Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Montag, 14. Juni 2010

Freitag, 24.04.2009, Takamatsu City, Okadaya Ryokan

Der 40. Tag in Japan
Die Nacht ist kalt hier oben in den Bergen, aber zum Glück hatte ich mich entschlossen, im Okadaya Ryokan zu übernachten. So habe ich mich in meinen dicken Futon gekuschelt und die Nacht doch recht gut überstanden. Als Frühstück muss mein restlicher Proviant herhalten, aber um 6.00 Uhr bin ich schon wieder abmarschbereit. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Ryokan so gemütlich ist, sogar Sitzklos haben sie hier oben installiert. Was von außen wirkt wie ein kleines Lagerhäuschen, hat sie doch als gemütliche Unterkunft entpuppt. Als ich das Haus verlasse, bekomme ich von meinem Wirt noch eine Dose Tee als Osettai (Pilgergeschenk) überreicht. Ich laufe wieder zu dem Platz mit der Steinlaterne, den ich gestern fotografiert hatte, aber das Licht ist anders und die Atmosphäre ist dahin. Nach einem kurzen Blick ins Kartenbuch muss ich feststellen, dass ich auf diesem Weg wieder zurück zur Bergbahnstation im Tal komme, ich laufe also in Gegenrichtung zur Bergstation. Mir ist kalt und da es hier an der Station Automaten mit Fertigsuppen gibt, labe ich mich erstmal an einer warmen Möhrchensuppe. Hinter der Station Yakuri-sanjo verläuft die Straße 115 wieder ins Tal. Ich folge der Autostraße, die ich ganz für mich habe, da so früh kein Auto den Berg hochfährt. Von hier kann ich sogar einige Gebäude bei Tempel Nr. 84 sehen, ich glaube es ist die Hotel Ruine, an der ich am Vortag vorbeigekommen bin. Man kann jetzt auch sehr gut Erkennen, das der Komplex auf einem Plateau liegt, anders als auf dem Gokensan Berg, wo der Tempel kurz unter der Bergspitze liegt. Ich wandere so vor mich hin, da schreckt mich ein Fasan auf. Jetzt bin ich ganz ohne Koffein hellwach, was so ein bisschen Adrenalin am Morgen doch ausmacht. Bis ich das Tal wieder erreicht habe, oder sollte ich es besser Hafen oder Küstenlinie nennen, läuft mir noch ein Golden Retriever vor die Füße, merkwürdig – als Gebrauchshund wäre er wohl angekettet gewesen, aber als Schoßhund würde man auf ihn mehr achtgeben. Da hat sich der Schlingel wohl von zuhause davongestohlen.

Ich passieren einen kleinen See mit WC-Häuschen, hier gibt es auch einen hübschen Blauregen unter dem Bänke stehen, die zum Verweilen einladen, aber für eine Pause ist es noch zu früh. Ich sehe Steinfiguren inform von Eulen und einem Buddha mit Türmchen, passiere einen neu aussehenden Schrein und bin schließlich wieder am Meer. Hier gibt es auch wieder die Schutzanlagen, die verhindern sollen, dass bei ungünstigen Wetterverhältnissen das Meerwasser in die kleinen Flüsse gedrückt wird und so Überschwemmungen ausgelöst werden. Ich trage noch eine Pilgerhütte in mein Kartenmaterial ein, an der ich hier vorbeikomme. Ich jetzt wandere zwischen Meer und Bahnlinie, mein Weg sollte mich direkt in den Shidoji Tempel (Nr. 86) führen. Ein Kombini (24-h-Laden) der „Daily Yamazaki“ Kette, in dem ich meinen Proviant aufstocken wollte, gibt es nicht mehr. Verwundert wandere ich an einem alten Gebäude vorbei, dass wie eine alte Schule aussieht. Aber warum es mit Stacheldraht gesichert ist und so vor sich hin gammelt, anstatt entweder abgerissen oder renoviert zu werden, weiß ich nicht. Genauso eigenartig ist ein Gebäude mit der deutschen Aufschrift „Autobahn“. Es könnte ein pleitegegangenes Autohaus oder ein Ersatzteilverkauf gewesen sein. Das hohe Gebäude steht auf alle Fälle leer. Endlich sehe ich ein blaues Verkehrsschild mit der Aufschrift „Shidoji Temple“ und kurz darauf stehe ich vor zwei Steinstelen, hinter denen sich der Tempelbezirk erstreckt.

Exkurs Tempel Nr. 86 Shidoji (志度寺)
“Der Tempel des Wunscherfüllung” bezieht sich auf eine Legende die „Ama no Tamatori“ („Taucherin beschafft die Juwelen wieder“) heißt, die sich wie folgt zugetragen haben soll: Als die Tochter von Fujiwara Kamatari (614–669; Gründer der Fujiwara Klans), einem einflussreichen Politiker und Freund des Kaisers Tenji (626-672; 38. Tennō), nach China reiste, um die Konkubine des Tang Kaisers Taitsung zu werden, gab ihr der Vater drei Kleinodien mit. Als der Vater jedoch starb, schickte sie die Juwelen mit einem Schiff zurück, da ihr Bruder Fubito sie für den Bau des Kōfukuji Tempels (669; als Yamashina-dera) in Nara brauchte. Der Legende nach soll das Schiff jedoch in der Shido Bucht auf Grund gelaufen und die Kleinodien vom Drachen König, der über das Meer herrscht, gestohlen worden sein. Nun machte sich Fubito persönlich daran, sie wiederzubeschaffen. Er heiratete eine einheimische Taucherin (jap. Berufsbezeichnung „ama“), die ihm einen Sohn gebar. Nachdem Fubito ihr das Versprechen gegeben hatte, ihren Sohn als Erben einzusetzen, beschaffte sie die Juwelen vom Grunde des Meeres. Dadurch zog sie den Zorn des Drachen Königs auf sich und mit einer List, die sie ihr Leben kostete, brachte sie die Kleinodien wieder an die Oberfläche. Sie schmücken heute die Stirn der Shakuson Statue im Kōfukuji (zentrale Halle Chūkondō) in Nara. So wurde ihr Sohn Fusasaki Stammvater des nördlichen Zweigs der Fujiwara Familie.

Eine andere Legende besagt, dass der Tempel 626 von einer Nonne namens Han Sonoko gegründet wurde, die die Yakushi Halle erbaute und aus einem Stück Holz, welches sie in der Shido Bucht gefunden hat, die Statue der elfgesichtigen Kannon geschnitzt hat. Eigentlich datieren die Ursprünge des Tempels viel früher, denn der Honzon (Haupthalle) stammt aus dem 6. Jahrhundert, zur Zeit der Kaiserin Suiko (554-628; 33. Tennō). 681 soll oben erwähnter Fujiwara Fuhito seiner verstorbenen Frau ein Grabmal errichtet haben, man nannte diese Örtlichkeit von nun an „heilige Stätte von Shido“. 693 habe sein Sohn, Fusasaki, Gebäude für den Gottesdienst für seine Mutter errichtet lassen und den Tempel „Shidoji“ genannt haben. Ob der Mönch Gyōgi (668-749) dabei involviert war oder nicht bleibt offen. Zwischen 810 und 824 kam Kōbō Daishi hierher, von ihm soll auch der Honzon (Hauptgottheit), die Juuichimen (elfgesichtige) Kannon stammen. Zusammen mit den Figuren von Fudō und Bishamonten zählen sie heute zum „Nationalen Schatz“. 1670 wird der jetzige Tempel mit Geld von Matsudaira Yorishige, Herrscher von Takamatsu, erbaut. Sehenswert ist der Landschaftsgarten aus der Muromachi-Periode (1333 –1568), der von Hosokawa Katsumoto (1430-1473), einem hohen Staatsbeamten und Erbauer des berühmtesten Zen-Gartens in Japan (Ryōan-ji in Kyoto), gestaltet wurde. Das Wächtertor (niōmon), die Haupthalle (hondō) und die fünfstöckige Pagode, die aus dem Jahre 1973 stammt, sind ebenfalls sehenswert..

Auf mich wirkt das Gelände etwas verwahrlost, vor allem die vielen kleinen Nebengebäude. Auch der so hoch gepriesene Landschaftsgarten macht auf mich den Eindruck, als sei es nur ein eingetrockneter und überwucherter Teich. Aber ich habe vielleicht auch nicht den Blick für solche japanischen Kunstfertigkeiten geschärft. Immer dann, wenn etwas sehr einfach, schlicht und wie dahingeworfen aussieht, kann das hohe Kunst sein. Denn um etwas einfach aussehen zu lassen, bedarf es jahrelangen Studiums und viel Erfahrung. Ich denke dabei z.B. an einen Kreis, den man als Übung auf einem Stück Papier zieht. Oberflächlich betrachtet ist es nur ein einfacher Kreis, bei dem sich noch dazu einzelne Pinselhaare selbständig gemacht haben. Aber schon mal versucht, so einen perfekt runden Kreis mit einem großen japanischen Pinsel zu ziehen? Sieht einfach aus, ist in der Durchführung aber mit viel Übung und Erfahrung verbunden – eben Kunst.

Die Dachreiter hier, sie gehen wahrscheinlich auf die Legende der Taucherin zurück, finde ich besonders interessant, da sie je nach Auslegung sowohl kleine Meerjungfrauen, als auch japanische Engel (Absaras) darstellen könnten. Ich verlasse den Tempel und halte nach einer Möglichkeit Ausschau, ein kräftiges Frühstück einzulegen. Als ich ein Schild für ein McDoof sehen, ziehe ich Geschmacksfäden – für so einen schönen Cheeseburger ist es ja eigentlich noch zu früh, aber hier in Japan sollte man alles rund um die Uhr kaufen können. Aber ich werde enttäuscht, da es gerade mal 10.00 Uhr ist, wird hier im „Drive-in“ nur Frühstück serviert – also keine Burger. Zum Glück gibt es nebenan einen Sunkus Kombini (24-h-Shop), in dem ich mir eine japanische Pizza (okonomiaki) und eine Portion Nudeln reinziehen kann. Meinen Proviant stocke ich ebenfalls auf.

