Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Sonntag, 23. August 2009

Dienstag, der 24. März 2009, Tokushima, Katsuura Town, Ryokan Kanekoya

Der neunte Tag in Japan

Für 6.00 Uhr ist Wecken angesagt, wir wollen früh raus, aber leider wache ich schon früher auf, da das Haus so hellhörig ist, dass ich die Klospülung höre. Beim Frühstück treffen wir wieder auf Herrn Akadama. Er zeigt uns, dass man die kleinen, getrockneten Fischchen zum Würzen vom Reis benutzt. „Niboshi“ heißen, glaube ich, die Mini-Sardinen, die, wenn man nicht genau hinsieht, aussehen wie etwas krümelige Nudeln mit Pünktchen. Jetzt stellt er sich uns sogar mit Namen vor und wir tauschen Adressen, die wir auf die kleinen Namenszettel (osame-fuda) geschrieben haben, aus. So reichlich wie das Abendessen war, so mager ist jetzt das Frühstück. Auch das Problem mit den gekochten Eiern, wir bekommen diesmal ein panaschiertes Ei ohne Schale, lässt sich wieder nicht lösen. Ja kennen die Japaner keine hartgekochten Eier?

Zusammen mit Herrn Akadama wollen wir zu Tempel Nr. 20 (Kakurinji), der nur ca. 3 km entfernt liegt, wandern. Um Zeit zu sparen, habe ich meinen Rucksack schon gestern gepackt. Da ich morgens nur die Zähne zu putzen brauche, wandert meine Zahnbürste in eine Seitentasche meines Rucksacks und schon bin ich abmarschbereit. Da ich nach dem abendlichen Bad in Ermangelung von Schlafkleidung immer gleich meine Wandermontur anziehe, muss ich mich morgens nicht noch umziehen.

Beim Verlassen des Ryokans bekommen wir von der Wirtin ein Bild von Kōbō Daishi geschenkt. Ich klemme es in den Plastikumschlag meines Pilgerbuchs, da bleibt es sauber und wird nicht geknickt. Mein Pilgerbuch hüte ich wie einen Schatz. Auch wenn wir unsere Rucksäcke irgendwo lagern dürfen, habe ich immer beiden Pilgerbücher (eins für die offiziellen 88 Tempel, das andere für die Bangai Tempel) in meiner kleinere Tasche in einem wasserfesten Plastikbeutel. Auch mein Netbook, auf dem ich meine Fotos speichere, wird in einer solchen Tüte verwahrt. Glücklicherweise hat es noch nicht so viel geregnet, wie man uns angedroht hatte. Um 7.15 Uhr brechen wir auf zu Tempel Nr. 20. Hajo sagt noch, dass wir Herrn Akadama nicht lange folgen werden können, wenn er mit dem gleichen Tempo den Berg hoch marschiert wie er es gestern getan hat. Wenn wir Glück haben, treffen wir ihn im Tempel. Wir lassen ihn also ziehen. Während er dem Trail folgt, müssen wir die Straße nehmen, da Hajos Füße die Steigung wohl nicht mitmachen würden.

Mein Gott – nein - Namu Daishi Hengyō Kongō, wie es hier in der Langesprache heißt! Ist das ein Gekrachsel – wo stand eigentlich, dass es nur zwischen Tempel 11 und 12 so richtig zur Sache geht? Dieser Bergtempel (nansho) gehört auch in die Gruppe der Tempel „wo ein Pilger fällt“ (henro-korogashi), wenn er nicht aufpasst und auch der nächste Tempel, der Tairyuuji (Nr. 21), gehört in diese Kategorie.
Aua, die Oberschenkel schmerzen, die Knie schlottern und ich hechle wie ein Marathonläufer nach der Ziellinie. Meine Devise heute: „Nur nicht hochgucken“, sonst vergeht einem die Laune. Der Pilgerhut tut ein Übriges, damit der Bildausschnitt auf die 2 m vor mir beschränkt wird. Die Hoffnung auf Befestigung des Trails oder auf eine Art Treppen, wie es sie anfangs gab, zerschlägt sich, der Trail mäandert hier lose den Berg hoch und ich muss in jeder Kurve pausieren. Ich ziehe mich an meinem Wanderstock hoch, jetzt weiß ich warum ich ihn gekauft habe. Während ich ihn auf Flachstrecken eher mit mir herumschleppe, muss mein „Kōbō Daishi“ mich in den Bergen hochziehen bzw. bergab als Sicherungs- oder drittes Bein fungieren.

