Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Sonntag, 13. Juni 2010

Dienstag, 21.04.2009, Zentsūji-City, Yamanote Ryokan

Der 37. Tag in Japan
Auch heute gibt’s das Frühstück um 6.00 Uhr. Die Wirtin hat sich vorgenommen, mich zu mästet, damit ich wenigstens während meines Aufenthalts hier kein weiteres Gewicht verliere. Mir wird schon zu Frühstück ein Salat mit Extra Wursteinlage serviert. Ich glaube, dass Japaner meinen, wir Ausländer würden Würste lieben. Aber da die japanischen „Wurstimitate“ kaum mit guten deutschen Bockwürsten oder Wienern zu vergleichen sind, es fehlt ihnen meist der Rauchgeschmack, kann ich mich mit solchen Geschmacksproben nicht anfreunden. Da genieße ich lieber die traditionelle japanische Küche. Leider muss ich mich jetzt loseisen, ich wäre noch gerne geblieben, aber die Tempel rufen. Auch das Wetter verspricht besser zu werden als gestern angekündigt – von wegen Regen! Bei der Wirtin berappe ich nochmals 7850 Yen, bekomme aber zwei Kaffee Bonbons und ein Päckchen Taschentücher. Sie erklärt mir, dass jetzt die Kirschblüte ein Ende hat und von der Azaleenblüte abgelöst wird. Auf meine Frage nach den Schulkindern mit Uniformen erläutert sie mir, dass Mädchen meist rosa oder rote Schultaschen tragen, während Jungen die Farbe Schwarz bevorzugen. So etwas Ähnliches war mich schon damals bei den Identifikationskarten meiner japanischen Firma aufgefallen. Während alle japanischen Frauen rote Bänder gewählt hatten, um die Karten um den Hals zu tragen, bin ich die einzige gewesen, die wie die Männer ein blaues Band bevorzugt hat. Blau und Grün sind meine Lieblingsfarben, als Kind habe ich wohl zuviel Rot, Rosa und Pink getragen, so dass ich diese Farben heute nicht mehr ausstehen kann.

Aber zurück zum Ryokan, wo ich noch ein Foto von dem kleinen Zimmerbrunnen mache, der hier direkt am Eingang steht. Ob das der chinesischen Lehre von „Wind und Wasser“, auch Fengshui, entspricht, welche die positiven Energien im Haus halten soll oder nur zur Zierde dient. Auf alle Fälle wäscht die Wirtin hier die Wanderstöcke der Pilger. Da der Stock den Fuß von Kōbō Daishi symbolisiert, kann man so gutes Karma ansammeln und verhindert nebenbei, dass die Pilger Dreck ins Haus bzw. in die Ziernische (tokonoma) schleppen, wo der weitgereiste Stock üblicher Weise deponiert wird. Ich habe mich darauf beschränkt den Stock mit dem Hut immer an der Tür meines Zimmers zu deponieren, damit ich ihn auch ja nicht vergessen, nachdem ich meinen großen Rucksack geschultert habe. Ich muss jetzt weiter und verabschiede mich von meiner „Ryokan Mutter“, die sich so rührend um mich gekümmert hat. Die paar Kilometer (ca. 4 km) bis zum Konzōji Tempel sind schnell gelaufen.