Nach einer Flachlandetappe geht es wieder in die Berge, vielleicht erreiche ich mein Ziel, Tempel Nr. 88, heute noch. Ein Verkehrsschild verkündet mir, dass es bis Tempel Nr. 87 (Nahaoji) noch 4 km, bis zum Kikaku Park 6 km und bis zum Zieltempel Ōkuboji (Nr. 88) noch 20 km zu absolvieren sind. Während ich den Kikaku Park links liegen lassen werde, hier könnte ich noch den Usa Hachiman Schrein besuchen, werde ich auf alle Fälle im „Maeyama Ohenro Kouryu Salon“, eine Art Pilgermuseum, einkehren. Zurzeit laufen zwei Pilger vor mir mit roten Rucksäcken und zwei andere folgen mir. Das sind die ersten Wanderpilger, die ich seit langer Zeit wieder sehe. Dass man wie früher als Wanderpilgerkollegen von Zeit zu Zeit in den Tempeln wieder trifft, ist wohl fast ausgeschlossen, da mich die Nebentempel (Bangai) so viel Zeit gekostet haben, so dass ich meine Bekannten nicht mehr einholen konnte. Aber manchmal will man gar nicht auf bestimmte Dinge treffen. So z.B. auf das Tofu-Auto, dass mich seit geraumer Zeit verfolgt und mit seiner Lautsprecheranlage mit der Ansage „Tofu Watanabe wa oshii desu – ikaga desu“ geradezu in den Wahnsinn treibt. Es bedeutet so viel wie „Watanabe Tofu ist so lecker – wie wäre es? Da der Verkaufswagen hier im Schritttempo durch das Wohngebiet fährt, wird der Abstand zwischen mir und der Nervensäge nicht größter. Man merkt zunehmens, dass man dem Ziel der Pilgerreise näher kommt. Überall sind Schilder aufgestellt, auf denen Pilger abgebildet sind. Aber schließlich stehe ich dann doch vor dem Nagaoji Tempel und werde prompt von einer Japanerin auf Englisch angesprochen. Sie fragt mich nach meiner Pilgerreise, die ich jetzt schon fast geschafft habe. Sie selber ist ein Urlaubspilger, d.h. sie läuft die Pilgerreise etappenweise während ihres Urlaubs. Dieses Jahr wird sie die Pilgertour der 88 Tempel vollenden - nach fünf Jahren. Im Nagaoji ist sie nicht nur zum Beten, sondern will zusammen mit ihren Begleiterinnen zu Mittag essen. Das war mich allerdings neu, dass man nicht nur Shokubō, also Übernachtung mit Frühstück und Abendessen, in einem Tempel angeboten wird, sondern auch zusätzlich Mittagessen.

Exkurs Tempel Nr. 87 Nagaoji (長尾寺)
„Der Tempel des langen Schwanzes“ wurde 738 von Gyōgi (668-749) auf Anordnung des Kaisers Shōmu (701-756; 45. Tenno) gegründet, er hat auch die Statue der Shō Kannon aus Weidenholz als Honzon (Hauptgottheit) geschnitzt. Bevor Kōbō Daishi nach China reiste, legte er hier ein Versprechen ab, bei dem er an den ersten sieben Tagen des Januars das Goma Feuerritual durchführte und dabei Talismane an die beteiligte Bevölkerung verteilte. Dies war der Ursprung für das „Daikaiyōfuka Ubai“ („Ritus, um das Glück zu jagen“), eine Art Rennen, das alljährlich stattfindet und bei dem große Mochis (Reiskuchen aus gestampftem Reis) eine Rolle spielen. Um das Jahr 825 wurden die meisten Gebäude erneuert. Im 16. Jahrhundert brannte der Tempel wie so viele andere auch nieder, wurde aber mit Hilfe von Ikoma Kazumasa (1555-1610), 2. Daimyo (Landesherr) von Takamatsu wiederaufgebaut. Auch 1681 war es der Landesherr von Takamatsu, diesmal Matsudaira Yorishige, der Geld und Land für den Tempel stiftete. Während dieser Zeit konvertierte der Tempel auch vom Shingon zum Tendai Buddhismus. Bemerkenswert ist das Grab von Shizuka Gozen, Geliebte von Minamoto Yoshitsune, die sich nach dem Tod des Geliebten (1189) hier im Tempel als Nonne ordinieren ließ. Noch heute geht der Name Shizuka Yakushi, eine Einsiedelei wo sie damals gelebt hat, und der Name Tsuzumi-ga-Fuchi Teich, auf ihre Anwesenheit zurück. Es gibt ein Niōmon (Wächtertor) und ein „Onari“ genanntes Tor.

Mit „langem Schwanz“ könnte ein langer Ast einer Pinie gemeint sein, der hier quer über den Weg zur Haupthalle wächst. Das Grab der edlen Dame habe ich leider nicht gesehen, aber so hübsch war der Tempel dann doch nicht. Ich finde es immer etwas pietätlos, wenn Autos hinter dem Eingangstor auf dem Tempelgelände parken, aber vielleicht ist das die Anpassung des Tempels, der hier auch Mittagessen anbietet. Während der Eingang zum „Tempelrestaurant“ doch hübsch gestaltet ist, mit einem kleinen Garten mit Brunnen, man hat sogar einen roten Schirm aufgestellt, wirkt das Uhrenhäuschen neben der Steinstatue irgendwie deplaziert. Das Kanji (Symbolzeichen) für „Zeit“ besteht zwar aus den Zeichen für „Sonne“ und „Tempel“, doch sollte man bei einem Tempelbesuch, wo man Ruhe und Einkehr sucht, nicht unbedingt an die galoppierende Zeit erinnert werden.

Ich verlasse den Tempel wieder, um mich auf den Weg zum Pilgermuseum zu machen. Ich passiere Autos, auf die die Besitzer ihre Futons (japanische Betten) ausgebreitet haben. Was ich früher für eine Schutzmaßnahme von autobesessenen Japanern gehalten habe, stelle sich dann als Desinfektionsmöglichkeit für die Futonbetten heraus. Japaner sind nämlich der Meinung, dass man Futons nicht nur regelmäßig lüften und bewegen sollte, nein, die direkte Sonneneinstrahlung, vor allem das UV Licht, soll auch im Futon befindliche Krankheitserreger unschädlich machen! Deshalb sieht man überall an den Häusern Futons hängen. Dabei muss ich noch erwähnen, dass so ein Balkon in Japan eine ganz andere Aufgabe hat als bei uns. Während wir den Balkon als Gartenersatz zum Entspannen und allenfalls zum Rauchen nutzen. Stellt er in Japan eine Art Abstellraum und Wäschekammer dar. Hier wird Überflüssiges, was man nicht in die ohnehin viel zu kleinen Wohnungen unterbringen kann gelagert. Zusätzlich sind hier Halterungen angebracht, an denen die großen Trockenstangen hängen, auf die dann Wäsche oder besagte Futons befestigt sind. Der Gebrauch dieser ausziehbaren an die 3 Meter messenden Trockenstanden geht auf die Verwendung von Kimonos zurück. Früher hat man diese Stangen einfach von Ärmel zu Ärmel gezogen, um die verhältnismäßig großen Stoffmengen besser trockenen zu können.

Aber zurück zum Trail, der hier am Kabe Fluss entlang bis zum Maeyama Damm führt. Hier am Staudamm liegt auch das Pilgermuseum, dem ich einen Besuch abstatte. Im Museum werde ich auch gleich herzlich begrüßt. Ein älterer Herr, der etwas Englisch spricht, quetscht mich bei einem Schluck Tee aus, da er mir eine Pilgerurkunde ausstellen möchte. Wir tauschen sogar noch Visitenkarten aus, das sollte ihm erleichtern, meinen Namen zu schreiben. Ich bekomme auch noch einen Pin, so einen kleine Anstecknadel mit Henro Logo, geschenkt. Als Osettai (Pilgergeschenk) überreicht er mir eine Packung Kekse und ich muss schmunzeln, da ich diese Art von Butterkeksen aus Deutschland kenne. Aber als er mir ein weißes Band mit getrocknetem Obst übergibt, bin ich mir dann doch nicht sicher, um was es sich handelt. Aber ich bedanke mich herzlich und starte meinen Rundgang durchs Museum. Hier ist alles Mögliche zusammengetragen worden, was die Pilgerreise betrifft: Alte Pilgerkleidung, Pilgerbücher, Zeitungsartikel und sonstige Berichte. Auf einer Wand sind die 88 Tempel mit Bild und Karte aufgelistet, hier kann man sogar seine Namenszettel (osamefuda), sollte man es bei einem Tempel vergessen haben, nachträglich abgeben. Als ich das Museum verlassen will, spricht mich der alte Herr abermals an und zeigt mir auf einer Karte, die er mir mitgibt, dass der Weg zu Tempel Nr. 88 über den Kurusu Schrein zurzeit nicht passierbar ist. Da ich ohnehin die „Alte Pilgerroute“ einschlagen wollte, die mich um die Berge Nyotai und Yahazu herumführt, muss ich meine Pläne also nicht umstoßen. Ich will nämlich noch den Bangai Tempel Nr. 20 besuchen und der liegt leider in Gegenrichtung zum Ōkubōji (Nr. 88). Ich plane deshalb in einem Ryokan mit Namen Takeyashiki Unterkunft zu suchen, um mein Gepäck dort zu deponieren, da der Nebentempel (Bangai) Besuch mich mindestens einen Tag kosten wird.