Exkurs Tempel Nr. 20 Kakurinji (鶴林寺)
„Der Tempel des Kranichwaldes“ wurde von Kōbō Daishi gegründet. Als er hier religiöse Übungen durchführte, erschien ihm in einer Zeder eine kleine, goldene Jizō Bosatsu Statue, die von zwei Kranichen bewacht wurde. Er schnitze eine ca. 90 cm Jizō Bosatsu Statue, in der er die kleinere aufbewahrte. Kaiser Kanmu gab dem Tempel den Titel „Offizieller Kaiserlicher Tempel (Chokugan-sho). Der ganze Tempelkomplex, hier auf dem Berg Washigao (500 m), umfasst 7 Schreine und 15 angeschlossene Tempel. So wurde unter dem Priester Shinzen allein 7 Hallen errichtet und auch Yoritomo und Yoshitsune vom Minamoto Clan, ersterer Shogun, der andere berühmter Feldherr, waren Förderer des Tempels.
Die Haupthalle (Hondō) stammt aus dem Jahre 1604 und die dreistöckige Pagode wurde 1827 errichtet, sie beherbergt eine Statue von Gochi Nyorai (Nyorai der 5 Weisheiten) und wird zu den Kulturschätzen der Präfektur Tokushima gezählt. Zwar kann heutzutage der Tempel auch mit Auto bzw. Bus über eine Straße erreicht werden, doch wird der steile Wanderweg des Pilgertrails noch heute „munatsuki“, die „Brust stechenden 800 Meter“ genannt.

Ein Schild weist den Wanderweg mit 3,1 km und die Autostraße mit 5,2 km aus. Trotz Hajos Handicap wagen wir den Wanderweg. Aber wir haben Pech, d.h. wir schaffen zwar die Strecke zum Tempel, aber leider hüllt sich dieser in Planen und Gerüste. Die Kraniche, die Symbol für langes Leben und Glück sind, zieren das Tor und haben den Platz der Wächterfiguren eingenommen. Auch am Haupttempel sind sie zu finden. Besonders interessant finde ich die mit Grünspan überzogenen Jizō Statue vor der dreistöckigen Pagode, aber auch die Pagode selbst, mit ihren Schnitzereien, macht Eindruck. Hier treffen wir auch Herrn Akadama wieder, der sich gerade auf den Weg zu Tempel Nr. 21, dem Tairyuuji, macht. Nachdem wir unseren Pilgerverpflichtungen nachgekommen sind, ein kleines Päuschen eingelegt haben, machen auch wir uns auf den Weg. Es geht wieder ins Tal, die ganze Anstrengung, die wir in die Erklimmung des Tempelberges gesteckt haben, war umsonst. Jetzt geht es wieder von Null auf ca. 600 m, die wir den nächsten Berg (Sancho) zu Tempel Nr. 21 ersteigen müssen. Auf dem Weg passieren wir eine Treppe mit weißem Geländer, die schnurstracks ins Tal führt. Wer ist bloß auf die Idee gekommen, hier ein solches Ungetüm in die Natur zu stellen. Normalerweise achten die Japaner immer darauf, die Trails möglichst natürlich zu gestalten. Es werden Steine verwendet, Holzbohlen, ja auch mal Asphalt oder Bohlenimitate, die wie Holz aussehen, aber das alles dient der Sicherheit des Pilgers. Eine Aufmunterung bekommen wir im Tal, dort haben die Dorfbewohner auf einem mit Denkmal und Rasthütte gestalteten Platz, Zitrusfrüchte hinterlegt. Das ist jetzt eine willkommene Erfrischung, obwohl ich die herb schmeckenden Orangen, nicht von den einheimischen, wie Klementinen schmeckenden, Satsuma Früchten (mikan) unterscheiden kann, erwische ich die süßere Mikan. Hajo isst eine Art Pampelmusenkreuzung (vielleicht eine Hyūganatsu), diesmal noch im gepelltem Ganzen, aber wie wir später erfahren werden, isst man diese, „bunta“ genannten Früchte, indem man sie aus ihren Häuten befreit. Auf Shikoku gibt es eine Vielzahl von Zitrusfruchtplantagen, der Trail führt manchmal direkt hindurch. Aber mit den ganzen Kreuzungen kenne ich mich sogar als Biologin nicht aus, so unterscheidet man hier Mandarinen in Mandarinen, Clementinen, Satsuma/Mikan, Organgen in Apfelsinen, Bitterorangen/Pomeranzen und Bergamotten, Pampelmusen in Pamelmusen/Pumelo, Grapefruits und Pomelos. Wir bekommen immer wieder diesen Früchten als Osettai (Pilgergeschenk) geschenkt. Da es zur Pilgeretikette zählt, diese nicht abzulehnen, auch wenn sie uns zu sauer sind, nehmen wir sie dankend an. Osettai bedeutet nicht, dass man es nicht auch weiterschenken darf. Es ist sogar erwünscht Osettais mit anderen Pilgern zu teilen.