Exkurs Tempel Nr. 76 Konzōji (金倉寺)
„Der Tempel des goldenen Speichers“ wurde 774 ursprünglich unter dem Namen Dō-zen-ji (Weg + Güte + Tempel; „Tempel des Weges der Güte“) von einem Mann namens Waki Dōzen gegründet. Es ist der Geburtsort von Kōbō Daishis Neffen Enchin (auch Ehrentitel Chishō Daishi; 814-891), der später 6. Patriarch der Tendai-Schule des Buddhismus werden sollte. Dementsprechend ist der Tempel auch heute noch unter Führung der Tendai. Im frühen 9. Jahrhundert, nachdem Kōbō Daishi in China studiert hatte, kam er hierher, um für seine Ahnen zu beten. Er schnitze die Statue des Yakushi Nyorai und weihte ihm den Tempel. Auch Enchin zog es nach China, wo er sich allerdings dem Tendai widmete. Dementsprechend gestaltete er diesen Tempel nach dem Vorbild des Grünen Drachen Tempels (Ching-Lung-ji) in Chang-an. 928 wurde der Tempel auf Geheiß des Kaisers Daigo (885-930; 60. Tennō) in Konzōji umbenannt, er hatte mittlerweile eine Größe von 132 Gebäuden und 32 km2 erreicht. Nachdem der Tempelkomplex im 16. Jahrhundert niederbrannte, wurde er in kleinerem Umfang von Matsudaira Yorishige (1622-1695), Herrscher über die Provinz Sanuki, wiederaufgebaut. Nur die Yakushi Nyorai Statue sowie ein berühmtes Selbstbildnis Enchins überstand dieses Feuer, bei dem 1983 der Oberpriester getötete worden ist. Berühmt ist der Konzōji aber auch für die „Tsuma ga eshi no matsu“, „die Pinie, welche die Ehefrau zurückhielt“. Gemeint ist damit Shizuko, die Ehefrau des Generals Nogi Marsuke, der im Konzōji drei Jahre untergebracht war. Er hatte im „Japanischen Bürgerkrieg“ (1877) für den Kaiser gekämpft und war berühmt für seine Einnahme von Port Arthur im Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905). Warum er hier die lange Zeit untergebracht war verschließt sich meiner Kenntnis, da das Ehepaar aus Tokyo stammt. Die Ehefrau kam aber unangemeldet angereist, um ihren Mann zu besuchen. Er aber wollte sie nach Hause schickten, doch als sie unentschlossen an der Pinie vorbei kam, setzte sie sich in ihren Schatten. Nach einiger Zeit des Überlegens, entschloss sie sich, die Nacht in einem Hotel in Tadotsu zu verbringen. Es sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass beide am 13.09.1912 Suizid durch rituellen Selbstmord (Seppuku) gegangen haben, um dem verstorbenen Kaiser Mutsushito („Meiji“, 122. Tennō ) in den Tod zu folgen. Andere Länder – andere Sitten!

Das Gelände des Konzōjis ist weitläufig und überall kann man Details finden, die man sonst in keinem anderen Tempel findet. Es gibt hübsche Dachreiter, ich sehe eine Statue eines Yambushi (Bergasketen) und eine Daikoku (einer der 7 Glücksgötter) Figur, die man passend zum Tempelnamen eigenhändig vergolden kann. Aber auch ein kleiner silberfarbener Jizō und die Statue eines älteren Herr, es ist wohl nicht der Neffe des Daishi Enchin, haben es mir angetan. Letztere Statue ist mit Haori (jap. kurze Jacke) und Hakama (jap. Hosenrock) bekleidet. Übertragen auf Europa, würde man sagen, er trägt einen Ausgehanzug, eben die traditionelle Kleidung eines Japaners. Da er keine Glatze trägt und auch sonst nicht an einen Mönch erinnert, könnte dies General Nogi sein. Da ich aber nicht so ganz den Blick für japanische Gesichter geschärft habe, bin ich mir nicht sicher. Denn auch im Netz gibt es die Information, dass es in der letzten