Es hat mittlerweile angefangen zu regnen und so gebe ich den Plan auf, den Tempel Nr. 88 schon heute zu besuchen. Ich versuche also im Takegashiki Ryokan einzuchecken, finde jedoch nicht gleich den Eingang und lande in einem Shop. Leider spricht die Verkäuferin nur wenig Englisch, so dass meine Frage nach dem Preis für zwei Übernachtungen, obwohl ich sie nochmals in Japanisch und nach vielfachem Nachfragen, falsch beantwortet wird. Das ist so der Horror eines jeden Japanreisenden. Man kehrt in einen schlicht wirkenden Ryokan ein, denkt sich nichts Böses dabei und muss dann so richtig teuer bezahlen. Als Ausländer kann man leider nur schlecht zwischen echter Schlichtheit und künstlicher oder kunstvoller Schlichtheit unterscheiden. Zwar gibt mir die gute Frau ein kleines Zimmer, ich soll jetzt doch 10.500 Yen bezahlen, doch leider war hier wohl der Wunsch Vater des Gedankens, denn je mehr ich mich hier umsehe, desto unglaubwürdiger finde ich es, das ich für meine kleine Besenkammer nur so wenig bezahlen soll. Oder war das jetzt eine Sonderpausschale für den unkundigen Ausländer?. Als ich bezahlen will, wiegelt die Dame ab, erst beim Auschecken. Aber als ich das Abendessen zu mir nehme, kullern mir vor lauter Wut die Tränen ins Essen. Das Essen ist so fein und aufwendig hergerichtet, dass kann nur bedeuten, dass es 10.500Yen immerhin fast 80 Euro, für eine Übernachten sind. Ich weiß zwar, dass Ryokans vornehmlich ihr Essen verkaufen und dass die Übernachtungsmöglichkeit eigentlich zweitrangig ist, wohingegen ein Businesshotel vor allem die Übernachtung und weniger das Essen verkauft, aber die Einschätzung von Preisen fällt einem dann doch recht schwer. Zumal man als Ausländer in nicht so nobeln Ryokans meist die besten Zimmer bekommt, die dann aber wiederum schon die teuersten sind. Ich will ja nicht als geizig gelten und natürlich kann man sich auch zum Abschluss dieser Tortour was Gutes gönnen, aber ich will dann das doch selber entscheiden und mich nicht fühlen, als hätte man mich, wenn auch unwissentlich, aufs Kreuz gelegt. Nachdem ich mich wieder gefasst habe, bestehe ich darauf heute zu zahlen, damit ich morgen sehr früh starten kann. Mein Plan für morgen sieht wie folgt aus: Zum Tempel Nr. 88 wandern, um den Pilgerbucheintrag zu holen und Gepäck zu deponieren, sich dann auf den Weg zum Bangai Tempel Nr. 20 machen und von dort wieder zurück. Aber es soll alles anders kommen, weil ich bis jetzt einfach zu gut durchgekommen bin!

Donnerstag, 23.04.2009, Takamatsu City, Momoya Ryokan

Der 39. Tag in Japan
Gerädert erwache ich hier direkt am Bahnhof – vor ständigem Schrankengebimmel, Lichterflackern und Gewackel habe ich kaum ein Auge zugekriegt. Es gibt hier keine Vorhänge und jedes Mal, wenn ich mich umgedreht habe, hat der hölzerne Untergrund gequietscht. Mein Frühstück besteht heute aus den restlichen Bananen und einem kleinen Kuchen vom Vortag. Als ich mich gegen 6.00 Uhr zum Abmarsch in Richtung Tempel Nr. 83 aufmache, ziehe ich mir noch eine „Frühstückscola“ am Automaten vor dem Ryokan. Der Trail führt im Zickzack durch ein Wohngebiet. Das ist ganz schön kompliziert, den Trail nicht zu verpassen, da man genau an der richtigen Kreuzung abbiegen muss.

Ich sehe hier viele kleinere Felder, passiere eine Bonsai Baumschule und versuche, an einem grauen (ISDN) Telefon nach Deutschland zu telefonieren. Hier im Land der Handys und UMTS, wo jeder ohne „Cell phone“ als Einsiedler gilt, ist es ein Glücksfall, noch ein öffentliches Telefon zu finden. Es gibt sie in mehreren Farbvarianten, von denen die orangen nur für lokale Gespräche und die grünen auch bei überregionalen und Auslandsgesprächen funktionieren. Ein Sonderfall sind die grauen Telefone, die über eine ISDN Leitung verfügen und Anschlussstellen für Computer aufweisen. Das Telefonieren mit so einer „International & Domestic Card“, ich hatte mir die „KDDI Super World Card“ gekauft, ist dann noch einmal eine Wissenschaft für sich.Während ich anfangs die Telefone für defekt hielt, da es kein Freizeichen gab und auch kein Display etwas anzeigte, wenn man den Hörer abnahm, kam mir später die Idee, dass nun nicht alle Telefone defekt sein könnten. Und - oh Wunder - nachdem man eine Münze eingeworfen hatte, begann der Apparat seine Arbeit aufzunehmen. Will man nun mit so einer Telefonkarte, die keine Karte im herkömmlichen Sinne ist, telefonieren, muss man erstmal den ganzen Schwanz an Nummern eingeben, der auf der Karte bzw. Zettel vermerkt ist. Aber man darf auch nicht zu schnell tippen, da man die Computerstimme am anderen Ende abwarten muss. Wenn man dann noch die richtige Ländervorwahl (49) hat und diese ohne „0“ und auch die deutsche Vorwahlnummer wählt, kann man guter Hoffnung sein, dass nach Eintippen der Telefonnummer sich am anderen Ende jemand meldet. Es sei denn, man hat sich verrechnet und ruft mitten in der Nacht zu Hause an. Bei ca. 8 Stunden Zeitverschiebung erleichtert das richtige Timing die Verbindung zur gewünschten Zielperson. Ich hätte zwar auch ein Handy bzw. eine SIM-Karte für ein Handy mieten können, der Verkauf an Ausländer im Zuge des Anti-Terrorismusgesetztes verboten wurde, aber man konnte mir nicht garantieren, dass die Geräte auch in den Bergen und auf der ländlichen Insel Shikoku funktionieren würden. So hatte ich darauf verzichtet, obwohl man im Flughafengebäude von Kansai durchaus Shops für solche Zwecke gibt.

Aber wieder zurück auf den Trail, der mich meinem ersten Ziel für heute, Tempel Nr. 83, näherbringen soll. Drei Pilger mit diesen kleinen 35 l Rucksäcken überholen mich, wir grüßen und ziehen ansonsten aber unserer Wege. Während sie dem Zickzack Trail unter dem Takamatsu Expressway (Autobahn) folgen, laufe ich hier am Koto Fluss auf einem als Fahrradweg ausgezeichneten Pfad entlang. Das Flussbett ist hier weitläufig. Da der Fluss nicht so viel Wasser führt, sind die Uferbereiche saftig grün. Fischreiher und anderes Getier tummeln sich hier. Von Zeit zu Zeit kommt auch mal ein Radfahrer vorbei. Da die japanischen Fahrräder immer extrem kurze Sättel haben, so dass der Abstand zu den Pedalen sehr klein bleibt, erinnern mich die Fahrer immer an den Spruch „Affe auf Schleifstein“. Die Knie werden bei Treten immer sehr hoch vor den Körper gezogen, es sieht unbequem mehr wie BMX-Fahren aus als wie eine entspannte Fahrradtour. Aber auf alle Fälle kommen diese „Schleifstein Affen“ schneller voran als ich. Jetzt muss ich aber aufpassen, dass ich die richtige Brücke erwische, damit ich den Weg zum Tempel finde. Wenn ich hier die Brücke überquere, müsste ich demnächst auf einen „Koban“ genannte Polizeibox treffen. Das sind kleine Häuschen bzw. Container, in der ein ortskundiger Polizist Dienst tut. Sollte man den Weg verlieren oder eine Adresse nicht finden, hier in Japan werden die Straßen nicht alle benannt, kann man hier nachfragen. Aber große, blaue Verkehrsschilder zeigen mir den Weg zum Ichinomiyaji Tempel (Nr. 83) und geben mir weiter Auskunft, dass Tempel Nr. 84 (Yashimiaji) in 18 km Entfernung liegt. In der Nähe werde ich dann wohl auch meine Unterkunft suchen müssen.

Exkurs Tempel Nr. 83 Ichinomiyaji (一宮寺)
„Der erste Schrein Tempel“ wurde 704 von dem Mönchsgelehrter und Vertreter der buddhistischen Hossō-shū Schule Gien (644-728) noch unter dem Namen „Dahō-in“ gegründet. Erst 716 bekam er den heutigen Namen, der sich auf den Tamura Schrein in seinem Innenhof bezieht. Zu jener Zeit bekam auf kaiserlichen Befehl jede Provinz ein Provinzschrein („Ichinomyia“). Aber laut Tempelführer war es Gyōgi (668-749), der den Tempel damals umbenannt hat. Zwischen 806 und 810 wurde der Tempel-Schrein von Kōbō Daishi wiederaufgebaut, er schnitze als Honzon (Hauptgottheit) eine stehende Sho Kannon Figur und brachte sie im heutigen Daishidō (Daishi Halle) unter. Wie so viele andere Tempel auf Shikoku brannte auch der Ichinomiyaji im 16. Jahrhundert nieder. 1679 wurden Tempel und Schrein auf Anordnung des Herrschers von Takamatsu, Yorishige Matsudaira, offiziell voneinander getrennt und 1701 als Sanuki Ichinomiya („Schrein Tempel von Sanuki) wiederaufgebaut. Bemerkenswert sind die vielen kleinen Shinto-Tōri (rote Tore), durch die der Pilger auf Knien kriechen muss, damit er sich vom schlechten Karma und von bösen Mächten befreien kann. „Ichinomiya Goryō“ werden die drei Steintürme genannt, die aus dem 13. Jahrhundert (vermutlich 1247) stammen und den drei Göttern des Tamura Schreins, der legendäre Kaiser Kōrei (342 – 215 v. Chr.; 7. Tennō), Momosohime und Isosaseri-no-Mikoto, gewidmet sind. Während ich ersteren noch finden kann, ist über die beiden anderen nichts im Internet aufzutreiben. Ich schätze, dass es sich vielleicht um eine Prinzessin handelt, da das Wort „hime“ darauf hindeutet. Aber da es viele Homophone (gleich klingende Worte) im Japanischen gibt, bin ich mir nicht sicher. Auch „Mikoto“ ist lediglich eine Ehrenbezeichnung („Erlauchtheit“) für Shintogötter (kami), so wie das „Nyorai“ der buddhistische Ehrentitel („Erleuchteter“) für Buddhas ist. Aber ich möchte noch „Jigoku no kama“, den „Kessel der Hölle“ erwähnen, der, wenn man als sündiger Pilger seinen Kopf in dieses niedrigen „Steinschrank“ steckt, sich seine Tore schließen und einen den Kopf eingeklemmt wird, wenn nicht Schlimmeres.