Wir überqueren den Naka-gawa Fluß, bei dem etwa genauso viel Wasser wie Kiesbett zu sehen ist, und folgen dem kleinen Wakasugi-tanigawa Seitenfluss bis es wieder bergaufwärts geht. Pilger haben hier kleine Steinhaufen aufgeschichtet, die wie kleine Pagoden aussehen. Es soll den Pilgern Mut zusprechen, denn jetzt folgt ein ca. 1,3 km langer Anstieg auf 628 m. Im Pilgerführer war zwar die Reden von einer Seilbahn, doch die liegt auf der anderen Seite des Berges und außerdem sind wir Wanderpilger und keine Weicheier. Dabei mache ich mir weniger Sorgen um mich, als um meinen Marathon Mann Hajo, dessen Gehwerkzeuge uns wohl bei der derzeitigen Belastung durch Bergtempel in näherer Zukunft, eine Zwangspause aufdrängen werden.

Exkurs Tempel Nr. 21 Tairyūji (太竜寺)
„Der Tempel des imposanten Drachens“ geht auf den Namen des Berges zurück, auf dem er steht. Hier erschien dem ersten Kaiser Japans, Kaiser Jinmu (660–585 v. Chr.), während eines Vereinigungsfeldzugs das Bildnis eines imposanten Drachens. 798 gründete Kōbō Daishi den Tempel auf Geheiß des damaligen Kaisers Kanmu (737- 806; 50. Kaiser Japans), schnitze die Figur des Kokuzō Bosatsu. In seinem Buch „Sango Shiiki“ beschreibt Kōbō Daishi sein esoterisches Training hier auf dem Berg Tairyuu und wie er auch durch das 1000-malige Rezitieren des Kokuzō Mantras die Erleuchtung nicht erlangen konnte, dies sollte ihm erst später mit der gleichen Technik am Kap Muroto gelingen. Das Mantra, welches auch der Hauptgottheit des Tairyuuji Kokuzō Bosatsu gewidmet ist, lautet im Japanischen „Nōbō akyasha kyarabaya on arikya mari bori sowaka“. Übersetzt bedeutet es in etwa: „Ehre Dir – Träger des Raums, der eine Blume hält und mit Girlande und Krone geschmückt ist – svâhâ“.

Das Tor ist das älteste in der Präfektur Tokushima. 1861 wurde die Pagode und 1992 die Seilbahn gebaut. Etwas abseits vom Tempelkomplex liegt der historische Ort, „minamishihashin katake“ genannt, an dem Kōbō Daishi 100 Tage lang das Mantra rezitiert hat. Sehenswert ist auch das Bildnis des Drachens, im Gebäude „Jibutsudo“, welches rechts vom Pilgerbüro liegt. Aber Achtung, da das Bild an der Decke ist, muss man sich schon den Hals verrenken, um es in voller Pracht bewundern zu können.

