ist, wie erwähnt, dass dieser Tempel der einzige auf der Pilgerreise ist, der dem „Reinen Land“ (Jishū) Buddhismus zugerechnet wird. Das soll aus einem Streit der Shingon Buddhisten am Koyasan (Hauptquartier in den Kii-Bergen) mit umherwandernden Laienpriestern zu tun haben, der so heftig wurde, dass er vor dem Shogun (militärischer Machthaber Japans) geschlichtet werden musste. Die Laienbrüder wurden nach Shikoku geschickt, um eben bei diesem Tempel ihre Riten auszuüben. Im Daishidō (Daishi-Halle) gibt es eine Daishi Statue, Yakuyoke Utaszu Daishi genannt, und wie man am ersten Wort erkennt, kann man hier sein Unglück abwenden (yakuyoke). Neben der Daishihalle liegt der Eingang zur Mantai Kannon Halle, in der 40.000 silberne Statuen von Kannon stehen, die aus ganz Japan stammen. Neben der Haupthalle (hondō) in der Kōshin Halle kann man die Shomen Kongo Gottheit sehen, deren Anbetung vor Krankheit schützen soll bzw. eine schnelle Genesung verspricht. Diese blaugesichtige und 6-armige Statue wird von 3 Affenstatuen begleitet. Sie verkörpern die berühmten Affen, die man auch im Toshogū Schrein in Nikko bewundern kann, die weder Böses sehen, hören noch aussprechen. Nach buddhistischer Auffassung wohnen nämlich jedem Menschen Würmer inne, die nach dem Tod über die Sünden desjenigen berichten und diese „Petzen“ sollten dem Vorbild dieser „Drei Weisen Affen“ folgen. Und dann gibt es noch eine schöne Legende, warum die Glocke des Tempels einen so weitreichenden Klang hat. Als sie gegossen wurde, soll ein eigenartiger Fremder ein Pulver ins flüssige Metall geworfen haben, so dass die Glocke jetzt alle Glocken neben ihr übertönen kann.

Der Gōshōji liegt hier am Hang des Aono Berges, ich muss mich hier den Berg hinauf durch eine Wohnsiedlung quälen und aufpassen, dass ich nicht versehendlich im Akiba Schrein lande. Nachdem ich ein einfaches Tor (sanmon) durchschritten habe, finde ich mich auf dem eigentlichen Tempelgelände wieder. Von hier habe ich erstmal einen fantastischen Blick auf die Inlandssee (Setosee), vorbei am Häusermeer kann ich vorgelagerte Inseln und eine große Brücke sehen. Außer den Dachreitern kann ich leider keine weiteren Affen ausmachen. Aber der Gang vor der Tempelhalle, von der links nach unten in die Kannon Halle geht, weist diese hübschen Deckentäfelchen auf. Doch die ausnahmslos floralen Motive sind nicht nur gemalt, nein, es handelt sich um Schnitzereien, die nachträglich koloriert wurden. Beeindruckend ist auch die Mantai Kannon Halle, eigentlich hätten es auch Amida Figuren sein können, aber in der Dunkelheit dieses mäßig beleuchteten Kellers kann man nur die goldglitzernen Ministatuen erkennen, die hier in mehreren Stufen, dichtgedrängt auf den Borden angesammelt haben. Aber auch das weitläufige Gelände ist einen Besuch wert, da es hier einen Koi (jap. Karpfen) Teich gibt, an den sich ein Azaleen Gärtchen anschließt. Auch die sorgfältig geharkten, grauen Steine runden die gepflegte Anlage ab. Eigentlich Peile ich das Business Hotel Utara an, nachdem ich jedoch eine Brücke überqueren muss und den richtigen Weg nicht gleich finde, lande ich dann doch im Ryokan Sanuki. Als ich das Haus betrete, fällt mir sofort das Essen, das schon im Speisesaal auf dem Tisch steht auf. Eigentlich etwas früh, um das Abendessen schon, so ohne Kühlung, herum stehen zu haben. Aber ich beziehe erstmal mein Zimmer am Ende des Ganges. Kein richtigen Schlüssel und die Fenster kann ich auch nicht richtig schließen. Der Wind bläst zwischen den Ritzen durch und lässt mich erst in Ruhe, als ich die Zwischentür schließe. Glücklicher Weise habe ich ein eigenes Badezimmer, doch zuvor genieße ich Eistee und Kastella Kuchen (portugiesischer Topfkuchen), der hier schon für mich bereitgestellt worden ist. Ich werde für Übernachtung Frühstück und Abendessen 6000 Yen berappen und finde mich zum Abendessen als einzige Frau unter lauter japanischen Handwerkern wieder. Kein „Schickimicki Ryokan Abendessen“, sondern solide japanischen Hausmannskost mit viel frittierter Panade und noch mehr Reis.

Montag, 20.04.2009, Kagawa, Zentsūji City, Yamanoto Ryokan

Der 36. Tag in Japan
Das Frühstück gibt es heute schon um 6.00 Uhr, denn die Wirtin weiß, dass Pilger immer früh raus müssen. Es fällt wie immer etwas mager aus, aber dafür ist das Abendessen umso reichhaltiger gewesen. Da ich nun weitere Pläne beschmiedet habe und anfangs nur nach einer Übernachtung gefragt hatte, kläre ich mit der Wirtin, ob ich noch eine weitere Nacht bleiben kann. Ich will heuten den Bangai Tempel Nr. 17 besuchen, der mit Hin- und Rückweg mich um die 24 km kosten wird. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klatsche, da ich dann auch mein Gepäck hierlassen kann. Ich bezahle also erstmal die 7725 Yen für die gestrige Nacht und bekomme sogar noch ein Päckchen Taschentücher und zwei Bonbons geschenkt.
Als ich an diesem Morgen durch das fast menschenleere Zentsūji laufe, begegnen mir nur einige „Gassigeher“ mit ihren Hunden. Es ist ganz schön schwer den Weg zu finden, da mich mein Weg an den Bahnschienen entlang führt, hierzu muss ich aber erst mal blicken, wie ich auf die andere Seite der Schienen komme, da es hier keinen einfachen Bahnübergang, sondern so eine Brücke mit mehreren Ebenen gibt. Nachdem ich einen Tunnel, der über Treppen nach unten geht, durchwandert habe, finde ich mich auf der richtigen Seite wieder. Meine erste Rast mache ich dann bei einem Circul-K (24-h-Shop), der etwas außerhalb der Stadt liegt. Hier werde ich auch gleich von einem Japaner angesprochen, der mir auf seinem Handy seine Familienfotos, die Kirschblüte und die Tempel zeigt, die er von den 88 bisher besucht hat. Er kramt noch eine Fahrkarte von der Seilbahn bei Tempel Nr. 66 hervor und ich grinse ihn an, denn die habe ich auch benutzt.