Stadt Zentsūji den Kagawa-Ken-Gokoku-Schrein gibt, der zu Ehren von General Nogi errichtet worden ist. In der Karte kann ich nur den Kasuga Schrein finden, der in der Nähe von Tempel Nr. 74, dem Kōyamaji, liegt. Aber zumindest bin ich mir sicher, dass ich die besagte Pinie gesehen habe, da sie von einem Steinzaun eingefasst und mit Infotafeln bestückt ist. Erwähnen möchte ich noch den Perlen-Gong, der hier vor einer Halle anstelle des normalen Gongs (waniguchi) hängt. Wenn man an der Strippe zieht, werden große Holzperlen bewegt, die dann mit einem lauten Knall aufeinanderschlagen. Ein Geräusch, dass ich schon von Weitem gehört habe, es aber nicht einzuordnen wusste bis ein Pilger das Teil vor meinen Augen betätigt. Von den vielen hübschen Ema Täfelchen schieße ich Fotos. Ich habe noch nie einen Tempel oder Schrein besucht, in dem so viele verschiedene Motive gab. Normaler Weise zeigt so ein Votivtäfelchen, auf das man einen Wunsch schreiben kann, eines der 12 Horoskop Tiere des jeweiligen Jahres (2010 – Tiger!) oder eine Szene aus einer Legende, die irgendwie mit der Örtlichkeit zu tun hat. Aber hier hängen viele verschiedene. Auch das Wildschwein, das laut Kalender eigentlich im Jahr 2006 dran war, hängt hier noch, obwohl am Jahresende die Täfelchen ihre Schuldigkeit getan haben und ebenso verbrannt werden, wie die Talismane, die man im letzten Jahr gekauft hatte. Das sich so ein Glücksbringer mit der Zeit „entläd“ bzw. die enge Verbindung mit seinem Träger ist weitverbreiteter Glaube in Japan und beschert den Tempeln und Schreinen einen alljährlichen Kaufrausch in den ersten Tagen des neuen Jahres. Wer will schon ungeschützt das neue Jahr beginnen?

Jetzt führt mich mein Weg wieder zurück zu der Stelle, an der ich vor drei Tagen vorbeigekommen bin, da ich jetzt Bangai Nr. 18 besuchen möchte. Auf dem Weg dorthin, kurz hinter dem Tempel Nr. 76, fällt mir eine alternative Pagode auf: Es handelt sich um ein Betontürmchen, welches mit vier balkonartigen Geländern umgeben ist. Da ist mir die traditionelle Pagode aus Holz, die zwar abbrennen kann, dann doch lieber. Aber wer modernes Design mag, sollte sie nicht verpassen. Ich wandere am Takamatsu Expressway (Autobahn) entlang, biege an einem Sunkus Kombini (24-h-Shop) ab und muss dann wieder auf meine japanische Karte ausweichen. Ich finde nicht ein Henrozeichen auf der ganzen Strecke. Nicht einmal eine Pilgerhütte, die einen sehr neuen Eindruck auf mich macht, ist hier verzeichnet. Von Ferne kann ich eine Pagode erkennen, aber ich werde enttäuscht, da diese zu einem Tempel gehört, der nur einige hundert Meter entfern vom Kaiganji (Bangai Nr. 18) liegt. Ich laufe noch an einer Schutzanlage vorbei, die man wohl bei zu heftigem Seegang absenken kann, damit der Fluss nicht über die Ufer tritt und schon stehe ich vor dem Tempeltor. Dieses Tor ist eine große Besonderheit auf der Shikoku Pilgerreise, denn hier dienten lebende Sumoringer als Vorbild für die Wächterstatuen (niō oder deva) des Tors (niōmon). Was für eine Ehre so für die späteren Generationen in Erinnerung zu bleiben. Sumo Ringen ist zwar der Nationalsport in Japan schlechthin, aber wie so viele Traditionen verlieren die jungen Japaner das Interesse, ihre alte Kultur zu pflegen. Nicht nur die Zuschauerzahlen sinken, auch das Berufsbild des Ringers, das geprägt ist von