Als wir im Tairyuji ankommen, bin ich total verschwitzt. Wie schon bei Tempel Nr. 12 friere ich und kann gar nicht so schnell zittern. Nachdem wir unsere Sutra rezitiert und unser Pilgerbuch signiert haben lassen, besuchen wir die Seilbahnstation, in der uns eine Tasse heiße Brühe angeboten wird. Das kommt mir gerade recht, ein wenig Wärme von innen.
Das ist hier ein richtig großer Tempelkomplex, er wird nicht ohne Grund „Koya-san des Westens“ genannt. Koyasan, in den Kii-Bergen in der Nähe von ōsaka gelegen, ist das Hauptquartier der Shingon Sekte, umfasst 121 Tempel und ist, neben der Autostraße, auch mit einer Art Seilbahn, einem kabelgetriebenen Zug, zu erreichen.

Wir treffen hier auch Herr Akadama wieder, ganz so schnell scheint der alte Herr wohl doch nicht zu sein – oder wartet unser Mitpilger etwa auf uns, damit wir nicht verloren gehen?
Der Name „Tempel des imposanten Drachens“ wird hier alle Ehre gemacht. Neben dem bereits erwähnen Drachenbildnis, gibt es hier unzählig Drachenabbildungen - so z.B. die Wasserspeier am Becken, einen geschnitzten Drachen in den Gläubige Münzen geklemmt haben, Drachenschnitzereien an Tempel und Pagode, ein kleiner Teich mit Drachenfigur, vor der ein Frosch flüchtet. Es ist alles recht weitläufig, aber ob wir den Meditationsort Kōbō Daishis gesehen haben, kann ich bei der Fülle an Plätzen, Figuren und Ebenen gar nicht sagen.

Wir machen uns auf den Weg und, man ahnt es, es geht wieder bergab, aber der nächste Tempel liegt zum Glück wieder im Tal, aber 11 km entfernt. Wir passieren eine Pilgerunterkunft mit hübschem Steingarten, aber im Ort Asebi, benannt nach einem blühendem Strauch, verlieren wir den Trail. Wir können einfach keine Pilgerschilder mehr finden. Wir laufen die Straße rauf bis zu Raststätte Wajiki, fragen dort und man schickt uns wieder die Straße runter. An der Tankstelle will man uns wieder in Gegenrichtung schicken, da sehen wir ein Bushaltestellenschild. Doch kaum laufen wir in Richtung Bushaltestelle, da brüllt ein Japaner uns auch schon hinterher. Ein Mann, den wir nie gesehen haben, mit der Kleidung eines Priesters und eine Zigarette zwischen den Fingern, winkt uns zu, dass der Trail in seine Richtung führt. Schnell haben wir ihn eingeholt. Wir hätten von da, von wo wir den Ort Asebi betreten haben, einfach nur geradeaus weitergehen müssen. Der Herr stellt sich uns als Kenji K… vor bzw. unsere Adressen tauschen wir erst später aus. Er ist ehemaliger Polizist und jetzt buddhistischer Priester. Wir müssen gemeinsam noch einen kleineren Berg meistern und wandern dann durch ein Dorf mit Feldern und Wiesen – Hajo mit dem Mönch plauschend voran und ich Fotos knipsend immer hinterher. Als wir an einem Busch vorbeikommen, erklärt der Japaner mir, dass der Busch „Asebi“ heißt und die Ortschaft, die wir eben passiert haben, ihren Namen von diesem Strauch hat.

Als wir im Tempel Nr. 22 ankommen, ich atme erleichtert auf, da wir nicht wieder einen Berg erklimmen müssen, erklärt uns unser Mitpilger, dass er heute kein Gebet mit uns sprechen wird. Er will jetzt seine Unterkunft „Sazanka“ hier in der Nähe aufsuchen, um morgen seinen Tag mit der Sutra-Rezitation beginnen zu könne.