Ich laufe jetzt nach japanischer Karte, da das englischsprachige Kartenmaterial mal wieder kurz hinter der Stadtgrenze endet. Aber der Weg verläuft gerade an den Bahnschienen entlang bis Kotohira. Verkehrsschilder weisen mich immer wieder auf den berühmten Schrein hin. In der japanischen Karte ist sogar ein Lageplan von den Schreingebäuden zu finden, während er in der englischen Karte keine Erwähnung findet. Aber zum Glück führt mich mein Weg direkt durch die Stadt, mir fallen die großen Bettenburgen auf, in denen die Schreinbesucher untergebracht sind, und laufe dann auch fast direkt am Eingang des Schreins vorbei. Den werde ich besuchen, wenn ich heute Nachmittag wieder zurückkomme, denke ich so bei mir, bei den vielen Treppen, muss ich meine Kräfte etwas sparen und erstmal meine Pilgerverpflichtungen erfüllen. Leider gibt es hier in der Stadt nur ganze zwei Henrozeichen, aber ich weiß so ungefähr die Richtung, und die Brücken, die ich überquere, merke ich mir besonders. Ich hasse Rückwege, da man schon alles auf dem Hinweg gesehen hat, verdaddelt man sich häufig, wenn man nicht aufpasst. Aber das Wetter ist gut, d.h. so richtiges Wanderwetter – es ist etwas dunstig, so dass es warm ist, ohne dass einem die Sonne auf den Pelz brennt. In der Stadt fallen mir an Mauern kleine Aufkleber auf – anscheinend gibt es hier eine Hundemarken, sondern Aufkleber für jedes Jahr. Vorbei an Steinfiguren, die wie die Steinköpfe von den Osterinseln wirken, wandere ich weiter. Ich sehe noch eine Feuerwehrwache und in der nächsten kleinen Ortschaft mache ich an einer Kreuzung vor einem Schrein eine weitere Pause. Das ist heute so eine richtige Flachlandetappe, aber kurz vor meinem Ziel muss ich noch einen Hügel überwinden, da es zum Manoike Reservoir hoch geht.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 17 Kannoji (神野寺)

Der Bangai Tempel hier lässt sich mit den Symbolzeichen (Kanji) für „Gott“, „Feld“ und „Tempel“ übersetzen. Aber da ich keine exakte Übersetzung finden konnte, muss ich mit dem Namen „Gottesfeld Tempel“ zufrieden geben, obwohl er, direkt am Mannoike Wasserreservoir gelegen, alles andere als an Feldern liegt. Das Wasserreservoir ist mir schon früher begegnet, bei Tempel Nr.74 (Kōyamaji) dessen Bau der Daishi aus dem Verdienst für die Umgestaltung des Mannoike finanzieren konnte. Unser Kōbō Daishi ist nicht nur in spiritueller Hinsicht ein Menschenretter, neben seinen viele Talenten in den bildenden Künsten, konnte er nach dem Umbau des flutgefährdeten Reservoirs auch noch Ingenieur, heute würde man es ihn als Projektmanager bezeichnen, zu seinem Lebenslauf hinzufügen. Natürlich kamen mehr Spenden und Arbeiter zusammen, wenn man mit Kōbō Daishis Hilfe und seinen Ritualen auch noch Buddhas Beistand auf seiner Seite hatte.

Der Bangai Tempel ist dann doch etwas enttäuschen. Während andere Bangais durchaus große Anlagen und Gebäude aufweisen, besteht dieser Tempel nur aus einem einzigen, kleinen Gebäude, in dem Tempel und Büro untergebracht sind. Sehenswert ist dafür die große Kōbō Daishi Statue, die hier über das Wasserreservoir blickt. Es gibt hier kein Tempeltor, dafür aber einen Getränkeautomaten. Tolle Begrüßung denke ich so bei mir, doch im Pilgerbüro habe ich einen aufmerksamen Bewunderer meines Pilgerbuchs (nokyocho), der mich gleich fragt, ob ich Tempel Nr. 16 vergessen hätte. Nein antworte ich, der Eintrag von Nr. 16 ist ganz am Anfang der Bangai Tempel, die Stelle, die ich eigentlich für Bangai Tempel Nr. 1 vorgesehen hatte. Ich mache noch eine Runde durch den Tempelgarten. Wenn es die richtige Zeit gewesen wäre, hätte ich hier Pfingstrosen und Rhododendren in voller Blüte genießen können, so sind aber nur vereinzelt Blüten zu sehen. Es gibt hier auch eine Gruppe von Buddha Figuren, die wohl dem japanischen Horoskop zugeordnet sind. Das japanische bzw. chinesische Horoskop weist den Menschen nicht nach dem Monat, in dem sie geboren sind, symbolisch ein Tier und dessen Stärken bzw. Schwächen zu, sondern nach dem Jahr. So dass jeweils alle Personen, die im gleichen Jahr geboren worden sind, zum gleichen Tier gehören. Zu diesen zählen: die Ratte, der Büffel, der Tiger, der Hase, der Drache, die Schlange, das Pferd, das Schaf, der Affe, der Hahn, der Hund und das Schwein. Die Auswahl dieser Tiere geht auf eine Legende zurück, nach der Buddha diese Tiere zum Neujahrsfest eingeladen hatte. Ihnen wurde nach der Reihenfolge des Eintreffens die Ehre zuteil, das Symboltier eines ganzen Jahres zu werden. Die Ratte kam als erstes dran, das sie bis zu ihrem Ziel auf dem Büffel geritten war und erst kurz vom Ziel über dessen Kopf zu Buddha sprang. Sie hatte jedoch der Katze zuvor erzählt, dass das Treffen erst einen Tag später abgehalten würde, daraus resultierte, dass die Katze zu spät kam und seit dem eine tiefe Feindschaft zwischen Katzen und Ratten bzw. Mäusen besteht. Da ich 1971 geboren bin, also zu den Schweinen oder besser Wildschweinen zähle, bin ich nach dem chinesischen Horoskop schüchtern und gutmütig, nett und liebenswürdig, aber auch impulsiv und ehrlich. Das kann man jetzt halten wie man will, denn fast mehr als das Horoskop vertraut der Japaner auf seine Blutgruppenzugehörigkeit. Dieses System mit den wissenschaftlichen „Touch“ hat eine ebenso große Bedeutung wie bei uns das Sternhoroskop. Andere Länder – andere Sitten.

Für eine Pause am See will ich mir eine Dose „CC Lemon“, eine Zitronenbrause mit Vitamin C Zusatz, aus dem Automaten ziehen. Doch ich stutze, da ich für meine 150 Yen sowohl 0,25 als auch 0,5 l bekommen könnte. Wer kauft denn schon eine kleinere Dose, wenn er für sein Geld mehr bekommen kann? Da ich durstig bin ziehe ich mir die 0,5 l Dose und mache es mir zusammen mit einer Packung Brotstangen auf einer Bank am See gemütlich.

Während ich auf dem Hinweg die Straße entlang gelaufen bin, mache ich auf dem Rückweg einen Abstecher durch den angrenzenden Park. Hier ist eine Art Flusslandschaft angelegt und in einem Rosengarten kann man Pfingstrosen bewundern. In China symbolisiert die Pfingstrose oder Päonie Reichtum, Liebespfand, ein in Liebe erfülltes Frauenleben und die Sanftmut Buddhas. Ein japanisches Sprichwort sagt:
立てば芍薬、座れば牡丹、歩く姿は百合の花
tateba shakuyaku, suwareba botan, aruku sugata wa yuru no hana
Im Stehen wie eine „Chinesische Pfingstrose“, im Sitzen wie ein Strauch-Pfingstrose, und die Art wie sie läuft wie die Blüte einer Lilie.
Das Sprichwort beschreibt die drei unterschiedlichen Schönheitsideale, denen eine Frau entsprechen soll: Wenn sie steht, soll sie einer chinesischen Pfingstrose gleichen, mit ihrem kräftigen Stängel und der vollen Blüte. Wenn sie sitzt, soll sie dagegen zerbrechlich wirken wie die Strauch-Pfingstrose. Und wenn sie geht, soll sie anmutig sein wie eine Lilie.