täglichen Training und der strengen Hierachie in den Sumoställen, passt wohl nicht mehr ins Bild eines jungen Japaners, der lieber als Saleryman (jap. Geschäftsmann) sein Geld verdienen möchte. Mal ganz abgesehen von körperlichen Voraussetzungen, die mit spezieller Kost erlangt werden und dazu führen, dass die aktive Kampfphase eines Sumotori (Sumoringer) nur wenige Jahre dauert. Was früher mal als Opfergabe an die Götter (kami) galt und tief im shintoistischen Glauben verwurzelt ist, wird heute sechsmal im Jahr als sogenanntes Basho (Turnier) ausgetragen.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 18 Kaiganji (海岸寺)
„Der Tempel der Meeresküste“ bzw. „Strandtempel“ könnte man diesen Tempel auch nennen, der von Kōbō Daishi gegründet worden und Shō Kannon geweiht worden ist. Leider gibt es über die Bangai-Tempel (Nebentempel) nur wenige Infos im Netz. Aber hinterher ist man meistens schlauer und so halte ich den Komplex mit der Pagode für einen anderen Tempel. Mir war zwar aufgefallen, dass der Kaiganji doch recht klein ist, hier direkt am Strand, hatte das aber darauf zurückgeführt, dass nebenan gleich eine Jugendherberge liegt. Auch so kann man das Tempelbudget aufbessern, wenn man nicht nur Pilgerunterkunft (shukobō), sondern für die „Saure-Gurken-Zeit“ im Sommer bzw. Winter auch jungen Japaner Unterkunft anbietet. Ich erfahre aus einer Zusammenstellung der 20 Banagai Tempeln, die ich vom Sohn des Tempeloberhaupts von Bangai Nr. 20 erhalten habe (Story folgt bei Bangai Nr. 20!), dass auch der Komplex mit Pagode zum Kaiganji gehört. Er gilt wohl als „Inneres Heiligtum“ (okunoin) vom Kaiganji und ist somit der „Berganteil“ des Tempels. Er soll 733 erbaut worden sein und gilt als Geburtsort von Kōbō Daishi, wenn dies nicht schon der Zentsuji für sich beanspruchen würde. Auf alle Fälle soll der Daishi hier, nach seiner Rückkehr aus China, das erste Mal eine Technik des Shingon Buddhismus angewandt haben, um eine grassierende Krankheit zu heilen. Der Daishi soll hier auch am Berg hinter dem Tempelkomplex Sutren vergraben haben, um das Land zu reinigen. Aber wie gesagt - ich hab es nicht gewusst und stattdessen eine Erkundungstour zum Strand gemacht. Im Tempel hier am Strand ist die Halle wie ein kleiner Supermarkt für Pilgerutensilien gestaltet. Die Buddha Figuren oder sind es Absaras (buddhistische Engel), die hier an der Wand hängen, wirken auf mich wie Galionsfiguren, da ihre Körper schräg nach vorne verlaufen. Ich habe zwar noch nie ein japanisches Schiff mit Galionsfigur gesehen(, mit Ausnahme der Nippon Maru, ehemaliges Segelschulschiff, das nach europäischen Vorbild gebaut, heute in Yokohama als Museumsschiff dient,) aber vielleicht war das bei größeren Schiffen oder in alten Zeiten gebräuchlich? Im Tempelgarten kann ich die 13 Buddhas des Shingon Buddhismus bewundern, die 7 Glücksgötter sind hier auch versammelt, aber am beeindruckensten finde ich hier die Gartenlaube. Das klingt jetzt so profan - klein und hölzern, aber hier in Japan werden Lauben aus Gestängen gebaut, die mit Blauregen oder ähnlichen Rankengewächsen „begrünt“ werden. So ein lebendes Dach mit Ästen, Blättern und Blüten und allem Getier, was da so kreucht und fleucht. Die Laube ist aber 20 m lang, hat noch ein schützendes Dach an der Seite, da die Pflanzen noch nicht allzu dicht gewachsen sind.