Exkurs Tempel Nr. 22 Byōdōji (平等寺)
„Der Tempel der Gleichheit“ heißt so, weil die Hauptgottheit Yakushi Nyorai jeden von Krankheit heilt, ungeachtet von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Der Tempel wurde 815 von Kōbō Daishi gegründet, nachdem das Bildnis Yakushi Nyorais in einer fünffarbigen Wolke erblickte. Der Berg am Tempel wird auch „Weiß Wasser Berg“ genannt, nach dem milchig-weißem Wasser, das hier einer Quelle entspringt, die Kōbō Daishi gegraben hat. Er soll persönlich ein Bad darin genommen haben. Es wird besonders bei Augenleiden empfohlen, die Augen damit zu waschen bzw. auch ein Fläschchen zu füllen. Im Haupttempel haben Pilger, die auf der Pilgerreise Heilung ihrer Leiden erfahren haben, ihre Krücken, Beinschienen und andere Hilfsmittel zurückgelassen. Sehenswert sind auch die mit Blumenmotiven geschmückte Decke, sowie die Enma Halle mit den „10 Königen der anderen Welt“. Enma ist der Herrscher und Richter der Unterwelt, er befragt die Verstorbenen nach ihren Taten und kann sie wieder auf die Erde zurückschicken.
Als wir den Brunnen besuchen wundern wir uns, da es vielmehr eine Art Altar ist, der unten ein Loch hat, durch welches man das kostbare Nass schöpfen kann. Auf der Treppe zum Hondō (Haupthalle) liegen lauter blinkende 1 Yen Münzen. Auf jeder Stufe die gleiche Anzahl, so als hätte jemand bei jedem Schritt eine Münze fallen lassen. Auch am Tempelbüro sehe ich, wie Menschen 100 und 500 Yen Münzen in Kleingeld wechseln. Was es mit den Münzen auf sich hat, soll ich aber erst in Tempel Nr. 23 (Yakuōji) erfahren.

Nachdem wir uns von unserem Mönch verabschieden haben, überreicht er uns eine Art Waschlappen mit einem kleinen Mönch drauf, den er kurz zuvor im Tempelshop gekauft hat. Wir bedanken uns herzlich für diese Osettai (Pilgergeschenk) und tauschen Adressen aus. Da wir jetzt noch zum Bahnhof Aratano wandern werden, um den Zug Richtung Tempel Nr. 23 zu nehmen, der fast 20 km entfernt liegt, werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr sehen.

Als wir am Bahnhof von Aratano ankommen, traue ich meinen Augen kaum, aber mir war so als hätte ich Junior, den Studenten, den wir im Tempel Nr. 19 getroffen haben, gesehen. Er hat nur kurz um die Ecke geguckt, doch dann war ich abgelenkt, weil wir uns nach dem Zug und den Preisen erkundigt haben. Endlich waren wir so weit, ein Ticket in Händen zu halten, da fällt Hajo auf, dass wir ein Expressticket gekauft haben, aber das Ticket für den Normalzug („lokal train“) nur die Hälfte kostet. Ich verdrehe ich Augen und denke, dass das wieder Stunden dauern kann, bis wir am Ticketschalter den richtigen Fahrschein bekommen. Aber – oh Wunder – der Umtausch ist kein Problem, obwohl es anfangs doch hieß, es gäbe gar keinen Normalzug, nur den Express? Leider müssen wir eine Stunde länger warten, doch dann fahren wird von Aratano nach Hiwasa, oder müssen wir noch in Yuki oder Kiki umsteigen?

Kurz nach 17.00 Uhr treffen wir in Hiwasa ein, aber der Tempel Nr. 23, der Yakuōji, hat schon geschlossen. Wir fragen uns nach dem Hiwasa Youth Hostel durch. Der Eingang liegt etwas versteckt im Dunkeln. Da wir nicht vorbestellt haben, gibt es auch kein Essen. Auch die Diskussion mit dem Herbergsvater, der kein Englisch versteht, übers Frühstück verläuft ins Leere, aber dafür haben wir erst einmal ein Zimmer im Japanischen Stil, d.h. Reisstrohmatten (Tatami) und Futons. Wir legen nur kurz unsere Rucksäcke ab, Wertsachen nehmen wir natürlich mit, und laufen die Straße entlang, bis wir auf ein kleines, nettes Lokal stoßen. Hier bestelle ich mir ein Salat mit Hähnchenfleisch und auch Hajo isst etwas Ähnliches. Alles super lecker und man wird auch davon satt. Wir fragen hier noch nach dem Hiwasa Chelonian Caretta Museum, das Hajo morgen besuchen will. Wir haben zwar die Information darüber im Tempelführer, doch komischer Weise fehlen Informationen über die Öffnungszeiten und den Eintritt. Nachdem wir zur Jugendherberge zurückgekehrt sind, nimmt Hajo ein Bad, währenddessen schreibe ich mein Pilgertagebuch, übertrage die Fotos auf das Netbook und lade meine Akkus. Als ich an der Reihe bin, Hajo hatte mich vor der anfänglichen „braunen Suppe“ aus dem Wasserhahn gewarnt, ziehe ich es dann doch vor, nur eine kurze, kalte Dusche zu nehmen. Der Laden ist mir einfach etwas zu siffig. Wir besprechen noch schnell die Pläne für morgen und dann heißt es „o yasumi nasai“ – gute Nacht!