Schnell wandere ich den Weg zurück nach Kotohira, da der Tag noch jung ist, gönne ich mir einen Abstecher zum Kotohira Schrein. Da ich mein Tagewerk erfüllt habe und die Kilometer zum Bangai Tempel Nr. 17 als Flachlandetappe gewertet werden können, habe ich noch genug Kraft und Ausdauer, um hier die vielen Treppen zum Schrein hochzusteigen.

Exkurs Kotohira Schrein (Kotohira-gū; früher auch Konpira-dai-gongen)
Der Kotohira Schrein ist ein Shinto Schrein in der Stadt Kotohira in der Präfektur Kagawa auf Shikoku. Er soll im 1. Jahrhundert gegründet worden sein und liegt auf dem Berg Zōzu.
Während der Weg zum Hauptschrein 785 Steinstufen misst (521 m Höhe), sind es stolze 1358 bis zum innersten Heiligtum. Hauptgottheit des Schreins (kami) war lange Zeit Ōmononushi (-no-mikoto), eine für alle Belange der Seefahrt zuständige Gottheit, die auch als buddhistische Gottheit „Kompira“ verehrt wird. Es ist also nicht so eindeutig, ob es nun shintoistisches oder buddhistisches Heiligtum war. Doch im Jahr 1165 durch die Gottheit durch Sutoku (75. Tennō; 1119-1164) ersetzt. In der Hōgen Rebellion von 1156 stritt er sich mit seinem Bruder (Go-shirakawa), wer nun nach dem Tod des Vaters Toba und Sutokus Abdankung als Tenno, zukünftig das Amt bekleiden sollte und welche Macht, der im Kloster lebenden, Ex-Tenno haben durfte. Das sogenannte „Insei-System“ sah nämlich auch für abgedankte Monarchen gewisse Macht und Einflussmöglichkeiten vor. Sutoku verlor die Rebellion und wurde ins Exil geschickt. Als Ergebnisse dominierten jetzt die Klans der Samurai über das Kaiserhaus und es kam erstmalige zur Errichtung einer, von Samurai geführten, Regierung. Aber Sutoku soll uns auf unserem weiteren Pilgerweg noch begegnen – in Tempel Nr. 79, dem Tennōji („Kaisertempel“), der das Wort für Kaiser (tennō) im Namen führt, ist Sutokus Leichnam nach seiner Ermordung in Tsutsumigaoka (1164) aufbewahrt worden, bis die Kunde auch die damalige Kaiserstadt Kyoto erreicht hatte. Nach 21 Tagen in der Kühlung einer Quelle im Tempel Nr. 79 wurde der Leichnam dann zum Berg Shiromine überstellt, wo er in der Nähe des Tempels Nr. 81 eingeäschert wurde und heute sein Mausoleum (gebaut 1414) steht. Da man befürchtete, dass der zu Lebzeiten ungerecht behandelte Ex-Tennō, der noch dazu eines gewaltsamen Todes gestorben ist, Unglück über das Kaiserhaus bringen bzw. als Geist (oni), Dämon (yōkai) oder Tengu-Gestalt (Bergkobold) seine Peiniger heimsuchen könne, wurde ihm der Schrein geweiht. Dies sollte seine ruhelose Seele besänftigen.

Aber zurück zum heutigen Kotohira Schrein, von dem jedes größere Schifffahrtsunternehmen in Japan ein Amulett an Bord hat. Für Seefahrer ist es eine Tradition, kleine Fässer mit Opfergaben in die See zu werfen. Von dem, der diese findet, wird erwartet, sie zum Schrein zu bringen. Es ist in Japan auch durchaus üblich den Sake (Reiswein), der bei den Zeremonien im Schrein Gebrauch findet, gleich fassweise zu spenden. Die Fässer werden dann in kleinen Pyramiden vor den Gebäuden aufgestapelt. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass sich ganz am Anfang des Weges zum Schrein ein kleines Sake-Museum befindet und viele Steine, auf denen der Spender und die Spendensumme eingeritzt sind, den Weg säumen.

Der Tempelführer des Bischhof Taisen Miyata erwähnt an dieser Stelle den Tod der Pilgerin Shizue Sawada aus Seattle (Washington) am 7. Mai 1982 – möge ihre Seele in Frieden ruhen oder „Namu Daishi Henjo Kongō“ wie sich der Pilger in mir äußern würde.

Es führen wirklich viele Stufen bis zum Schreingebäude, aber die meisten Pilger geben sich mit dieser ersten Begegnung zufrieden. Hier werden Schiffe in allen Größen und Formen ausgestellt. Von irgendwelchen selbstgebauten Solarschiffen bis hin zu Japans Astronauten ist hier alles vertreten, was im weitesten Sinne etwas mit Schifffahrt, Raumfahrt oder sonstiger hilfsmittelgesteuerten Fahrt zu tun hat. Es gibt Schreinhallen und eine kleine Bühne, auf der wahrscheinlich zu den Schreinfesten traditionelles japanisches Theater („No Theater“) mit Masken abgehalten wird. Von einer Art Terrasse kann man einen Blick auf den Fluss Kanakura und die ganze dahinterliegende Ebene werfen. Mir fällt ein Berg auf, der so eine schöne Kegelform wie der ruhende Vulkan Fuji aufweist. Aber ich bin noch lange nicht am eigentlichen Heiligtum, denn die Treppen führen weiter bis kurz unter den Gipfel des Berges Zōzu. Ich überhole mit Leichtigkeit die wenigen mit Wanderstöcken bewaffneten Schreinpilger, die es bis zum Innersten Heiligtum hoch treibt. Immer, wenn die Stufen hier die Richtung ändern, steht am Wendepunkt eine kleine Hütte zum Ausruhen. Aber ich bin fit wie ein Turnschuh, weder zieht es mir in der Oberschenkelmuskulatur noch machen mir meine Knien Probleme. Ich fliege geradezu den Berg hoch und muss mich dann am Ende geschlagen geben. Wieder einmal Bauarbeiten am Allerheiligsten! Es ruhen sich nur wenige Pilger hier oben auf den Bänken sitzen aus, aber ein Herr in Uniform und mit weißem Schutzhelm sorgt dafür, dass keiner die Absperrung leichtfertig überschreitet. Man kann hier zwar Glücksbringer kaufen und einen Blick durch einen Münzfeldstecher werfen, aber das Gebäude, was ich eigentlich besichtigen wollte, ist mit Pylonen (Verkehrshüttchen) und Netzen abgeschirmt. Ich trete also wieder den Rückweg an – bergab ist man viel schneller. Mir entgegen kommende Pilger trällere ich ein aufmunterndes „gambatte“ („Tun Sie Ihr Bestes“) entgegen, es ist ein Brauch, den ich schon von meiner Fuji Besteigung her kenne, aber auch immer wieder anwende, wenn ich so ein altes Muttchen sehe, wie es sich den steilen Weg zu einem Tempel raufschleppt. Ich hoffe dann, dass ich die Geplagten an mir ein Beispiel nehmen und sich darauf freuen, dass der Rückweg noch nicht einmal halb so anstrengend sein wird, wie der Hinweg. Auf dem Rückweg fallen mir noch unzählige Figuren, Statuen und Gebäude ins Auge. Hier steht sogar eine Statue eines Elefanten und eine Statue des ehemaligen Tennōs Hirohito kann ich ausmachen. Hier vor dem Eingang steht auch ein kleine, abgegriffenen Hundestatue. Ob das so eine Statue ist, wie ich sie aus Tokyo kenne? Dort ist dem Hund Hachiko, der sein Herrchen viele Jahre (um 1924) lang am Bahnhof von Shibuja von der Arbeit abholte, ein Denkmal gesetzt worden. Da er auch nach dem Tod seines, als Professor an der Uni arbeitenden, Herrchens noch 9 Jahre lang am gleichen Punkt auf ihn wartete, wurde der Hund zum Inbegriff der Treue. Schon zu Lebzeiten bekam dieser Hund ein Denkmal und der Bahnhofsausgang („Hachiko Exit“) wurde nach ihm benannt, als er 1935 an Filariose bzw. einigen sagen, er sei auch an den Holzspießchen von den Leckereien eingegangen, mit denen er von Passanten gefüttert worden war.