Jetzt muss ich mich aber wieder auf den Weg machen, da ich heute noch bis mindestens Tempel Nr. 77 kommen will. Die Straße führt mich hier direkt an der Küste entlang, ich folge der Straße Nr. 21 durch einen Hafen, an einem Schrein vorbei. Als ich auf ein europäisch wirkendes Haus treffe, vor dem noch dazu ein Elch im vollem Galopp mit einem Kind zwischen den Schaufeln als Statue verewigt ist, bin ich etwas ratlos. Vor einem Geschäft steht ein Papagei und das nächste merkwürdige Gebäude scheint das lokale Heimatmuseum zu sein, da ich unter einem Unterstand eine zerlegte Feuerspritze ausmachen kann. Ich sehe ein Postamt und versuche mein „Übergewicht“ in Form eines Päckchens nach Deutschland loszuwerden. Das ist Post, die erste Episode, aber gefehlt - der Typ am Schalter will einfach nicht kapieren, dass ich auf Ferien hier in Japan bin. Er will unbedingt eine japanische Adresse haben! Als ich den Ryokan in Zentsūji eintrage, genügt ihm das nicht, weil ich dort nur zwei Tage übernachtet habe. Gewissenhaft wie ich bin, zeige ich ihm, dass ich weder etwas Wertvolles noch was Gefährliches verschicken will. Insgesamt präsentiere ich ihm den Inhalt meines potentiellen Pakets dreimal. Aber der Typ telefoniert nur minutenlang herum und kommt zu keinem Schluss. Jetzt habe ich echt einen Hals, mit Engelszungen habe ich jetzt eine Halbe Stunde auf ihn eingeredet und mein Gepäck habe ich ganz umsonst auseinandergerissen! Verärgert packe ich meine Sachen und mit einem „domo arigatō gozaimashita“ (herzlichen Dank) und einer Verbeugung verlasse ich diesen Vorposten der Bürokratie. Himmel, warum spreche ich nur so wenig Japanisch, aber ich glaube das hätte mir auch nicht weitergeholfen. Japaner halten sich immer streng an die Vorschriften, rufen bisweilen den Vorgesetzten, würde aber nie etwas selbst entscheiden, wenn mal was Unverhofftes eintritt. Ich laufe weiter und bin dann ganz schön verblüfft: Wenn man der Meinung ist, dass man auf der Straße Nr. 21 läuft und dann entsetzt feststellen muss, dass es eine zweite Nr. 21 gibt, die noch dazu fast parallel zur ersten verläuft. Was es jetzt meine Verärgerung über den missglücken Versuch, meine Wandergewicht zu minimieren, oder allgemeine geistige Erschöpfung? Wie soll man sich denn da orientieren? Aber zum Glück verkündet mir ein blaues Straßenschild, dass es jetzt noch 200 m bis zum Dōryūji Tempel sind. Schwein gehabt!

Exkurs Tempel Nr. 77 Dōryūji (道隆寺)
„Der Tempel des sich ergebenden Weges“ wurde ursprünglich von Wake Michitaka 749 gegründet. Er wollte dafür Buße dafür tun, dass er aus Versehen seine Amme mit Pfeil und Bogen getötet hat, weil er eines Nachts auf ein seltsames Licht geschossen hatte. Er war es auch, der eine kleine Figur von Yakushi Nyorai aus Maulbeerbaum als Honzon (Hauptgottheit) für den Tempel geschnitzt hat. Im 9. Jahrhundert weilte Kōbō Daishi hier, schnitzte eine 75 cm große Statue von Yakushi Nyorai, in die er die kleinere von Michitake verwahrte. Waki Chōyu, zweiter Oberpriester des Tempels vergrößerte den Tempelkomplex, dem Wunsch seines Vaters Michitake entsprechend, um 23 Gebäude und nannte den Tempel fortan „Dō ryūji“. Hierfür verkaufte er die Maulbeerbaumfarm seiner Familie, die zur Gewinnung von Seide aus Seidenraupen genutzt wurde, und all sein Hab und Gut. 976 wurden die Tempelgebäude durch ein Erdbeben zerstört, im 16. Jahrhundert durch Feuer. In der Meiji-Zeit (1868-1912) wurden Reparatur- und Restaurationsarbeiten durchgeführt und 1985 die zweistöckige Pagode