Montag, der 23. März 2009, Tokushima, Komatsushima City, Tatsue, Tempel Nr. 19

Der achte Tag in Japan

Um 6.00 Uhr ist Wecken angesagt, da es Frühstück ab 6.30 Uhr gibt. Pünktlich sitzen wir mit allen Leuten vom Abendbrot wieder am flachen Tischchen im Esszimmer. Hier wird uns auch gezeigt, dass man die Seetangstreifen auf den Reis legt, sie dann vorsichtig um ein bisschen Reis hüllt und die Rolle geschickt mit den Essstäbchen in den Mund befördert. Das japanische Frühstück ist gewöhnungsbedürftig, da nicht jeder Fisch und eingelegtes Gemüse (tsukemono) schon so früh herunterkriegt. Ich liebe japanisches Essen, aber ich glaube mein Stoffwechsel läuft am besten, wenn ich morgens Brot und Butter zu mir nehme. Was Süßes im Austausch gegen die doch recht kräftige Frühstückssuppe oder die Scheibe Lachs, da hätte ich kein Problem. Heute gönne ich mir sogar eine Tasse Kaffe, wenn es auch nur Instand- Kaffee ist, aber man wird anspruchsloser mit der Zeit.

Nachdem wir unsere Sachen gepackt haben und nochmals einen Kontrollblick ins Zimmer geworfen haben, zum Glück verstellen einem nicht allzu viele Möbel die Sicht, brechen wir um 7.00 Uhr auf. Herr Hinkebein erklärt Hajo, dass er noch zu Tempel Nr. 20 (Kakurinji) wandern wird, dann aber nach Hause zurückkehren muss. Da wir aber den Bangai Tempel Nr . 3 besuchen wollen, trennen sich hier wohl unsere Wege. Es ist schade, dass man so die vertrauten Gesichter aus den Tempeln aus den Augen verliert. Während die einen die 88 Tempel Tour laufen, gibt es Maßlose wie uns, die den Hals nicht voll kriegen und auch noch die 20 Bangai Tempel besuchen wollen. Aber man hat uns an Herz gelegt, wenn wir schon die Anstrengungen nicht scheuen, die Nebentempel zu besuchen, da sie den Besuch wert sind. Leider sind viele, aber nicht alle Bangai Temple so abgelegen, dass es meist einen ganzen Tag braucht, sie zu besuchen. Und einen ganzen Tag gegenüber einem anderen Wanderer aufzuholen, braucht des schon die doppelte Geschwindigkeit, dass ist kaum zu schaffen.

Auf unserem Weg zu Bangai Tempel Nr. 3 treffen wir Herrn Akadama wieder, der 70-jährige Japaner mit der „LR“ Aufschrift auf der Kappe. Er will ebenfalls zum Bangai Tempel und so bilden wir für kurze Zeit eine Wandergemeinschaft. Da die Bangai Tempel nicht in unserem englischsprachigem Kartenmaterial verzeichnet sind und wir auf die japanische Version unseres Kartenmaterials zurückgreifen müssen, ist es für uns ja fast lebensnotwendig, jemanden dabei zu haben, der auch Japanisch spricht bzw. zwischendurch vielleicht einmal nach dem Weg fragen kann. Da Hajo mal wieder eine Hüttenübernachtung geplant hat, kehren wir noch schnell bei einem Lawson Kombini ein und stocken unseren Proviant auf.