Aber zurück zum Kotohira Hündchen, dessen Statue ein Dankeschön von Schreinpilgern ist, die den langen Weg zum Innersten Heiligtum nicht mehr antreten konnten. Sein Vorbild ist nämlich ein Hund gewesen, der als Bindeglied zwischen Pilgern und oberstem Schrein fungiert hat und mit Pilgergaben den Berg hinauf zum Schreinpriester gelaufen ist. Und auch über die Süßigkeitenverkäuferinnen kurz hinter dem Schreintor konnte ich in Erfahrung bringen, dass diese Plätze vererbt werden und die meisten aufgrund der Tradition hier sitzen, nicht weil sie ein „Gutes Geschäft“ machen. Jetzt aber zurück zum Zentsūji Tempel, dem ich noch eine Stippvisite vor dem Abendessen abstatte. Vor allem die 500 Rakans oder Arhats, wie die Jünger Buddhas in Sankrit genannt werden, haben es mir angetan. 500 deswegen, weil sich nach dem Tod des historischen Buddhas Shakyamuni (536-483 v. Chr. ?), er ist komischer Weise an einem verdorbenen Gericht gestorben, 500 seiner besten Schüler zusammengefunden hatten, um seine Lehrreden (Sutras) zusammenzutragen. Jede Statue ist anders gestaltet, es gibt Dicke und Dünne, Bärtige und Glatte, Grimmige und Fröhliche, Sitzende und Stehende, Muskulöse und Schlanke, Sanftmütige und Kämpferische, Chinesische und Japanische, ja sogar einen mit Hut wie ein christlicher Missionar und zwischen diesen stehen dann noch 88 Buddha-Statuen für die 88 Tempel. Es soll sogar eine Frau unter den Rakans geben, im Tempel 66, der ebenfalls eine 500 Rakan Gruppe aufweist. Eine nach mir gewanderte Pilgerin (Kathrin) aus Deutschland hat sie sogar gefunden und fotografiert. Aber im Zentsūji kann man sich nicht satt sehen: So viele Hallen, Gebäude, Bäume, Steinfiguren und andere Sehenswürdigkeiten!

Als ich heute in meinen Ryokan zurückkehre, ich hatte meine Sachen vorsichtshalber aufgeräumt, finde ich meinen Futon im Schrank. Es muss ihn also jemand weggeräumt haben – das ist doch mal rundum Service. Ich habe hier mein eigenes Badezimmer, hätte aber auch keine Probleme mit einem Gemeinschaftsbad gehabt. Beim Abendessen gibt es fast das Gleiche wie gestern: Feuertopf mit Udon-Nudlen, Muscheln, Krebsschere und Garnelen, ein Stück Fisch, eingelegtes Gemüse mit Obergine und Gurke, Rettichsalat, gedämpfter Kürbis, Sashimi, Garnele und Muschelfleisch, natürlich Reis und Tofu in allen Variationen. Meine Wirtin will mich wohl mästen, da sie gestern wahrscheinlich gehört hat, dass ich keine Foto machen lassen wollte, weil ich im Gesicht so schmal aussehe. Deshalb bekomme ich heute noch eine Extraportion Garnelen serviert, obwohl ich schon ohne Extras zu tun habe, alles aufzuessen. Das Gespräch der Pilger im Esssaal fällt auf das Thema Wetter (tenki), es soll morgen mit 70 %-iger Wahrscheinlichkeit regnen (ame). Ich verstehe nicht viel Japanisch, aber wenn ich den Leuten so zuhöre und sie nicht allzu schnell und speziell reden, wundert es mich, wie viel ich dann doch verstehe. Die Wirtin erklärt den Mitpilgern auf Japanisch, dass sie schon mal Amerikaner und Australier beherbergt hätte, aber ich wäre die erste deutsche Frau. Natürlich denkt meine Wirtin, dass ich es nicht verstehe, weil wir bis jetzt mit Englisch ganz gut über die Runden gekommen sind und dafür bin ich dankbar. Aber so ein bisschen Japanisch in petto zu haben, kann nicht schaden, man muss es ja nicht an die große Glocke hängen und sich blamieren, wenn die Japaner dann mal wieder auf einen Einreden. Aber mit dem Wetter habe ich Pech, denn schon heute, wo ich die beleuchtete Pagode des Zentsūji fotografieren wollte, beginnt es zu regnen.

Sonntag, 19.04.2009, Kagawa, Kan-Onji City, Kotohiki Park, Pavillon

Der 35. Tag in Japan
Als ich heute mit dem Sonnenaufgang erwache, habe ich kaum geschlafen. Pfauen haben in der Nacht geschrien, ich hörte Musik, die Spülung des angrenzenden Toilettenhäuschens, Mücken summten um mich rum und nicht zu vergessen die „Wasserharfe“ haben mich die halbe Nacht wach gehalten. Zum Frühstück gibt es die Reste der Mochi (Reisküchlein) und Pilgerkekse vom Abendbrot. Meine Sehnenscheidenentzündung in den Handgelenken meldet sich zurück und auch die Knie schmerzen. Ich schieße schnell noch ein paar Bilder von der Münze am Strand und wandere dann über den Kotohiki Hachimangu Schrein in Richtung Tempel Nr. 70. Schnell bin ich „warmgelaufen“ und kann meine Fleecejacke ausziehen. Ich laufe im „Zwiebel Look“, d.h. mehrerer Kleidungsschichten übereinander, um immer passend zur Temperatur angezogen zu sein. Leider muss ich, wenn ich ein Kleidungsstück ausziehen will, erstmal Hut, kleine Tasche und großen Rucksack abnehmen, das dauert dann bis man sich umgeplünnt hat.

Die Sonne brennt vom Himmel, es sind bestimmt 25°C. Ich mache kurz Stopp an einem Family Mart (24-h-Shop), in dem ich mir zum Frühstück noch ein „Nikuman“, ein mit Hackfleisch gefüllte Teigtasche, und eine Erdbeermilch gönne. Auf dem Weg zu Tempel Nr. 70 gibt es keinen Schatten, ich laufe am Saitagawa Fluss entlang, fotografiere noch eine Kolonie Schildkröten und einen Fischreiher, die sich im Grünzeug verstecken. Endlich habe ich nach ca. 4,5 Kilometer mein erstes Ziel für heute erreicht. Am Eingangstor kommt mir eine Katze mit grünen Halsbang entgegen gesprungen. Natürlich kraule ich den grauen Tiger erst mal eine Runde, bevor ich den Tempel betrete – so viel Zeit muss sein!