gebaut. Man kann neben der Haupthalle (hondō) eine Statue von Kōbō Daishi und Emon Saburo, der die Pilgerreise begründet hat, finden. Es gibt hier aber auch 270 Bronzestatuen von Kannon und der „Fünf Wächter“, die Enchin (814-891), dem Neffe des Daishi, zugeschrieben werden. Der Daishi selber soll ein Bild der „Fünf Heiligen“ gemalt haben und auch ein Bild des „Stern Mandala“ gelten heute als „Wichtiges Nationales Kulturgut. Streng genommen gehört der Tempel heute als Dai-Honzan („Großes Hauptquartier“) zum Daigo-ha Zweig des Shingon, also dem shintoorientierten Shugendō (Bergasketentum). Doch seit Chishō (Neffe des Daishi, Tendai Oberpriester) hier jährlich das Lesen der „Lotus Sutra“ abgehalten hat, wurden immer wieder, sowohl Tendai als auch Shingon, Priester auf kaiserlichen Befehl hierher geschickt, um gemeinsam den Buddhismus zu studieren. Bemerkenswert sind hier die riesigen Strohsandalen (waraji) am Eingangstor. Im Tempelführer wird ebenfalls erwähnt, dass in der Nähe, Tadotsu Town, der Kaiganji Tempel (Bangai Nr. 18) liegt, der Ort an dem Kōbō Daishi zur Welt gekommen sein soll, wenn dies nicht schon der Haupttempel Nr. 75 (Zentsūji) beanspruchen würde. Des Weiteren wird das Shōrinji Dōjō erwähnt, welches besonders für Kampfsportinteressierte von Bedeutung sein könnte, da es das Hauptquartier dieser „Shōrinji Kempo“ genannten Stilrichtung des Karate bzw. Kempos (mehr China-lastige Ausprägung des Karate) ist. Sie wurde 1947 von einem Mann namens Doshin So in der Stadt Tadotsu begründet, der die Kampfkunstwurzelt an ihren Ursprüngen in China studierte. Sie vereinigt die verschiedenen chinesischen und japanischen Kampfkunsttechniken und die Lehre des Buddhismus bzw. Bodhidharmas, dem legendäre Kampfmönch, der die Kampfkunst von Indien nach China (Shaolin Kloster!) gebracht haben soll, zu einem ganzheitlichen System.

Der Tempel liegt direkt an der Hauptstraße, weder Wald noch ein Weg in die Berge trennen den Tempel vom städtischen Leben. Es gibt hier zwar große Bäume, aber der Komplex ist von fast von allen Seiten zugänglich. Es gibt eine kleine Pagode auf deren Vorplatz, auf dem sich eine Horde Tauben niedergelassen hat. Ich sehe eine große, zentrale Kannon Statue und auch den vor dem Daishi knienden Emon Saburo. Aber dass es hier irgendeinen Zusammenhang mit Kampfsport geben soll, bleibt mir verborgen. Aber hier ist auch vieles hinter Glas, man kann meist nicht viel erkennen. So auch der Binzuru, der ehemalige Jünger Buddhas, der bei Berührung die Schmerzen aus entsprechenden Körperteilen verschwinden lassen soll. Hat man hier in Japan noch nichts von Entspiegelung gehört? Beeindruckend sind hier die vielen, kleinen Kannon Statuen, die jeweils ausgestattet mit Jizō -Lätzchen, gelber Halskette und weiteren Ketten um Arm und Hand, eine richtige „göttliche Armee“ formieren, wenn es nicht gerade 88 sind und den Tempeln des Pilgerwegs entsprechen würden. Unter einem großen Baum steht noch ein kleiner Schrein. Ich mache eine kleine Pause. Der Himmel sieht sehr nach Regen aus, aber solange es nur bewölkt ist, soll es mir recht sein, dann ist es wenigstens nicht so warm. Auf der Toilette begegne ich noch einem kleinen Teufel aus Ton – „Oni“ werden diese gehörnten und spitzzähnigen Kameraden genannt. Eine süße Verniedlichung der in anderen Darstellung doch sehr wild und Schrecken erregenden Sagengestalten der japanischen Mythologie, die alljährlich zum Setsubunfest, Anfang März, mit einer Hand voll Sojabohnen des Hauses verwiesen