Im Tempelführer habe ich etwas von einer Hina-Ausstellung gelesen. „Hina“ sind Puppen, die anlässlich des Hina-Matsuris, dem japanischen Mädchenfest am 3. März, auf so eine Art Treppe aufgebaut und ausgestellt werden. Sie symbolisieren den mittelalterlichen Hofstaat mit Kaiser und Kaiserin, Gediensteten und Samurai. Es sind kostbare, meist handgefertigte Puppen, die entweder von Generation zu Generation weitervererbt oder auch als Sammelversion Stück für Stück zusammengekauft werden. Obwohl wir an einem Schild vorbeikommen, das das Ende der Ausstellung mit dem 22.03., also gestern nennt, sind viele Läden in der Kleinstadt, durch die wir kommen, noch voller Puppen. Die haben wohl noch nichts von der Legende gehört, nach der, wenn man die Puppen über den 3. März hinaus stehenlässt oder vergiss sie abzubauen, sich das Eheglück erst später einstellen wird. Wir treffen zufällig auf unsere Bekannten aus dem Tempel Nr. 19: Junior, der Student, und Herr Hinkebein. Wir fotografieren uns gegenseitig vor einer Puppentreppe, danach können wir ein Stück zusammen wandern, da sich die Wege erst in einem Örtchen namens Katsuura trennen.

Hier hat auch Herr Akadama im Ryokan Kanekoya reserviert. Kurzerhand ändern wir unsere Pläne mit der Hüttenübernachtung und fragen, ob noch zwei Plätze frei sind. Es gibt kein Problem und so lassen wir unsere Rucksäcke im Vorraum (genkan) stehen, während wir mit leichtem Gepäck Herrn Akadama in Richtung Bangai Tempel Nr. 3 folgen. Der Trail führt zwar über Straßen, ist aber so einsam, dass wir niemandem begegnen. Wir kommen an einer ehemaligen Schule (Sakamoto) vorbei, die man zur Henro (Pilger) Unterkunft umgewandelt hat. Kein Wunder, die liegt derartig abgelegen. Jetzt geht der Trail steil bergauf, zu steil für Hajo, der immer noch mit seinem Fuß bzw. der Achillessehne zu tun hat. Dann geht auch noch Hajos Wanderstock, so ein zusammenschiebbarer Treckingstock, kaputt. Wir müssen also den längeren Weg über die Straße nehmen, während unser Japaner flux den schnellsten Weg über den Trail nehmen kann. Wir wollen uns oben am Tempel treffen.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 3 Jigenji (慈眼寺)
„Der Tempel der Augen der Barmherzigkeit“ ist eigentlich eine Zweigstelle des Tempels Nr. 20 (Kakurinji), der etwa 12 km entfernt liegt. Nach einer Legende soll Kōbō Daishi hier im Alter von 19 Jahren einen Drachen mit Gebeten und Ritualen bezwungen und in eine Höhle gesperrt haben. War uns ein solcher Drache nicht schon bei Tempel Nr. 12 begegnet? Er hat ihn also in einer Höhle gefangen und eine 11-köpfige Kannon Statue als Honzon (Hauptgottheit) geschnitzt. Die Höhle gibt es heute noch und kann auch besichtigt werden, aber nur mit Kittel, den es im Pilgerbüro gibt und für 1000 Yen Eintrittsgeld. Das ist uns dann doch zu teuer, zumal davor gewarnt wird, wenn man zu groß oder zu dick ist. Die drei Kammern, von denen die letzte sich ca. 100 m hinter dem Eingang befindet, sollen derart eng sein, dass es als spiritueller Test gesehen wird, sich hier durchzuquetschen. Am Ende locken einen die Fähigkeit böse Geister aus seinem Körper zu vertreiben, eine leichte Geburt, Erfolg in Prüfungen, Gesundheit, Reichtum und allgemein großes Glück. Aber wer braucht das schon, wenn man riskieren muss, stecken zu bleiben. Für Japaner ganz OK, für uns Europäer eher nicht zu empfehlen, obwohl ich sonst für alles sehr aufgeschlossen bin.