Der Tempeleingang des Ichinomiyaji ist mit einem einfachen Sanmon bestückt, obwohl der Begriff „Bergtor“ hier nicht ganz passt, da der Tempelbezirk eben nicht an oder auf einem Berg liegt. Ich suche erstmal das hübsche Toilettenhäuschen auf, anstelle eines Waschbeckens steht hier ein Steinbecken mit Schöpfkelle. Nachdem ich meine Sutren rezitiert habe durchstreife ich das Gelände. Während ich die niedrigen „Krabbel-Tōri“ nicht finden kann, werfe ich einen Blick auf den „Höllenkessel“. Aber auch die anderen Details, wie die Statuen, eine geschlossene Lotosblüte, die lustigen Dachreiter in Form eines Ochsen und seines Bauer, sowie den Altarraum mit seinen prächtigen Laternen habe es mir angetan. Ich entdecke eine hübsche Ecke mit Laterne und Moos überwachsenen Stein, wenn da nicht die hässliche Wasserrinne vom Dach verlaufen würde, wäre es richtig effektvoll. Jetzt muss ich aber weiter und als ich dem Trail weiter folge, stelle ich fest, dass ich mal wieder den Tempel durch den Hintereingang betreten habe, denn hier steht das prächtige Eingangstor, das sowohl Niō (Wächterfiguren) als auch riesige Strohsandalen (waraji) aufweist. Ich folge der Straße Nr. 172. Auf dem Weg zu Tempel Nr. 84 kehre ich noch bei einem Lawson Kombini (24-h-Shop) ein. Ich kaufe mir ein Reiseset zum Zähneputzen, da mir eine Zahncreme langsam ausgeht und ich keine große Tube mitschleppen will. Auch erstehe ich noch etwas zu Essen, da ich im Ritsurin Park, einem berühmten Landschaftsgarten, eine Pause machen möchte. Da ich der Meinung bin, gut in der Zeit zu liegen, gönne ich mir heute einen Abstecher. Vor dem Park hole ich nochmals Geld von der Post. Wenn ich bedenke, wie viel Probleme wir anfangs mit der Geldbeschaffung hatten, bin ich heilfroh, dass es hier so viele Postämter gibt. Vor dem Park warten Taxis, sie sind meist pechschwarz und oft sieht man die Fahrer mit Staubwedeln die Oberfläche säubern. Japanische Taxifahrer sind da sehr gewissenhaft. Ich selber könnte nicht sagen, ob da noch ein Körnchen Staub drauf gelegen hat oder nicht, aber das ist hier so Prinzip: Alles muss perfekt sein!

Als ich den Ritsurin Park erreiche, weiß ich erstmal nicht, wo es reingeht bzw. das weiß ich schon, nur wo kann ich eine Eintrittskarte kaufen. Fälschlicher Weise betrete ich das Verwaltungsgebäude, in dem ich mit fragenden Blicken begrüßt und dann auf ein Tickethäuschen verwiesen werde. Man hat hier die Wahl, sein Ticket bei einer Person zu kaufen oder sie aus dem Automaten zu ziehen. Service wird in Japan noch „groß geschrieben“ und falls eine Warteschlange am Schalter zu lang sein sollte, kann man sich auch am Automaten selbst bedienen. Auf in den Ritsurin Park, der hier vor mehr als 300 Jahren angelegt worden und in ganz Japan berühmt ist! Einem Schild ist zu entnehmen, dass zurzeit besonders die Kirschen, Wisterien (Blauregen) und Azaleen, sowie ein Strauch der hier „Dogwood“ (Hundestrauch) genannt wird, blühen. Letztere gehört in die Familie der Hartriegelgewächse und wird in Deutschland auch „Kornelkirsche“ genannt. Es ist ein Strauch dessen Blüten aus vier weißen Blütenblättern besteht, in dessen Mitte ein grüner „Knubbel“ sich später zur essbaren Frucht entwickelt. Aber ich werde beim Durchwandern des Parks, leider kann ich nur einen kleinen Teil besuchen, von einer Horde Katzen überrascht. Hier mache ich dann noch eine Pause mit cremegefüllten Brötchen, bei der ich die jungen Katzen beobachten kann, die hier mit den Koi Karpfen spielen oder bilden die sich etwa ein, sie könnten die Fische erbeuten? Der Park ist herrlich!

Exkurs Riturin Park (von einem Schild im Park)
„Es wird vermutet, das dieser Park auf den Garten zurück geht, der nahe Shōfuda in der Genki und Tansho Ära (1572-1593) vom lokalen Herrscher Sato erbaut worden ist. Um das Jahr 1625 wurde vom Herrscher von Sanuki, Ikoma Takatoshi, der Bau eines Gartens am Südteich mit dem picturesken Berg Shiu im Hintergrund, initiiert. Dies wurde auf Matsudaira Yorishige, älterer Bruder von Mito Mitsukuni, Herrscher über Takamatsu im Jahre 1642 übertragen. Nach 100 Jahren der Erweitung und Verbesserung durch die folgenden Herrscher, wurde der Park unter der Regentschaft des 5. Herrschers Yoritaka im Jahr 1745 vollendet. Bis zur Meiji Restauration, 11 Generationen lang, wurde der Ritsurin Park als zweiter Wohnsitz der Matsudaira Familie genutzt. Der Park besteht aus zwei Teilen – dem Südgarten und dem Nordgarten, mit insgesamt 6 Teichen und 13 Felsen. Der Nordgarten, den man früher für die Entenjagd nutzte, wurde im frühen 20. Jahrhundert in den modernen Garten umgewandelt, den man heute hier besichtigen kann.“

Ein weiters Schild gibt über eine Gruppe von Pinien (Kiefern) Auskunft, die anlässlich eines Besuches von Mitgliedern der japanischen und britischen Königsfamilie eigenhändige gepflanzt worden sind. Man zählt für das Jahr 1914 Prinz Chichibu, Prinz Takamatsu und den damaligen Kronprinzen und späteren Kaiser von Japan Hirohito (1926–1989) auf, wobei die Pinie des letzteren 2005 einem Blitzeinschlag zum Opfer fiel. 1922 war es der Onkel von Queen Elisabeth II., Prinz von Wales Edward Albert, auch bekannt als Edward VIII, welcher der Liebe wegen auf den Thron verzichtete. Und im Jahre 1923 Prinzessin Nagako, spätere Kaiserin Kojun und Ehefrau Hirohitos, sowie im Jahre 1925 Prinzessin Kitashirakawa.

Der Park mit seinen vielen Brücken, Teichen mit Schildkröten und sogar einem Teehaus ist wundervoll. Alles ist so hübsch grün und großzügig, so dass man den Beton Dschungel der Großstadt vergisst. Nur die Seerosen blühen leider noch nicht in ihrer vollen Pracht.

Jetzt mache ich mich aber wieder auf den Weg. Doch als ich hier zwischen den Hochhäusern der Stadt Takamatsu, was so viel wie „hohe Pinie“ bedeutet, entlang laufe, überholt mich ein Auto und bremst plötzlich kurz hinter mir. Ich warte, dass was passiert, dass jemand aussteigt - aber Fehlanzeige. Schließlich springt dann doch noch eine Frau aus dem Auto und übergibt mir eine Dose Tee und einen schildkrötenförmigen Schlüsselanhänger mit viel Verbeugen und „Ohenro-san“ („Ehrenwerte Frau Pilgerin“). Ich will mich noch bedanken, aber da ist sie schon wieder ins Auto gesprungen. Mein Gott - sind die Japanerinnen schüchtern!

Ich laufe eine ganze Zeit an der Straße Nr. 11 entlang, der Abzweiger zum Yashima Plateau, auf dem der Tempel Nr. 84 liegt, darf ich nicht verpassen. Aber ich habe was ganz anderes im Sinn, da ich im naheliegenden Fluss wilde Schildkröten beobachte. Nach einem kurzen Blick in die Karte stehen meine Pläne fest: Ich will hier in der Nähe des Bahnhofs Kotoden-yashima in die Jugendherberge einchecken, mein Gepäck dort lassen und für den Rest des Tages den Tempel Nr. 84 besuchen. Aber ich habe mal wieder nicht mit den japanischen Geflogenheiten gerechnet, denn als ich mich endlich die steile Straße hoch gequält und den Zugang zur Jugendherberge gefunden habe, ist die verrammelt. Das Gebäude sieht verlassen aus, obwohl ein Schild mir Hoffnung gemacht hatte, das es die gesuchte Jugendherberge ist. In der Nachbarschaft suche ich Leute, die mir Auskunft geben könnten. Zum Glück finde ich einige freiwillige Helfer, die hier wohl den nicht vorhandenen Verkehr regeln. Ein an mir vorbeischlendernder Pilger schenkt mir einen Schoko-Bonbon, aber da Smalltalk schwierige ist, er spricht mal wieder kein Wort Englisch, weiß ich nicht warum er diese Straße hoch wandert, da dort nur die gebührenpflichtige Autostraße hoch läuft bzw. der der Trail zum Tempel auf der anderen Seite entlang geht. Gefrustet mache ich mich wieder auf den Trail und versuche die eingetragenen Unterkunftsmöglichkeiten zu erkunden. Aber Fehlanzeige, hier stehen so viele Häuser bzw. die Nachfrage bei den freiwilligen Helfern hat keine klare Antwort ergeben, wo und ob die anderen Unterkünfte hier zu finden sind. So mache ich mich dann also auf den Weg, den Yashimaji Tempel zu besuchen und das mit vollem Gepäck! Ich schleppe mich hier den mit Steinplatten ausgelegten Weg hoch, muss mich aber an einer roten Cola Bank verpusten. Hier ist es so steil, dass Schilder darauf hinweisen, damit man sich nicht hinfällt. Aber irgendwann stehe ich dann vor dem ersten der Eingangstore, das mit herkömmlichen Niō (Wächterstatuen) bestückt ist. Das zweite Tor hat keine hölzernen Wächter, sondern aus Metall gegossene, die noch dazu in einem schön gestalteten, mich an ein chinesisches Fenster erinnernde, Holzkonstruktion stehen.