werden. Ich verlasse den Tempel und mein Weg führt mich weiter die Straße Nr. 21 entlang. Ich komme in die Stadt der runden Schildröte, wie Marugame in der Übersetzung heißen könnte. Stadt der tobenden Winde fände ich passender, da ich hier das erste Mal meinen Hut abnehmen muss, damit ihn der Wind, der sich hier in den Hochhausschluchten sammelt, nicht von Kopf reißen kann. Dabei ist die Stadt doch berühmt für ihre Burg, Papierfächer und ein Museum mit Gegenwartskunst. Aber das lasse ich alles links liegen, weil ich rechts ein Postamt sehe. Mit dem Stoßgebet der Pilger „namu daishi henjo kongō“ betrete ich das Postamt und werde angenehm überrascht. Postamt, die zweite Episode: Der Bürovorsteher lässt seine Mädels auf mich los und die Kommunikation läuft fantastisch. Am Ende schicke ich nicht nur mein Übergewicht per preiswerterer Seepost nach Deutschland, sondern lasse mir von den netten Damen sogar noch ein Briefmarkenbuch mit den 88 Tempeln von Shikoku andrehen. Ich bezahle 2500 Yen für mein Päckchen und werde noch von den Damen erinnert, dass ich den Preis der Briefmarken noch zum Gesamtwert auf der Zollerklärung ändern muss. Der Tag ist gerettet – ich bin glücklich, die Damen und der Vorsteher sind glücklich, alles könnte so einfach sein, wenn ich von den Mitgliedern der Japanischen Post nicht noch ein Pilgergeschenk erhalten würde: ein Baumwolltuch (tenugui) mit dem Logo der Japanischen Post. Haha!

Ich eile, um noch vor 17.00 Uhr zum Tempel Nr. 78, dem Gōshōji, zu kommen. Kurz hinter dem Tempel liegen zwei Unterkünfte, von denen ich zur Not auch morgen noch zurücklaufen könnte, aber ich habe Glück.

Exkurs Tempel Nr. 78 Gōshōji (郷照寺)
„Der Tempel der leuchtenden Heimat“ soll ursprünglich unter dem Namen „Dōjōji“ 725 von Gyōgi (668-749) gegründet worden sein, der auch die Figur des Amida Nyorai für den Hondō (Halle der Hauptgottheit) geschnitzt haben soll. Im 8. Jahrhundert weilte Kōbō Daishi hier, um den Tempel wiederaufzubauen. Zwischen 877 und 885 brannte der Tempel nieder, um 1288 von Ippen (1239-1289) wiederhergestellt zu werden. Der Wanderpriester Gyōgi begann hier vom „Reinen Land“ Amidas zu predigen und als die Einwohner seine Lehre annahmen, nannte er den Tempel in „Gōshōji“ um und machte ihn zu einem Tempel des Nembutsu. Nembutsu beschreibt die Anrufung des Buddha Amida, des Buddhas des „Reinen Landes“, mit den Worten „Namu Amida Butsu“. Der Gläubige soll nur durch Glaube und rezitieren dieser Wortformel (Mantra) im Paradies von Amida wiedergeboren werden, aus dem er, befreit von den alltäglichen Sorgen, den Übergang ins Nirvana (Auflösen; Ausbruch aus dem Rad der Wiedergeburten) vollziehen kann. Zwischen 1333 und 1573 erblühte der Tempel auf sieben Hallen unter dem Schutz des lokalen Hosokawa Klans, brannte jedoch dann nieder. Erst 1664 wurde er vom 1. Herrscher von Takamatsu, Matsudaira Yorishige, wiederaufgebaut. Bemerkenswert ist, wie erwähnt, dass dieser Tempel der einzige auf der Pilgerreise ist, der dem „Reinen Land“ (Jishū) Buddhismus zugerechnet wird. Das soll aus einem Streit der Shingon Buddhisten am Koyasan (Hauptquartier in den Kii-Bergen) mit umherwandernden Laienpriestern zu tun haben, der so heftig wurde, dass er vor dem Shogun (militärischer Machthaber Japans) geschlichtet werden musste. Die Laienbrüder wurden nach Shikoku geschickt, um eben bei diesem Tempel ihre Riten auszuüben. Im Daishidō (Daishi-Halle) gibt es eine Daishi Statue, Yakuyoke Utaszu Daishi genannt, und wie man am ersten Wort erkennt, kann