Mich beeindruckt vor allem das seltsam anmutende Tor mit der Kannon Statue und der große Baum am Eingang. Hier treffen wir auch Herr Akadama wieder, der natürlich längst den Tempel erreicht hat. Es stand zwar im Tempelführer, dass es hier im Tempel eine Pilgerunterkunft gibt, aber das ist eine Fehlinformation. Vielleicht gibt es diese auch nur nach Voranmeldung, damit die Leute im Tempel eine Mindestanzahl zusammenkriegen, damit sich der Aufwand auch lohnt. Auf alle Fälle sind wir froh, einen Platz im Kanekoya gefunden zu haben und weder hier noch in irgendeiner Hütte unterkommen zu müssen. Wir wollen die Höhle hier nicht besuchen und auch für die Haupthalle, für die man noch etliche Stufen steigen muss, ist es heute keine guter Zeitpunkt, da Hajo immer noch mit seiner Hackse hadert und total kaputt ist. Wir versuchen für ihn einen Stock zu organisieren. Hier stehen auch eine ganze Menge hölzerner Wanderstöcke (kongozue) in einer Ecke, die von allzu eiligen Pilgern vergessen worden sind. Aber von denen will uns der Mönch aus dem Pilgerbüro keinen verkaufen und neue Stöcke gibt es hier auch nicht zu erwerben. Hajo „organisiert“ sich trotzdem einen und dann machen wir uns ganz schnell auf den Rückweg. Da der Trail für Hajo zu steil ist, lässt sich auch unser Japaner dazu überreden, mit uns gemeinsam den Rückweg über die Asphaltstraße anzutreten. Das ist zwar länger, ab auch sicherer. Also klingt es klack, klack, klack im Wanderstock Takt - hinab ins Sekigatani Tal.

Auf halber Strecke kommen wir an einem „Ding“ vorbei: Ein Turm aus Holzstämmen, die nur durch Keile gehalten werden. Auf einem Schild steht der Titel „Water Pagoda“, obwohl ich hier nicht viel Wasser sehen kann. Natürlich gibt es in der Umgebung viel Flüsse und auch einige kleine Wasserfälle, aber ob es sich um ein Kunstwerk oder lokales Brauchtum handelt ist mir schleierhaft. Bei einer späteren Internetrecherche stellt sich heraus, dass es eine Holzfäller Installation anlässlich des Nationalen Kulturfestival von Tokushima handelt, welches 2007 stattfand. Da wir jetzt einen anderen Weg zurück gehen, als den wir gekommen sind, gibt es einige Orientierungsprobleme. Aber unser Herr Akadamer kann sich durchfragen und so landen wir spät, aber wohlbehalten, im Kanekoya Ryokan.

Vor dem Essen wollen wir noch schnell ein Bad nehmen, da es hier ein Gemeinschaftsbad gibt, natürlich Männlein von Weiblein getrennt, muss man nicht warten, bis das Bad frei ist.
Ich entkleide mich also im Vorraum, lege meine Klamotten in den dafür vorgesehen Korb. Mit einem kleinen Handtuch als Waschlappen gewaffnet mache ich mich auf in den Waschraum. Bevor man sich im fast 40 Grad heißen Becken entspannen darf, muss man sich vorher gründlich einseifen und abspülen. Leider habe ich einige Probleme, das Wasser in Gang zu bringen, aber eine junge Japanerin zeigt mir, wie weit ich an der Armatur drehen darf, damit ich Wasser aus dem Duschkopf und nicht aus dem, in Kniehöhe liegenden, Hahn bekomme. Eigentlich holt man sich einen Hocker und schaufelt mit einer Schüssel das Wasser über den Kopf, doch da ich etwas in Eile bin, ziehe ich die schnelle Dusche dem Waschritual vor. Schnell noch ein paar Minuten im großen Becken entspannt, das schützt vor Muskelkater und tut auch sonst gut, und dann die Haare kurz angefönt, schnell angezogen, damit man fertig für das Abendesse ist. Aber ich habe mich ganz umsonst beeilt, gelangweilt sitzt Hajo auf so einem Massagesessel, der von den Füßen über den Rücken bis zum Hals alles massieren kann, und spielt damit rum. Wir holen uns aus einem Automaten schon mal, zur Einstimmung auf das Abendessen, eine Tasse Tee. Wir werden nicht enttäuscht: Das Essen ist lecker, reichlich und so hübsch dekoriert, das einem schon beim Anblick das Wasser im Mund zusammenläuft. Aber wir benötigen reichlich Kalorien, um die nächsten „Kilometer fressen“ zu können. Hajo bestellt sich Sake, den japanischen Reiswein, und stößt mit Herrn Akadama an. Leider landet der Reiswein, der in kleinen Flaschen serviert wird, größtenteils neben den viel zu kleinen Sake Schälchen, aber zum Probieren reicht es. Kanpai – Prost!