Exkurs Tempel Nr. 84 Yashimaji (屋島寺)
„Der Tempel der Dach Insel“ würde die Bedeutung der Kanji wiedergeben, aber vielleicht auch „Tempel auf dem Plateau“, da es hier das Yashima Plateu gibt, auf dem der Tempel gestanden haben könnte, bevor er von Kōbō Daishi Richtung Süden versetzt worden ist. Davor hieß der Tempel Nanmen-zan („Berg, der nach Süden blickt“) und soll 754 von einem chinesischen Mönch namens Chinen-Chen (jap. Ganjin) unter dem Namen Fugendō auf seinem Weg nach Osaka gegründet worden sein. Später hat Keiun Ritsushi hier eine Halle errichtet und wurde erster Oberpriester. 815 bestieg dann Kobō Daishi auf Anordnung des Kaisers Saga (786-842; 52 Tennō), den Berg und versetzte den Tempel nicht nur gen Süden, sondern konvertierte ihn von der Ritsu Schule zu einem Shingon Tempel. Der Legende nach wurde der Daishi von einem alten Mann mit Regenmantel auf dem nebligen Berg herumgeführt. Dieser soll einst ein Tanuki (Maderhund) gewesen sein, der von der Gottheit Kannon in den Menschen Yashima Tasaburō verwandelt worden ist und ihr fortan als Bote gedient haben soll. Daraufhin habe der Daishi die Haupthalle (Hondō) in einer Nacht errichtet und für sie die Statue der elfgesichtigen (juuichimen) und 1000-armige (senju) Kannon geschnitzt haben. Ende des 12. Jahrhundert fand hier in der Nähe eine der letzten Schlachten der „Gempei Kriege“ („Minamoto-Taira-Kriege“), einer Auseinandersetzung der konkurrierenden Minamoto (bzw. Genji) und Taira (bzw. Heike) Klans, statt. Der Konflikt begann im Jahr 1156. Der abgedankte Kaiser Sutoku, uns bereits bekannt, und der regierende Tennō Go-Shirakawa, sein Halbbruder, hatten erhebliche Differenzen, die zu einer militärischen Auseinandersetzung führten. In diesem Konflikt unterstützten die Taira unter Taira Kioyomori den amtierenden Kaiser und gewannen. Die Minamoto standen diesmal noch auf der Verliererseite, ihr Oberhaupt wurde hingerichtet. Nach fünf Jahren Krieg und vielen Schlachten, fand 1185 die entscheidende Seeschlacht bei Danoura statt, aus der die Minamoto erfolgreich hervorgingen. Von Minamoto Yoritomo hatte ich im Zusammenhang mit der Hōgen Rebellion (1156) schon berichtet. Dieser nutzte den Besatzungszustand Japans aus, um seine Kamakura-Regierung und die damit verbundene Zeltregierung (bafuku), eigentlich Beamtenregierung, zu installieren. Das Museum auf dem Tempelgelände ist dieser vorletzten Schlacht gewidmet. Es gibt Relikte, Rüstungen und Bilderrollen, die die Geschichte der beiden rivalisierenden Klans zeigen. Eine Glocke von 1223 erinnert noch heute an den Niedergang der Taira.

Das ist hier schon ein beeindruckender Tempelkomplex: das Museum mit seinem postmodernen Design, die steinernen Tanuki Figuren (Marderhunde) mit dem Schrein und die vielen großen und kleinen Gebäude. Die unzählige Statue und vor allem der große Vorplatz machen so richtig Eindruck auf mich. Aber ich will mich hier nicht lange aufhalten, da ich meine Pläne umstellen muss. Nachdem ich meine Pilgerverpflichtungen erfüllt habe, mache ich mich wieder auf den Weg, diesmal aber an der anderen Seite des Berges entlang zum Gokenzan, auf dem der nächste Tempel auf mich wartet. Hierzu muss ich allerdings wieder ganz nach unten in die Stadt laufen, um dann durch das Hafengebiet wieder zum nächsten Tempelberg hinaufzukraxeln. Ich muss mich von der herrlichen Aussicht, die ich von hier oben habe wieder losreißen, aber auf meinem Weg nach unten treffe ich immer wieder auf interessante Örtlichkeiten. Schilder geben Auskunft welche Helden hier den Tod gefunden haben. Während ich am Anfang auf den Blättern, die auf dem Trail liegen, fast ausrutschte, ich hätte wohl doch nicht diesen steilen Trail wählen dürfen, verläuft der weitere Weg einige Zeit über die vorher erwähnte Autostraße, um dann durch ein Wohngebiet zu führen. Hier treffe ich auf zwei alte Damen, die ihre Einkäufe mit einer Schubkarre den steilen Hang hochschieben. Mit einem von Herzen kommenden „ganbatte“ (Geben sie Ihr Bestes; nur Mut!) versuche ich, den beiden älteren Damen Mut zuzusprechen. Aber so halten sich die beiden Damen auch fit, die werden bestimmt nicht an Bewegungsmangel sterben. Es ist jetzt knapp 16.00 Uhr, ich liege gut in der Zeit, um noch den nächsten Tempel in mein Pilgerbuch aufzunehmen. Aber die Henrozeichen sind hier nicht eindeutig – zum Glück kann ich aus der Ferne eine Seilbahnstation erkennen. Ich vertüddel mich zwar kurz vorher in einem Wohngebiet, kann aber dann doch noch die Seilbahn zum Tempel besteigen. Es ist keine Seilbahn im strengen Sinne, sondern eine Schienenbahn, die an einem Seil den Berg hochgezogen wird. Zusammen mit einigen älteren Damen und Herren stürze ich dann kurz vor 17.00 Uhr aus der Bahn zum Pilgerbüro.

Exkurs Tempel Nr. 85 Yakuriji (八栗寺)
„Der Tempel der acht Kastanien“ liegt auf dem Gokensan, „Fünf Schwerter Berg“, und beide Namen gehen auf Legenden zurück, die Kōbō Daishi betreffen. Bevor Kōbō Daishi 804 nach China reiste, vergrub er hier 8 geröstete (!) Kastanien, die, nachdem er von seiner Reise zurückgekehrt war, zu 8 stattlichen Bäumen ausgewachsen waren.

Als der Daishi 827 hier die Morgensternmeditation vollzog (Gumonjihō), erschienen ihm fünf Schwerter und die Shinto Gottheit Zaō Gongen, die ihn auf die Heiligkeit des Berges hinwies. Die Schwerter vergrub er in einer Höhle und gründete den Tempel. Da der Berg ebenfalls fünf große Felsen auf der Spitze aufwies, war der Name nicht unbegründet. Als Honzon (Hauptgottheit) schnitze er eine Shō Kannon Figur. Der Tempel erblühte, fiel jedoch im 16. Jahrhundert Chōsokabe Truppen zum Opfer und wurde niedergebrannt. Zwischen 1592 und 1596 erneuerte ein Priester namens Muhen den Tempel, 1642 der Herrscher von Takamatsu. 1709 wurde der Tempel von Matsudaira Yoritoyo (1680-1735) an seine heutige Stelle versetzt. In der Shōten Halle von 1676 (auch Kangiten Halle) wird der elefantenköpfigen Hindugottheit Ganesha gehuldigt, dessen Statue von Kōbō Daishi stammen soll. Auf alle Fälle wird die Statue nur alle 50 Jahre der Öffentlichkeit präsentiert, sie steht für Erfolg im Job, harmonische Beziehungen und allgemeines Glück – ein Leben lang.

Nach dem Eintrag in mein Pilgerbuch (nokyocho) kann ich getrost meinen Pilgerverpflichtungen nachkommen und mich in Ruhe auf dem Gelände umsehen. Hier Tempel und Schrein auseinander zu halten ist schwierige, schon das Tempeltor erwartet den Pilger mit eigenartig grün bemalten Wächterfiguren. Es gibt hier Statuen in Hülle und Fülle, aus Stein, Metall und Holz. Kannon als Honzon (Hauptgottheit), eine sitzende Statue eines Priesters, vielleicht Muhen? Nach einer kurzen Treppe eine Minipilgertour der 88 Tempel, und die 13 Buddhas des Shingon Buddhismus. In den Fels sind Nischen gearbeitet in denen Buddhas stehen, Gorintos (5-stufige Steintürme) sind ebenfalls in den Fels geritzt. An einer verborgenen Stelle zwischen den Gebäuden entdecke ich eine Sammlung von Getas (hölzerne Sandalen) und Strohsanalen in allen Größen – was es damit wohl auf sich hat? Ich überlege, da die Sonne langsam untergeht, wo ich hier eine Unterkunft finden könnte. Im Tempel geht es nicht, da hier kein Shokubō (Tempelunterkunft) angeboten wird. Ich könnte in der Hütte neben der Bergbahnstation schlafen, aber ich weiß nicht wie kalt es hier auf dem Berg werden kann. Ich passiere noch eine Ladenzeile und stehe vor einer Steinlaterne, als mir die fantastische Aussicht über Takamatsu auffällt. So im Sonnenuntergang wirkt das alles sehr idyllisch. Laut Kartenmaterial gibt es hier zwei Ryokans. Ich nehme also mein Herz in die Hand und schiebe einfach die Tür zum ersten Gebäude auf der linken Hand auf und rufe laut „sumimasen“. Und - oh Wunder - es kommt sogar jemand, den ich nach einem Zimmer fragen kann. Der Wirt lässt mich bei einem Glas Eistee warten, da mein Zimmer noch gesaugt und hergerichtet werden muss. Sie hatten wohl so spät nicht mehr mit Gästen gerechnet. Ich bezahle 3350 Yen für die Übernachtung, ohne Essen, aber glücklicher Weise hatte ich genug Proviant gebunkert, um sowohl Abendessen als auch Frühstück davon zu bestreiten.