man hier sein Unglück abwenden (yakuyoke). Neben der Daishihalle liegt der Eingang zur Mantai Kannon Halle, in der 40.000 silberne Statuen von Kannon stehen, die aus ganz Japan stammen. Neben der Haupthalle (hondō) in der Kōshin Halle kann man die Shomen Kongo Gottheit sehen, deren Anbetung vor Krankheit schützen soll bzw. eine schnelle Genesung verspricht. Diese blaugesichtige und 6-armige Statue wird von 3 Affenstatuen begleitet. Sie verkörpern die berühmten Affen, die man auch im Toshogū Schrein in Nikko bewundern kann, die weder Böses sehen, hören noch aussprechen. Nach buddhistischer Auffassung wohnen nämlich jedem Menschen Würmer inne, die nach dem Tod über die Sünden desjenigen berichten und diese „Petzen“ sollten dem Vorbild dieser „Drei Weisen Affen“ folgen. Und dann gibt es noch eine schöne Legende, warum die Glocke des Tempels einen so weitreichenden Klang hat. Als sie gegossen wurde, soll ein eigenartiger Fremder ein Pulver ins flüssige Metall geworfen haben, so dass die Glocke jetzt alle Glocken neben ihr übertönen kann.

Der Gōshōji liegt hier am Hang des Aono Berges, ich muss mich hier den Berg hinauf durch eine Wohnsiedlung quälen und aufpassen, dass ich nicht versehendlich im Akiba Schrein lande. Nachdem ich ein einfaches Tor (sanmon) durchschritten habe, finde ich mich auf dem eigentlichen Tempelgelände wieder. Von hier habe ich erstmal einen fantastischen Blick auf die Inlandssee (Setosee), vorbei am Häusermeer kann ich vorgelagerte Inseln und eine große Brücke sehen. Außer den Dachreitern kann ich leider keine weiteren Affen ausmachen. Aber der Gang vor der Tempelhalle, von der links nach unten in die Kannon Halle geht, weist diese hübschen Deckentäfelchen auf. Doch die ausnahmslos floralen Motive sind nicht nur gemalt, nein, es handelt sich um Schnitzereien, die nachträglich koloriert wurden. Beeindruckend ist auch die Mantai Kannon Halle, eigentlich hätten es auch Amida Figuren sein können, aber in der Dunkelheit dieses mäßig beleuchteten Kellers kann man nur die goldglitzernen Ministatuen erkennen, die hier in mehreren Stufen, dichtgedrängt auf den Borden angesammelt haben. Aber auch das weitläufige Gelände ist einen Besuch wert, da es hier einen Koi (jap. Karpfen) Teich gibt, an den sich ein Azaleen Gärtchen anschließt. Auch die sorgfältig geharkten, grauen Steine runden die gepflegte Anlage ab. Eigentlich Peile ich das Business Hotel Utara an, nachdem ich jedoch eine Brücke überqueren muss und den richtigen Weg nicht gleich finde, lande ich dann doch im Ryokan Sanuki. Als ich das Haus betrete, fällt mir sofort das Essen, das schon im Speisesaal auf dem Tisch steht auf. Eigentlich etwas früh, um das Abendessen schon, so ohne Kühlung, herum stehen zu haben. Aber ich beziehe erstmal mein Zimmer am Ende des Ganges. Kein richtigen Schlüssel und die Fenster kann ich auch nicht richtig schließen. Der Wind bläst zwischen den Ritzen durch und lässt mich erst in Ruhe, als ich die Zwischentür schließe. Glücklicher Weise habe ich ein eigenes Badezimmer, doch zuvor genieße ich Eistee und Kastella Kuchen (portugiesischer Topfkuchen), der hier schon für mich bereitgestellt worden ist. Ich werde für Übernachtung Frühstück und Abendessen 6000 Yen berappen und finde mich zum Abendessen als einzige Frau unter lauter japanischen Handwerkern wieder. Kein „Schickimicki Ryokan Abendessen“, sondern solide japanischen Hausmannskost mit viel frittierter Panade und noch mehr Reis.

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