Exkurs Tempel Nr. 70 Motoyamaji (本山寺)
„Der Hauptsitz Tempel“ wurde 807 von Kōbō Daishi auf Geheiß des Kaisers Heizei (806-809; 51. Tennō) zum Schutz der Nation gegründet. Der Tempel ist zu seinen besten Zeiten, mit 24 Subtempeln, der größte der Insel Shikoku gewesen und auch Chōsokabe Motochika wollte ihn einst zum Hauptquartier machen, um über die Provinz Sanuki zu herrschen. Der Legende nach soll Kōbō Daishi die Haupthalle (hondō) in einer einzigen Nacht vollendet haben. Andere meinen, er habe den ganzen Tempel in einer Nacht erbaut. Auf alle Fälle wurde der Tempel der pferdeköpfigen Bato Kannon geweiht, die als Assistenten vom Daishi die Statuen von Amida Nyorai und Yakushi Nyorai zur Seite bekam. Die Statue des Amida Nyorai (auch Amitaabha Tathaagata) ist berühmt und wird auch „Fachi-uke-no Mida“ (verwundete Amida Buddha) genannt. Der Name geht auf eine Legende zurück, weshalb der Tempel durch die Chōsokabe Truppen nie niedergebrannt wurde. Der damalige Oberpriester wurde bei dem Versuch getötet, das Eindringen der Soldaten in den Tempel zu verhindern. Als die Soldaten darauf den Hondō (Haupthalle) stürmten, fiel ihnen eine am Arm blutende Amida Statue auf. Die Verletzung erinnerte stark an die des ermordeten Priesters, mal ganz davon abgesehen, dass Holzstatuen im Allgemeinen nicht bluten. So wurden die Chōsōkabe Truppen vertrieben, obwohl manche behaupten, es sein ein angriffslustiger Bienenschwarm gewesen, der die Angreifer in die Flucht geschlagen hat. Wie es auch sei – sehenswert sind die fünfstöckige Pagode, dessen 1. Stufe noch original von Kōbō Daishi stammen soll, das Wächtertor (niōmon), welches aus dem Jahre 1147 stammt, und die Haupthalle von 1300. Sie zählen heute zum „Wichtigen Kulturgut“. 1910 wurde die Pagode vom Oberpriester Yoritomi Miki renoviert, 1955 der Hondō (Haupthalle). Letzterer zählt als einziger in der Präfektur Kagawa zum „Nationalen Schatz“.

Als ich durch das Tempeltor komme, fällt mir sofort eine japanische Frau mit sehr kurzen Haaren auf, die hier den Platz fegt. Als sie mich sieht, kommt sie auf mich zu und übergibt mir ein Osettai (Pilgergeschenk) bestehend aus einem Päckchen Kekse und Lakritzbonbon. Bei letzterem bin ich mir nicht sicher, aber sie hatten einen sehr kräftigen Geschmack, obwohl Lakritz genau wie Marzipan in Asien weniger bekannt sind. Sie sieht nicht unbedingt wie eine Pilgerin aus, obwohl sie einen Rucksack trägt, aber vielleicht ist sie ein Gemeindemitglied, das auf Pilger lauert und nebenbei ein bisschen fegt. Hier bewundere ich die schöne fünfstöckige Pagode. Unter Bäumen auf einem Felsen, der mit Azaleen gepflanzt ist, steht eine verwitterte Statue. Ich glaube nicht, dass es sich um Kōbō Daishi handelt, vielleicht der Mönch, der bei dem Versuch gestorben ist, den Tempel vor Chōsōkabe Truppen zu schützen. Die Dachreiter sind nett, springende Löwenfiguren und sogar ein Pferd kann ich erkennen. Seitlich der Hallen stehen auch noch zwei Pferdestatuen, aber nicht solche, wie man sie in Schreinen findet, wo sie zu Ehren von edlen Kriegsrössern ausgestellt worden sind. Die beiden hier wirken eher natürlich, als würde sie gerade auf der Weide grasen.
Das Pilgerbüro wäre für mich schwierig zu finden, wenn ich das Schild „納経所“ mit den Schriftzeichen (Kanji) nicht hätte lesen können. Es befindet sich in einem separaten Gebäude, auf dessen Vorplatz einige Palmen wachsen. Im Allgemeinen sind auf dem Tempelgelände Schilder in Form eines kleinen, blauhaarigen Jungen angebracht, die den Weg zum Hondō (本堂; Haupthalle), Daishidō( 大師堂; Daishi-Halle) und zum Nokyoshō (納経所; Pilgerbüro) zeigen. Meist ist auf den Tempelhallen selber vermerkt, ob es der Hondō oder Daishidō ist. Aber zwischen den vielen anderen Schriftzüge, die hier auf Holzbalken und Schildern angebracht sind, gerade den gesuchten zu finden, ist eine Aufgabe für sich. Ich mache mich wieder auf den Weg, da der nächste Tempel ca. 11 km entfernt liegt. Ich muss nur stur die Straße Nr. 11 entlang laufen und den Abzweiger zur Straße Nr. 221 nicht verpassen. Aber die Tour heute ist recht anstrengend, den die Sonne brennt und bei solch einer Asphaltstrecke laufen sich mir dann auch schnell die Füße heiß.

Ich sehe wieder einen Fahrradpilger, aber ich habe Ärger mit meinem Rucksack, der durch meine dahin geschmolzenen Hüftpolster schlecht sitzt. Ich bewundere die hübschen Karpfenfahnen (koinobori) und an einem japanischen Spielzeuggeschäft raste ich kurz vor dem Schaufenster. Das ist ein besonders Geschäft, da hier kein Plastikspielzeug „Made in China“ verkauft wird, sondern die hochwertigen, meist handgearbeiteten, traditionell japanischen Spielzeuge, die hier in Vitrinen ausgestellt sind. Unter ihnen befinden sich kleine Samurairüstungen, Miniaturwaffen oder Puppen. Vielleicht sind das die Gegenstücke zu den Puppentreppen für Mädchen. Während am Mädchentag also teure Puppen ausgestellt werden, erhalten die Jungen miniaturisiertes Samurai Zubehör. Das ist dann ebenfalls eine der jahreszeitenspezifischen Dekorationen, die ein traditionell japanisches Haus zu Festtagen schmücken.

Als ich aus einem Circul-K Kombini (24-h-Shop) komme, treffe ich auf drei junge Engländer. Durch ihr legeres Aussehen, ist mir gleich aufgefallen, dass es wohl keine Pilger oder Touristen sind. Bei einem kleinen Pläuschchen stellt sich dann auch heraus, dass sie hier als Sprachlehrer angeheuert haben. Was sollten englische Muttersprachler in Japan auch sonst tun? Sie hatten sich schon richtig auf ein bisschen Smalltalk mit mir gefreut, beichtet der eine mir, da sie mich schon vorhin, als ich noch an der Straße entlang lief, gesehen haben. Eigentlich hatten die wohl auf eine Landsfrau gehofft, aber dennoch haben wir ein nettes Gespräch. Vorbeikommende Japanern fallen die Augen fast aus dem Kopf, als sie mich und die drei beisammenstehen sehen. So ein Auflauf an Ausländer kommt hier in der japanischen „Pampa“ selten vor. Aber ich muss mich losreißen, da ich heute noch mindestens drei Tempel, Nr. 71, 72 und 73, schaffen will. Ich laufe durch Mitoyo City, obwohl es hier eher ländlich wirkt. Vor mir kann ich Pilger laufen sehen, ich folge ihnen, dann brauche nicht so aufpassen, den richtigen Weg zu finden. Bei der Hitze ist man geistig ohnehin nicht gut zu Fuß. Ich nutze jeden Schatten, aber anstelle gemütlich vor mich hinzulaufen, merke ich wie ich schneller werde. Will ich die anderen einholen, ich mich nicht einholen lassen oder will ich endlich nur in den Schatten – ich weiß es nicht. Auf alle Fälle fliege ich geradezu den Berg zum Tempel hoch, achte dabei leider nicht so sehr auf den Weg, komme an einem Michi-no-eki genannten Raststätte vorbei, die hier „Fureai Park Mino“ heißt, und muss dann vor so einem kläffenden Hund eine „Vollbremsung“ machen. Anscheinend bin ich über einen Nebenweg gekommen, so dass ich jetzt an einer seitlich gelegenen Ladenzeile stehe. Ich beobachte das Tier an seiner Leine und gehe dann ganz langsam außerhalb seiner Reichweite zum Eingang des Tempels. Aber geschafft habe ich das Ganze noch nicht, denn eine sehr lange, sehr steile Treppe führt nach oben. Als ich endlich oben ankomme, ich blöde Kuh hätte doch meinen schweren Rucksack auch unten stehenlassen können, muss ich mich erst mal ausruhen. Aber anscheinend sehe ich noch nicht so fertig aus, da ein Fotograf mich fragt, ob er einige Bilder von mir am Wasserbecken machen darf. Gern posiere ich und als er fertig ist, suche ich erst mal die Toilette auf, die hier nur über eine Stahltreppe zu erreichen ist. Wenn man nicht schwindelfrei ist, muss man es sich den Besuch des „Stillen Ortchens“ glatt verkneifen, denke ich so bei mir.