Mittwoch, 22.04.2009, Utazu Town, Ryokan Sanuki

Der 38. Tag in Japan
Da es heute das Frühstück erst um 6.30 Uhr gibt, habe ich meine Sachen schon vorher gepackt und bin nach dem Essen abmarschbereit. Meine Pläne sehen vor, heute Tempel Nr.79 und Nr. 80 zu besuchen, das wäre so um die 12 km. Die beiden folgenden Tempel Nr. 81 und 82 liegen jeweils auch um die 6 km voneinander entfern, allerdings in den Bergen, was mein Planung erschwert. Ich könnte auch vor Nr. 80 eine kürzere Bergroute wählen, um erst Nr. 81 zu besuchen, dann müsse ich aber nur für Nr.80 ins Tal steigen und den gleichen Weg erneut bezwingen. Aber ich muss jetzt erst mal den Weg zum Tennōji (Nr.79), dem Kaisertempel, finden.

Der Trail verläuft hier in der Stadt Sakaide direkt durch eine Einkaufspassage. Wieder begegne ich Schulkindern, die gemäß der Information meiner Wirtin aus dem Zentsuuji, ihrem Geschlecht entsprechend farbliche Schultaschen tragen. Aber wo geht es jetzt zum Tempel? In diesem Gebiet scheint es mehrere Tempel zu geben. Zum Glück ist im englischen Kartenmaterial immer neben dem Namen des Tempels in lateinischen Lettern (Romaji) auch der Name in japanischer Symbolschrift (Kanji) vermerkt. So kann ich zur Not die Kanji miteinander vergleichen. Im Tempelführer wird davor gewarnt, den Schrein mit dem Tempel zu verwechseln. Als ich bei einer Hütte vorbeikomme und die beiden anwesenden Damen nach dem „Tennoji“ frage, werde ich auch prompt weiter geschickt. Leider wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass diese Hütte, in der man auch Tee und andere Leckereien kaufen kann, direkt neben der Yasoba genannten Quelle liegt, in der der Leichnam des Kaisers Sutoku „frisch gehalten“ worden ist (siehe 36. Tag – Kotohira Schrein). Etwas weiter treffe ich auch auf ein Schild, dem zu entnehmen ist, dass es hier in der Nähe auch einen Miniaturpilgerpfad gibt. Da die Zahl 33 erwähnt wird, könnte es einer der Kannon gewidmeten Pilgerpfade sein, zu denen die Saikoku (33 Tempel in Westjapan, Gebiet Kansai – Großraum Ōsaka und Kyoto), die Bandō (Gebiet Kanto – Kamakura und Großgraum Tokyo) und die Chichibu (34 Tempel; Saitama) gehören. (Siehe auch: http://www.onmarkproductions.com/html/kannon-pilgrim.shtml)
Auch in diesen Gebieten gibt es Shingon Tempel, denn das Wirken von Kōbō Daishi ist zwar auf Shikoku konzentriert, aber nicht beschränkt. Sowohl auf meiner späteren Kumano-Kodo Pilgertour zu den Großschreinen von Kumano, als auch auf der dort anschließenden Saikoku Tour, wird mir Kōbō Daishi in Tempeln und Legenden immer wieder begegnen.

(Infos über Kagawa siehe auch: http://waoe.org/steve/kagawa/)

Exkurs Tempel Nr. 79 Tennōji (天皇寺)
Die Tempelführer berichten nicht schlüssig, wer nun den „ Kaisertempel“ oder auch „Kaiser Sutokus Tempel“ gegründet haben soll. Ursprünglich wurde der Tempel jedoch Kōshō-in genannt. Der Legende nach war es Yamato Takeru (82-113), der auf Geheiß seines Vaters, Kaiser Keiko (60-130; 12. Tennō), einen Monster Fisch in der Seto-See besiegt haben soll. Das Ungetüm hatte schon 88 seiner Männer gefressen, als er ihm mit Feuer den Garaus machte. Das Monster war besiegt, aber seine Männer mehr tot als lebend, als plötzlich ein Jungen mit Wasser erschien. Das gute Wasser rettete allen Männer das Leben und die Quelle, Yasoba („Ort an dem 88 wiederbelegt wurden“), ist eben die Quelle des Tempels Nr. 79. Die gute Qualität dieses Wassers war wohl auch Ursache dafür, dass der Leichnam des Ex-Kaisers Sutoku hier 21 Tage lang aufgebart werden konnte bis er am Shiromine Berg (Tempel Nr. 81) eingeäschert wurde. Der eine Tempelführer berichtet, dass Nr. 79 von Gōgi (668-749) zu seinen Lebzeiten gegründet wurde, eine anderer grenzt es auf die Zeit zwischen 810 und 824 ein, wo Kōbō Daishi die Quelle besucht haben soll. Hier bekam er auch eine Inspiration die elfgesichtige Kannon Bosatu (juuichimen kannon) als Honzon und Amida Nyorai und Aizen Myōo als Begleiter zu schnitzen. Aizen Myō, ein ursprünglich aus dem Hinduismus (indische Religion) stammende Gottheit, brachte Kōbō Daishi persönlich aus China mit nach Japan. Er gehört zwar zusammen mit Fudō Myōō in die Kategorie der „5 Großen Weisheitskönig“, er kann Begierde in Erleuchtung umwandeln, wird aber nicht zu den 13 Buddhas des Shingon gezählt. Auch eine Steinstatue des Yakushi soll Kōbō Daishi geschaffen und sie der Quelle, die heute ca.100 m hinter der Haupthalle liegt, gewidmet haben. Im 12. Jahrhundert wurde, wie berichtet, Ex-Kaiser Sutoku nach der Hōgen Rebellion (1156) nach Sanuki ins Exil geschickt. Er wohnte in Konomaru Goten in Tsutsumigaoka, welches in der Nähe des Tempels liegt. Als er an einem Liederabend bzw. Literatentreffen teilnehmen wollte, wurde er ermordet. Kurze Zeit später wurde auf Anordnung des Kaisers Jijō (1143-1165; 78. Tennō, Sohn von Go-Shirakawa), der die Rache Sutokus fürchtete, ein Schrein („Niojo“) errichtet.
Zwischen 1573 und 1592 brannten alle Tempelgebäude nieder, erst 1682 wurde sie wiederaufgebaut. Während der Meiji-Zeit (1848-1912) verfiel der Tempel zunehmend bis der Haupttempel Kōshoin die Kontrolle über den Tennōji übernahm. Im Tempelführer wird berichtet, dass jährlich etwa 100.000 Pilger den Tempel besuchen, von denen ist aber nur ein einziger Ausländer, und der stammt meist aus Indien.

Als ich das Gelände betrete, ist es menschenleer. Mir ist fast etwas unheimlich, wenn es nicht Tag wäre und die Sonne so schön scheinen würde, müsste ich fürchten, dem Geist von Sutoku hier zu begegnen. Mir reicht aber schon eine kurze Stippvisite am Schrein, als ich etwas abseits endlich den Tempel finde. Auf mein Klingeln wird die Scheibe des Pilgerbüros mit einem Poltern aufgerissen, da bekomme ich dann doch einen Schreck. Diesmal wäre es mir wirklich lieber gewesen, der Tempel hätte vor Buspilgern nur so gewimmelt. Aber nach einem kleinen Päuschen verlasse ich diesen eigenartigen Ort. Ich frage mich noch, warum der Schrein hier so aufwendig gestaltet worden ist und habe die Geschichte von Sutoku im Hinterkopf. Während das rote Schrein Tōri (shintoistische Tor) mit seinen Seitentoren das auffälligste ist, das ich je gesehen habe, weist der Tempel gar kein Tor auf. Nur ein großer Fels und Steinstelen mit Schriftzeichen verkünden hier, dass es sich um den Kaisertempel handelt. Es folgt noch ein weiteres Beton Tōri, aber dann lasse ich den Tempel-Schrein-Komplex hinter mir. Ich passieren ein Schild, das neben der Aufschrift „koko wa abunai“ (Hier Gefahr!) einen verschreckten Fisch und einen Kappa (Gurken liebende Sagengestallt) zeigt, die wohl warnen sollen, damit hier niemand ertrinkt. Und schon wieder ein Love Hotel mit der Aufschrift C III – Tropical Asian.

Ich sollte laut Plan an einer Pilgerhütte vorbeikommen – doch wo ist die Pilgerhütte? Weil ich nicht ganz so neugierig wirken will, spaziere ich flotten Schrittes an einem Privathaus vorbei. Aber anscheinend gewähren sie hier den Pilgern Unterkunft, da ich Pilgerzeichen und einen am Eingang aufgehängten Pilgerhut entdecken kann. Außerdem steht hier so eine blaue Bank mit roter Schrift, wie ich sie sonst nur aus Tempelanlagen kenne. Eine Spende des Kerzenherstellers, der so Werbung für seine Produkte macht.