Exkurs Tempel Nr. 71 Iyadaniji (弥谷寺)
„Der Tempel der 8 Täler“ wurde von Gōgi (668-749) auf Geheiß des Kaiser Shōmu (724-749; 45. Tennō;) gegründet. Ursprünglich wurde der Tempel Yakuni-dera, „Tempel der 8 Länder“ genannt, da man damals von hier einen Rundumblick über 8 Provinzen (u. a. Aki, Bingo, Bittchū, Bizen) hatte. Der Tempel ist Senju Kannon (tausendarmige Kannon) als Hauptgottheit (honzon) gewidmet, aber ob die Statue von Gyōgi oder Kōbō Daishi geschaffen wurde, bleibt offen. Als Junge kam Kōbo Daishi hierher, um in einer als Löwenhöhle (shishi no gankutsu) bezeichneten Höhle zu meditieren. Er soll hier auch geschworen haben, den Buddhismus zu verbreiten. Als er aus China heimkehrte sollen beim Studium des Gumonji-hō (Morgensternmeditation) fünf Schwerte vom Himmel gefallen sein, deshalb wird der Tempel auch als 5-Schwerter-Tempel bezeichnet. An der Felswand hinter dem Tempel gibt es über 1500 Bilder von Amida Buddha, die in die Felswand geritzt wurden, sowie Bilder von Stupas (Reliquientürmchen) und die Worte „Namu Amida Butsu“ (Mantra - Wortformel Amida Buddhas). Ob sie von Ippen Shōnin (13. Jhd) oder von Kōbō Daishi stammen ist ungeklärt, es wird vermutet, dass sie zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert entstanden sind. Der Tempel ist berühmt für seine wundersamen Heilungen - Krücken, Prothesen und andere medizinische Ausrüstung hinter der Haupthalle geben Zeugnis davon ab. Bevor dieser Tempel in den Kreis der 88 Tempel aufgenommen wurde, war er Teil einer kleinen Pilgerreise, welche die Tempel von 71 bis 78 umfasste. Da der Tempel den Tod erleichtern (haka-shō) und sich dementsprechend die Seelen Verstorbener hier versammeln sollen, brachten viele Menschen die Überreste ihrer Toten hierher. Doch diese Pilgerkette ging ebenso in der Pilgerreise der 88 Tempel auf wie die Kette der ersten 10 (Tempel Nr. 1 bis Nr.10). Sehenswert ist die 6 m hohe Kupferstatue von Kongōkyo Bosatsu, der vom Oberpriester Kakurin in der Genroku-Periode (1688-1703) geschaffen wurde. Kongōkyo Bosatsu bezieht sich wohl auf die Erleuchteten (bosatsu) des Diamant Mandalas (Kongo-kai) bzw. dessen Zentralbuddha Dainichi Nyorai, da ein Kongōkyo Bosatsu eigentlich nicht zu den klassischen 13 Buddhas des Shingon gehört. Im 16. Jahrhundert brannten alle Gebäude nieder und wurden um 1720 vom Lord Ikoma von Sanuki wiedererrichtet. Der Schatzturm (tahōto), der ursprünglich zusammen mit Reisfeldern von Kaiser Shōmu (701-756; 45. Tennō) gestiftet worden war, wurde 1877 wiedererrichtet. Das berühmteste Bild im Fels wird „Magai Bustu“ genannt, es zeigt Amida Nyorai mit Kannon und Shōshi Bosatsu an seiner Seite. Shōshi Bosatsu ist ebenfalls kein Buddha des Shingon, vermutlich handelt es sich um die ehemalige Ehefrau Shōshi (988-1074) des Kaisers Go-Reizei (1046–1068; 70. Tennō). Während man die 262 Steinstufen vom Niōmon (Wächtertor) zum Tempel hinaufsteigt, kann man unzählige Buddha Statuen bewundern.

Als ich die Tempelhalle aufsuche, muss ich hier die Schuhe ausziehen, um ins Gebäude und zum Tempelbüro zu gelangen. Ich bin zwar auch faul, meine Schnürsenkel „aufzutüddeln“, aber vor allem denke ich an meine armen Mitpilger. Meine „Knobelbecher“ verströmen mittlerweile so eine Mischung aus Käsefuß und „nasser Hund Aroma“. Kein Wunder, bin ich doch zwischenzeitlich 35 Tage in ihnen unterwegs! Ich bin zwar schon dazu übergegangen, ein Bund Räucherstäbchen hineinzustecken, wenn ich sie im Genkan (Flur) eines Ryokans abstellen muss, aber das hilft nur temporär. Hier im Iyadaniji Tempel gibt es einen, wenn auch verschachtelten, Innenraum, der sowohl den Hondō (Haupthalle) als auch den Dasihidō (Daishi-Halle) umfasst. Die Pilger sitzen hier auf Tatami-Matten (Reisstrohmatten) und beten. Als ich dieses Gebäude verlasse, ziehe ich meine Schuhe wieder fester, denn ich möchte noch höher steigen, da es dort die Tigerhöhle und das aus drei Buddhas bestehende „Magai Butus“ zu sehen gibt. Die Neugier treibt mich nach oben, von hier kann ich fast den ganzen Weg sehen, den ich seit heute morgen gelaufen bin. Eine herrliche Aussicht! Als ich mich auf den Rückweg mache, fallen mir an der Treppe die Schilder an den Bäumen auf: Nummerierungen und Namen, z.B. 48 Yamamono („Bergpfirsich“?) in Katakana (jap. Silbenschrift für Fachwörter) und in Hiragana (jap. Silbenschrift für alles andere). Ob das gleichzeitig ein Naturkundepfad ist?

Zum nächsten Tempel geht der Pilgerweg endlich wieder über einen Trampelpfad durch den Wald. Anfangs begleiten den Weg noch kleine Steinfiguren, dann bin ich mal wieder allein. Ich passiere eine Teichlandschaft und unterquere den Takamatsu Expressway. Was ich anfänglich für eine Fischzucht gehalten habe, da sich Kormorane auf schwimmenden Netzabgrenzungen niedergelassen haben, stellt sich dann doch als Golfanlage heraus: Von einem überdachten Uferabschnitt aus können die Golfer hier ihre Zielsicherheit trainieren, indem sie in das eine oder andere Netz schlagen. Nachdem ich den Abzweiger zum Tempel an der Straße Nr. 11 gefunden habe, geht es wieder bergauf. Ich habe mich entschlossen, erstmal den höher gelegenen Tempel zu besuchen, da ich bei der Hitze mit meinen Kräften haushalten muss.

Exkurs Tempel Nr. 73 Shusshakaji (出釈迦寺)
„Der Tempel der Sakkamuni Erscheinung“ erhielt seinen Namen, nachdem der siebenjährige Kōbō Daishi hier vom der Klippe (shashigatake – „Springerklippe“) des Berges Gahaishi sprang. Er hatte geschworen alles Lebende zu retten und mit dem Sprung in die Tiefe, wollte er Auskunft über seine Erfolgschancen erlagen. Er wollte wissen, ob sein Trachten von Erfolg gekrönt sein würde, ansonsten sollte ihn Buddha sterben lassen. Aber – oh Wunder – Buddha Sakkamuni (historische Buddha) erschien mit seinen himmlischen Herscharen und errettete den Jungen. Später kam der Daishi abermals hierher, um das Gumonji-hō (Morgensternmeditation) zu studieren und zu praktizieren. Er hat ebenfalls die Statue des Kokūzō Bosatsu geschnitzt und es dem inneren Heiligtum (okunoin) gewidmet. Die Hauptgottheit im Tempel ist jedoch Shaka Nyorai, der Buddha, der ihn vor dem Tod bewahrt hatte. Vor ca. 300 Jahren wurde der Tempel von der Bergspitze in der Nähe der Klippe an den Fuß des Berges verlegt. Lediglich das Okunoin („innerstes Heiligtum“; shashin ga dake zenjō) liegt heute noch hoch oben am Berg. Man kann die Stätte gut vom Tempel aus sehen und sie ist einen Besuch wert. Bemerkenswert sind ferner die Pinie/Kiefer (kodakara no sanku no matsu), deren dreiteilige Nadeln am Körper getragen Kindersegen versprechen. An der Spitze des Berges Gahaishi soll ein uralter Stein liegen, der vor allem von alten Asketen (Yamabushi?) verehrt wird. Auf dem Weg dorthin (und zum Okunoin) soll eine Hütte des Künstlers Saigyō liegen, den ich noch bei Tempel 72 erwähnen werde.

Als ich den Tempel betrete, spricht mich ein Japaner an, der mich wohl schon im Tempel Nr. 71 gesehen hat. Bei einem kleinen Klönschnack bemerkt er, wie schnell ich doch zu Fuß bin und das sogar mit dem schweren Rucksack. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisiert habe, dass ich in Tempel Nr. 73 stehe, ich wolle den höher gelegenen Tempel doch zuerst erklimmen, verstehe ich nicht, dass ich per pedes schneller sein soll als der Autopilger. Der Mann hat nämlich der Reihenfolge entsprechend, Tempel Nr. 72 zuerst besucht, und ist dann hierher gekommen. Ich muss noch bei Nr. 72 einkehren und habe deshalb nur augenscheinlich einen Vorsprung. Ich bewundere die Statuen im Tempel und als ich mir eine Statue auf einer hohen Säule anschaue, kann ich sogar das Dach des Okunoin (Inneres Heiligtum) sehen. Aber den Weg am Berg bei der Hitze noch zu erkraxeln, das schaffe ich beim besten Willen nicht. Ich werde zusehen, noch den unteren Mandaraji zu besuchen und mir dann in Zentsūji City eine Unterkunft suchen. Wenn es zeitlich geht, wären da noch der Kōyamaji (Nr.74) und Zentsūji (Nr. 75) zu besuchen. Als ich den Tempel wieder verlasse, spült da doch so eine weiße Woge von Pilgern den Berg hoch. Hilfe, denke ich, und suche Schutz in einem Nebenweg, der zu einer Kōbō Daishi Figur führt. Mit viel „konnichi wa“ („Guten Tag“) und „gambatte“ (Geben sie ihr Bestes, nur Mut!“) grüße ich noch die Nachzügler des Tsunami, der jetzt den Tempel erreicht hat. Schnell laufe ich bergab in Richtung Mandaraji, es sind nur ca. 600 m.

Exkurs Tempel Nr. 72 Mandaraji (曼荼羅寺)
„Der Mandala Tempel“ hieß ursprünglich Yosakaji und wurde 596 als Ahnentempel des Saeki Clans, zu dem auch Kōbo Daishi gehörte, gegründet. Als der Daishi 807 aus China zurückkehrte, gestaltete er den Tempel nach dem chinesischen Vorbild des Chōryūji (chin. Shing-Lung-Si) um. Er schnitze als Hauptgottheit eine Statue des Dainichi Nyorai und stiftete die beiden Mandalas „Taizōkai“ (Mandala des Mutterschoßes) und „Kongokai“ (Mandala des Diamantreiches), die er aus China mitgebracht hatte, dem Tempel, den er jetzt Mandaraji nannte. Von Interesse sind die 377 Täfelchen an der Decke der Haupthalle (hondō). Die regenschirmförmige Pinie/Kiefer (kasamatsu), auch „alterslose Pinie“ (forōno matsu) genannt, die Kōbō Daishi persönlich gepflanzt haben soll, ist leider 2002 aufgrund von Pinienkäferbefall zugrunde gegangen. Aber man ließ aus einem Zweig eine Kōbō Daishi Figur schnitzen, die als Kasamatsu Daishi (Regenschirm-Pinien Daishi) an den Baum erinnern soll. Auf dem Gelände befindet sich noch unter einem Kirschbaum (kasa kake sakura) ein als „Hirune Ishi“ („Mittagsschläfchen Stein“) bezeichneter Stein, auf dem sich der berühmte Poet Saygyō Hōshi (1118-1190) ausgeruht haben soll. Auch eine kleine Hütte (mizukuku an), in der sich der Dichter wohnte, ist auf dem Tempelgelände zu finden.

Das Tempeltor des Mandarajis weist sowohl Wächterstatuen als auch Strohsandalen auf. Zum Glück ist hier nicht so viel Betrieb. Aber wenn die Herrschaften von Tempel Nr. 73 sich wieder auf den Parkplatz ergießen, kann es schon hektisch werden. Besonders angetan bin ich vom Räuchergefäß vor der Daishi-Halle (daishidō), da es aufwendig verziert ist. Ich durchsuche das ganze Tempelgelände nach der winkellosen Schirmpinie, erst später erfahre ich aus einem anderen Tempelführer, dass der Baum schon 2002 eingegangen war. Als ich mir dann so die seltsame Schnitzform der Kōbō Daishi Figur ansehen und schließlich noch das Bild der eingegangenen Pinie finde, kann ich mir die Geschichten dann auch alleine zusammenreimen. Jetzt noch schnell zu Nr. 74, der nur ca. 2 km entfernt liegt. Ich laufe an einem kleine Flüsschen entlang und traue meinen Augen nicht. Soll der Tempel etwa hier im Industriegebiet liegen, vielleicht sogar neben der Sandkuhle oder was das auch sein mag? Und tatsächlich, als ich näher komme liegt da doch der Tempel, als hätte man in irgendwo in den Bergen geklaut und hier kurz abgestellt. Am Anfang sehe ich auch kein Tor, nur zwei Stelen, die vor einem Bereich stehen, dessen Gebäude aus neuem, hellen Holz bestehen. Als ich jedoch das Tempelgelände erkunde, treffe ich dann doch noch auf ältere Gebäude und einen Shinto Schrein.