Da ich demnächst eine Bergetappe erwarte, stocke ich in einem kleinen Laden meinen Proviant auf und komplettiere mein Futterpaket mit einigen Kleinigkeiten aus dem nahe liegenden Lawson Kombini (24-h-Shop). Der Wind, der mich schon seit Marume begleitet, weht auch hier um die Ecken. Mir stockt fast das Herz, als ein Windstoß meint Kartenbuch erfasst und die wichtigen Seiten der noch zu besuchenden Tempel davon weht. Da kann aber einer mit vollem Gepäck schnell rennen! Mit einem Tritt auf die vor mir flatternden Seiten habe ich die Ausreißer dann doch wieder gestellt. Nicht auszudenken, wenn ich ausgerechnet jetzt, so kurz vor dem Ziel, die so wichtigen letzten Seiten verlieren würde. Da bei meinen Regenwanderungen das Kartenbuch immer ein paar Tropfen abgekommen hat und ich auch sonst etwas rabiat mit dem guten Stück umgegangen bin, hatten sich die Seiten gelöst, so dass ich mit einer Blattsammlung vorlieb nehmen musste. Das hatte aber auch seine Vorteile, da man so ein Blatt schnell wegstecken kann und es nicht so aufwendig ist, als würde man jedes Mal das ganze Buch rauskramen. Hier müsste ich eigentlich noch eine zweispurige Autobrücke überwinden, aber ich bin mir unschlüssig, wo es lang geht. Ich entscheide mich dann doch die Abfahrt entlang zu laufen und nicht erst auf die Brücke zu spazieren und liege richtig. Da der Tempel Nr. 80 hier nicht weit von der Straße liegt, muss ich nicht viel klettern, um zu ihm zu erreichen.

Exkurs Tempel Nr. 80 Kokubunji (国分寺)

„Der offizielle Staatstempel“ der Provinz Sanuki bzw. Kagawa wurde 741 von Gyōgi (668-749) auf Anordnung des Kaisers Shōmu (701-756; 45. Tennō) gegründet, um für die Sicherheit der Nation, eine gute Ernte und das Wohlergehen der Bevölkerung in diesen Provinzen zu beten. Der Tempel ist gemäß der ca. 5 m großen Kannon Statue (hibutsu), die sowohl elfgesichtig („juuichimen“) als auch tausendarmig („senju“) ist, der Göttin der Barmherzigkeit gewidmet. Ob Gyōgi auch noch eine kleinere, 5 cm messende Kannon für den Hondō (Haupthalle) geschnitzt hat, bleibt unklar. Auf alle Fälle soll Kōbō Daishi die große Statue nach einem Brand ausgebessert haben. Die Haupthalle (hondō) stammt aus dem 10. Jahrhundert, sie und der Glockenturm überstanden als einzige das 16. Jahrhundert als Chōsokabes Truppen brennend durch das Land zogen. 1901 wurde die große Kannon Statue zum „Wichtigen Nationalen Kulturgut“ gezählt, 1903 die Haupthalle (hondō). 1941 wurde die Kupferglocke, die zwischen 710 und 794 gegossen worden sein soll, zum „Nationalen Schatz“ erklärt. Letzte ist Hauptgegenstand vieler Legenden, von denen eine beschreibt, wie 1609 der Herrscher von Takamatsu, Ikomoa Kazumasa (1555-1610) die Glocke nach Schloss Takamatsu bringen ließ. Der Glocke aber war kein Laut zu entlocken und auch der Herrscher litt plötzlich an einer unbekannten Krankheit. Kazumasa übereignet die Glocke daraufhin wieder dem Kokubunji Tempel und - oh Wunder, er erholt sich von seiner Krankheit und die Glocke leutet mit lieblichem Klang! Auf dem Gelände des Kokubunji befinden sich heute noch 33 Grundsteine des Original-Hondōs (Haupthalle) und 15 Grundsteine der ehemals siebenstöckigen Pagode.

Dass dies der größer Kannon Hondō (Haupthalle) der Pilgerreise sein soll, fällt mir nicht unbedingt ins Auge, denn die schönen Pinien, die schon vor dem Haupttor wachsen, haben es mir angetan. Wie die Japaner mit Holzlatten und Draht es immer wieder schaffen die Bäume so wachsen zu lassen, wie sie wollen, ist beeindruckend. Da kann so ein Ast schon mal mehrere Meter lang werden und schützend über dem Tor entlang wachsen. Die eigentliche Attraktion, die riesige Hibutsu Kannon Statue, finde ich leider nicht. Leider vergesse ich dann auch danach zu fragen, da der Tempelbezirk vor lauter interessanten Statuen nur so wimmelt. Ich sehe natürlich eine steinerne Kōbō Daishi Statue, aber auch eine zum eigenhändigen Vergolden, ebenso ein Kaiserpaar, das wohl zum angrenzenden Schrein gehört. Die 7 Glücksgötter sind hier ebenso vertreten, wie Fudō Myōō und Buddhas Fußabdrücke (bosussoseki). Es gibt hier wieder eine Jizō Sammlung, die sich im Keller des angrenzenden Gebäudes fortsetzt. Die Göttin Benten, Schutzpatronen der schönen Künste, auch mal ohne ihre 6 Kollegen und weitere unzählige Details, von denen ich mich nicht losreißen mag, da ich weiß, dass der anstrengenste Teil des Tages oben in den Bergen auf mich wartet. Ein bewunderndes „sugoi“ (großartig, Wahnsinn) des Schreibers im Pilgerbüro beim Durchblättern meines Pilgerbuchs baut mich dann wieder auf. Nur noch 8 Tempel, dann habe ich mein Ziel erreicht, wenn ich von den drei letzten Bangai Tempeln (Nr. 19, Nr. 20 und Nr. 1) absehe. Ich mache mich also wieder auf, um in die Berge zu wandern. Anfangs führt die Straße noch an Häusern vorbei, ich passiere mal wieder ein Love Hotel und eine Bonsai Baumschule folgt. Die kleinen Bäumchen, die durch die kleine Blumenschale und regelmäßigen Schnitt so klein gehalten werden, sollen ein Abbild der Natur sein. Hierzu werden sie aber mit viel Draht erstmal in Form gebracht. Wie kleine Soldaten stehen sie hier in Reih und Glied, je Reihe eine andere Baumart. Kleine Schilder am Wegesrand, wohl von den Bewohnern aufgestellt, sprechen dem erschöpften Pilger Mut zu. Ganbaru – nihin ikimasu – („Geben sie Ihr Bestes – Zwei wandern“) heißt es auf so einem Schildchen und eine kleine Eule zeigt dem Pilger, wo hier der Weg lang geht. Mitten in der Wildnis finde ich hier ein gemauertes Toilettenhäuschen und wenig später, nachdem ich einen erodierten Abhang mit weißem Gestein passiert habe, eine nicht im Kartenmaterial aufgeführte Pilgerhütte. Von hier habe ich einen fantastischen Blick über Takamatsu City und auch Tempel Nr. 80 kann ich von hier aus erkennen. Ich hatte mir schon gedacht, dass es hier eine Hütte geben müsse, da ich vom Tempel Nr. 80 das braune Dach habe sehen können. Aber je höher ich steige desto mulmiger wird mir, da hier überall Schilder stehen, die sogar mit dem englischen Schriftzug „Keep out“ („Betreten Verboten“) versehen sind. Oh je, denke ich, militärisches Sperrgebiet! In der Stadt hatte ich schon Lastwagen mit Tarnfarbe gesehen, aber dass das Übungsgelände hier oben auf dem Goshikidai (fünf Farben) Plateau liegt, war mir nicht bekannt. Mein Weg führt mich jedoch weiter, vorbei an Militärbaracken. Es geht jetzt wieder bergab. Das muss ich nachher wieder alles hoch kraxeln, um zu Tempel Nr. 82 zu kommen. Aber der Tag ist noch jung und ich habe Zeit. In der Ferne höre ich ein Knallen, ob das Militär ausgerechnet heute Schießübungen abhält? Aber schließlich stehe ich dann doch noch vor dem Sanmon, dem ersten Tempeltor des Shiromineji, das zwar keine Tempelwächter hat, aber zu den Seiten noch jeweils zwei kleinere Dächer aufweist.

Exkurs Tempel Nr. 81 Shiromineji (白峯寺)
„Der Tempel der weißen Bergspitze“ wurde 815 von Kōbō Daishi gegründet, nachdem er einen Kristall (nyoi hōju) im Erdboden vergraben und eine Quelle (akai; „Weiß“) gegraben hatte. Der Honzon (Hauptgottheit) des Tempels ist Senju Kannon (tausendarmige Kannon) gewidmet, wer aber nun die Statue geschnitzt hat, der Daishi selber oder sein Neffe Chisho-Daishi (auch Enchin; 814-891), der hier 860 weilte, bleibt offen. Auf alle Fälle soll das Holz für das Kunstwerk ein sehr helles gewesen sein, ja – es soll geleuchtet haben. Beim Holzfund soll ein alter Mann, vielleicht der Gott des Shiromine Berges, folgendes gesagt haben: „Dies ist ein heiliger Ort, an dem sich das Rad des Dharma dreht und ins Samadhi eingeht.“ (Mit Samadhi ist hier ein Geisteszustand gemeint, in dem man mit den Dingen, über die man meditiert, eins wird. Man unterscheidet dann nicht mehr zwischen sich und der „Außenwelt“, man kann aber aus diesem Zustand auch wieder „herausfallen“. Doch das Samadhi kann tiefer werden, so dass man auch außerhalb der Meditation diesen Zustand aufrecht erhalten kann.)
Der Hondō (Haupthalle) des Tempels brannte vielfach nieder und der heutige Hondō stammt vermutlich noch aus dem Jahre 1599 und wurde Ikoma Chikanori, Herrscher von Takamatsu, errichtet. 1811 wurde der Daishidō (Daishi Halle) von Matsudaira Yoriyoshi Lehnsherr von Saijō (Provinz Iyo) und seinem Vasallen Satō Kamon erneuert. Das Mausoleum (Shirame goryo; 1414 erbaut) von Ex-Kaiser Sutoku liegt, wie bereits erwähnt, in Tempelnähe. Die Tansho-ji genannte Halle, sie ist größer als die Haupthalle (hondō), wurde ebenfalls Sutoku gewidmet. Eine Statue des Poeten Saiyo soll an eine Begebenheit erinnern, die sich 1168 zugetragen haben soll. Als der Poet, der auch Mönch war, hier auf den zornigen Geist des Ex-Kaisers traf, kam es zwischen dem Konfuzionisten (Chinesische Philosophie des Konfuzius) Suktoku und dem buddhistischen Mönch zu einer Diskussion, die damit endete, das der Mönch die Sutra der Weisheit für seinen verstorbenen Freund rezitierte. Es war also gar nicht so abwegig gewesen, den Geist des Sutoku Schreine wie den Kotohira zu weihen, damit der nicht seine ehemaligen Widersacher heimsucht.