Exkurs Tempel Nr. 74 Kōyamaji (甲山寺)
„Der Tempel des Helm Berges“ klingt in der Übersetzung etwas holprig, aber es ist der Kopfschutz (engl. amor/hemet) von Bishamonten, einem der 7 Glücksgötter, gemeint, vom dem der Berg seinen Namen hat. Nachdem Kōbō Daishi 821 das in der Nähe liegenden Manno Wasserreservoir auf Geheiß des Kaisers Saga (786-842; 52. Tennō) hat umbauen lassen, da es immer wieder brach und zu Überflutungen kam, gründete er diesen Tempel zum Dank für die erfolgreiche Fertigstellung. Der Legende nach kam ein weiser, alter Mann aus einer Höhle und versprach dem Daishi positive Kraft und Schutz für den Tempel. Sogleich brach Kōbō Daishi einen Stück aus dem Felsen und schuf das Bildnis des Bishamonten, das in der Höhle verwart wird. Den Tempel soll er mithilfe des Geldes errichtet haben, welches er für die Rekonstruktion des Wasserreservoirs (manno ike) erhalten hatte. Vor dem Umbau des Reservoirs, welches heute noch das größte in Japan ist, hielt er ein Goma Ritual (Feuerritual) ab und schnitzte die Figur des Yakushi Nyorai. Zum Dank und als Unterbringungsmöglichkeit für die Statue gründete er den Koyamaji Tempel und machte Yakushi zur Hauptgottheit (honzon). Bemerkenswert sind hier ferner die Koyasu Kannon Figur, die für Kindersegen steht, die Höhle über der Haupthalle (hondō) und die Haupthalle selbst mit ihren bemalten Deckentäfelchen. Es gibt hier einen großen Wassertrog aus Stein. Das Manno-ike Wasserreservoir liegt nur einige Kilometer vom Tempel entfernt, wo eine Kōbō Daishi Figur heute an seinen Konstrukteur erinnert.

Die erwähnten Deckentäfelchen im Hondō (Haupthalle) sehe ich mir zwar nicht mehr an, es hat sich gerade eine Traube von Pilgern davor versammelt, um das Herz Sutra zu rezitieren. Aber den Wassertrog und auch die Höhle, die außen sowie innen hübsch ausgebaut wurde, nehme ich in Augenschein. Die knapp 1,5 km bis zum Zentsūji schaffe ich dann auch noch und treffe kurz vor 17.00 Uhr im Tempel ein.

Exkurs Tempel Nr. 75 Zentsūji (善通寺)

„Der Tempel des rechten Weges“ ist der Geburtsort von Kōbō Daishi und der erste Shingon Tempel Japans. Der Name stammt von Vater des Daishi, den man sowohl „Yoshimichi“ als auch „Zentsū“ lesen kann. Als Oberhaupt des Saeki Klans hat er sowohl Ländereien als auch Bäume für den Tempelkomplex gestiftet. Der Legende nach wurde der Tempel auf dem Sand der 8 heiligen Stätten Indiens gebaut, den Kōbō Daishi von seinem chinesischen Lehrer Hui Kuo erhalten hatte. Die Bauzeit betrug 6 Jahre, wobei Kōbō Daishi die Statue des Yakushi Nyorai, höchster Buddha im Shingon Buddhismus, geschnitzt und ihm den Tempel geweiht hat. Der Oberpriester wird traditioneller Weise vom Kaiser persönlich bestimmt. Der Zentsūji gehört neben dem Kongōbuji, Hauptquartier des Shingon Schule und Mausoleum des Daishi auf dem Koyasan, sowie dem Tōji Tempel in Kyoto, erste Wirkungs- und Ordinationsstätte des Daishis, zu den drei wichtigsten Tempel des Shingon in Japan. Der Tempel wird in einen Ost- und einen Westteil gegliedert, wobei der Ostteil den goldenen Hondō (Haupthalle; auch kondō, „Goldene Halle“), die Pagode, die Jōgyō Halle und drei Tore aufweist. Die erste Pagode stammt aus dem Jahre 813, die jetzige, vierte, Rekonstruktion stammt aus dem Jahre 1884. Der größere Westteil enthält das Niōmon (Wächtertor), Chokushi Tor, Hiei Halle, Jizō Halle, Goma Halle, Shōrei Halle, Schatzhalle mit dem Patriarchenstab des Shingon, eine neue Meditationshalle, eine Stupa (Reliquienturm) und das „Iroha“ Gebäude. In einem Gebäude namens Tanjō-in gibt es den Kaidan Meguri („Geister Pilgerreise“), eine Art unbeleuchteter Tunnel in dem man an 88 Buddha Statuen entlang laufen muss. Man sagt, dass böse Menschen in diesem Tunnel steckenbleiben. Eine rechteckige Platte im Tunnel markiert den Geburtsort von Mao („wahrer Fisch“), wie der Jungenname des Daishis lautet. Allerdings gibt es darüber einige Kontroversen, da menstruierenden bzw. gebärenden Frauen der Zugang zu Tempeln zu damaliger Zeit versagt wurde. Da sie als rituell unreich galten, würde wohl keiner einen Tempel an einem solchen Ort errichten. Es ist also fraglich ob diese Stelle hier, die man Byōbugara nennt, nun hier oder in der Nähe an einem Stand, wo jetzt ein Bangai Tempel steht, zu finden ist. Man geht davon aus, dass Yoshimichi Saeki mit seiner Frau Tamayori-gozen den kleinen Mao dort am Meer aufgezogen haben könnten. Ein ehemaliges Haus, das jetzt ein Tempel ist und Miedo genannt wird, war mal das Haus von Kōbō Daishis Mutter. Aber im Zentsūji Tempel kann man noch den Ort finden, wo der kleine Mao seinen Hund begrub oder seine erste Statue geschnitzt hat.

Jetzt bin ich aber platt! Die Straße, die hier vom Zentsūji Tempel abgeht hat fünf Ryokans, in denen Pilger willkommen sind. Ich versuche mein Glück im ersten, dem Yamamoto Ryokan, und bekomme prompt ein Zimmer. Die Wirtin vermietet mir ein Tatamizimmer mit eigenem Bad. Es ist zwar alles etwas alt und siffig, aber ich habe ein Dach über dem Kopf und da ich mir heute ein ordentliches Abendessen gönne, muss ich mir auch darüber keinen Kopf machen. Ich lauere noch auf den Regentag, den der Wetterbericht vor zwei Tagen angekündigt hat, aber vielleicht hat sich der Regen schon verzogen. Ich nehme ein heißes Bad, das muss heute sein, auch wenn ich hier kein O-furo (jap. Gemeinschaftsbad) habe. Es gibt ein grandioses Abendessen mit Feuertopf (Udon) und Jakobsmuscheln. Als ich gerade das Abendessen mit der Kamera dokumentiere, fragt mich ein Japaner im Speiseraum, ob er von mir ein Bild machen soll. Nein danke, antworte ich, ich sehe zurzeit dermaßen abgehetzt und ausgezehrt aus, dass das kein schönes Bild werden würde. Dafür zeigt mir die Wirtin, die sehr gut Englisch spricht, ein neues Motiv. Hierzu winkt sie mich auf die Straße und präsentiert mir die beleuchtete Pagode des angrenzenden Zenzūji Tempels. Das ist die drittgrößte Pagode in ganz Japan, fügt sie hinzu. Als ich nach dem Abendessen auf mein Zimmer komme, ist sogar mein Futon gemacht. Peinlich, denke ich, da ich nicht mit diesem „Service“ gerechnet habe, hatte ich meine paar Sachen auch nicht sonderlich aufgeräumt.