Kōbō Daishi benannte die Berge der Umgebung (goshikidai) nach dem Buddha Mahavairocana (auch Vairocana), der als Zentralbuddha im Taizōkai Mandala des Shingon („Mandala des Mutterschoßes“) auftaucht und durch fünf Farben symbolisiert wird. Der Shiromineji Tempel liegt auf dem „Weißen Berg“, wobei die Bergkette noch aus dem Gelben, Schwarzen, Roten und Blauen Berg besteht.

Natürlich ist das Sanmon (einfaches Tempeltor; „Bergtor“) nicht das einzige, das nächste Tor ist mit riesigen Strohsandalen (waraji) bestückt. Wie man die wohl herstellt? Erstmal muss man ja ziemlich dicke Seile haben und wie werden die dann verflochten? Hilft da die ganze Gemeinde mit oder fällt so etwas an eine Sondertruppe „Sandalenflechten“? Jedenfalls fände ich es um einiges interessanter, etwas über die Herstellung der Sandalen zu erfahren, als die Sandalen selbst zu besichtigen. Groß ist einfach nur groß, aber wie verfährt man mit der Herstellung, da sich einer nicht einfach hinstellen und so ein „Mamutstrohseil“ knoten kann. Aber es gibt so vieles Interessantes zu entdecken. So viele Hallen und Gebäude, wie soll man da den Überblick behalten. Wo ist noch gleich das Mausoleum von Sutoku? Wenn es so ein etwas erhöhter, mit einem Steinzaun umgebener, Hügel ist, habe ich ihn wohl gesehen. Ich finde hier Steinfiguren aus dem chinesisch-japanischen Horoskop, jedes steht vor einem eigenen Gebäude. Und erst mal das bunte Steintürmchen, es sieht wie eine fünfstöckige Pagode aus, auf das die Pilger Münzen gelegt haben. Eine ganze Schar Winkekatzen (maneki neko) haben sich an einer Laterne kurz hinter dem Eingang versammelt, und auch eine Tengu Statue (Bergkobold) fäll mir ins Auge. Ich mache mich jetzt wieder, nachdem ich noch einen Abstecher über den Tempelfriedhof gemacht habe, auf den Rückweg bzw. den Weg zu Tempel Nr. 82, der zwar auch auf dem Goshikidai Plateau liegt, das aber dann doch nicht ganz so flach ist, wie das Wort „Plateau“ erwarten ließ. Der Wanderweg zwischen den beiden Tempeln ist als Naturkundepfad ausgebaut, es stehen hier überall Schilder, die die einheimischen Vögel, Reptilien oder Insekten zeigen. Hier stibitze ich mir auch so einen süßen „Henrowimpel“ als Andenken. Er zeigt einen kleinen betenden Mönch. Um es japanisch auszudrücken, der Wimpel ist „kawai“ (süß, entzückend, niedlich), ein Modewort, das der Japaner für alles niedliche benutzt. Besonders die holde Weiblichkeit in Japan ist auf dem Kawai-Tripp: Da werden süße Hundbabies oder Katzenkinder auf alles Mögliche gedruckt, allein das Miniaturisieren von Alltagsgegenständen wie in einer Puppenstube, oder die Kindchenschema triefenden Maskottchen der Werbung – alles ist kawai! Da der Wimpel mir direkt vor der Nase hängt und der Weg ansonsten gut ausgeschildert ist, wandern wir jetzt zu dritt – mein Kōbo Daishi Stock, das Mönchlein und ich!
Als ich wieder auf eine geteerte Straße treffe, bin ich beruhig, denn ich kann mich wieder orientieren. Jetzt noch am Ashio Daimyo-in Schrein vorbei, den Abzweiger zur Goshikidai Skyline lasse ich im wahrsten Sinne es Wortes links liegen, passiere ich noch ein WC-Häuschen und eine Pilgerhütte. Ich werfe einen kurzen Blick ins Michikusa Restaurant, aber der Tempel ruft und so habe ich die 1000 m bis zum Tempel schnell überwunden.

Exkurs Tempel Nr. 82 Negoroji (根香寺)
„Der Tempel des wohlriechenden Holzes“ wurde 804 von Kōbō Daishi, d.h. vor seiner Studienreise nach China, noch unter dem Namen Kedō-in („Haus des Blumenregens“?) gegründet. Der Name der Präfektur hier, Kagawa, „Fluss des Wohldufts“, geht auf den Fluss zurück, dessen Ursprung an den Wurzel eines großen Baumes im Tempel liegen soll. Aber es könnte auch der Neffe des Daishi, Chiso-Daishi (auch Enchin; 814-891), gewesen sein, der hier 832 auf Wunsch der örtlichen Gottheit, Ichinose Myojin, den Tempel gegründet und den Honzon (Hauptgottheit) Senju Kannon (tausendarmige Kannon) aus wohlriechendem Holz geschnitzt hat. Er war der Gottheit, die von einem Affen als Schüler begleitet wurde, auf dem Berg begegnet und sie wies ihn auf die Heiligkeit des Ortes hin, den er fortan Senju-in („Haus der tausend Arme“) nannte. Unter dem Schutz des Kaisers Go-Shirakawa (127-1192; 77. Tennō) erblühte der Tempel und besaß zu einen besten Zeiten an die 100 Zweigtempel. Allerdings wurden viele dieser Subtempel im 16. Jahrhundert durch Chōsokabe Truppen niedergebrannt. Erst 1664 wurde der im Krieg zerstörte Tempel durch Yorishige Matsudaira, Oberhaut des Takamatsu Klans, unter dem Name „Negoroji“ wiederaufgebaut. Bemerkenswert sind die unzähligen, laut Tempelführer 10.000, Kannon Statuen, der 100 Jahre alte Zelkova Baum (Keyaki) und die riesige Statue des Ushi-oni (Ochsen Dämon). Einer Legende nach soll der Ochsen Dämon, mit Ochsenkopf und Fuchskörper sowie Flügeln und 4 Fingern, im 16. Jahrhundert die Einwohner terrorisiert haben. Ein mutiger Samurai namens Kurando Yamada streckte das Vieh mit Pfeil und Bogen nieder, schnitt ihm den Kopf ab und bracht ihn zum Tempel. Die Leute sagen, der Kopf hätte die Kraft das Böse zu läutern. Später wurde noch eine Statue des Ushi-oni an einer Quelle des Tempels errichtet. Heute hängt ein Shimenawa, ein shintoistisches Strohseil, das die Welt der Shinto Götter von der anderen Welt trennt, an der Statue.

Von einem Schild am Eingangstor erfahre ich, dass die Kannon Statue nur alle 33 Jahre gezeigt wird, aber wo ist der kupferfarbene Ushi Oni (Ochsen Dämon), den mir der Tempelführer großmundig angekündigt hat? So ein Ding am Eingang müsste doch auffallen. Ich habe sogar ein Bild davon im Tempelführer gesehen. Aber ich habe Pech, wie sooft finde ich manche Sehenswürdigkeiten nicht, aber vielleicht beim nächsten Mal, wenn es denn ein nächstes Mal gibt. Es ist schon kurz nach 16.00 Uhr, wenn ich mich beeile, der Weg zu Bangai Nr. 19 geht von hier nur noch bergab, kann ich noch den Bangai besuchen und dann im Momoya, einem Ryokan am Bahnhof Kinashi übernachten. Dann müsste ich aber noch einige Kilometer schaffen – aber was habe ich zu verlieren – nichts!

Ich fliege geradezu den Berg in Richtung Küste hinunter. Aber hier windet sich der Weg derartig, noch dazu muss ich wieder nach japanischer Karte wandern. Ich versuche mich an den Wasserreservoirs zu orientieren. Gehetzt sehe ich immer wieder auf die Uhr. Das schaffe ich nicht mehr! Als ich an einem Teich vorbeikomme, an dem eine Hütte steht, denke ich so bei mir, das es eine schöne Unterkunft für die Nacht wäre, wenn ich nicht mehr weiter könnte. Aber ich habe mich verirrt, ich muss irgendwie total ab vom Trail sein, da ich meinen jetzigen Standort einfach nicht in der Karte wiederfinde. Hier auf dem kleinen, grünen Hügel am Teich ist ein Shinto Schrein, dabei suche ich doch einen Tempel! Verzweifelt spreche ich einen Japaner an, um nach dem Weg zu fragen. Kein Problem antwortet mir der Mann in Joggingklamotten, folgen sie mir bitte. Er stürmt davon und ich hinterher. Er erklärt mir noch, dass er Gemeindemitglied des gesuchten Tempels ist, aber er läuft und läuft und läuft. Jetzt ist es schon halb sechs und meine Hoffnung schwindet, einen Eintrag von Nr. 19 in mein Pilgerbuch zu bekommen, da die Stempelstellen meist um 17.00 Uhr dicht machen. Auf alle Fälle weis ich nachher, wo der Tempel ist, dann muss ich eben die Nacht am Teich verbringen und dann morgens wieder zum Tempel zurücklaufen. Aber wir sind schon so weit weg vom meinem potentiellen Schlafplatz, dass ich bezweifle, dass ich den Weg wiederfinden werden. Ich habe schon vor etlichen Abzweigern gedacht, dass der Tempel jetzt in Sichtweite kommen müsste, aber anstatt eines Tempels rennen wir fast einen anderen Pilger um, der hier in der Straße auf etwas zu warten scheint. Nach einem kurzen Gespräch übergibt mein Jogger mich an den Pilger, einen junger Mann mit großem Rucksack. Jetzt kann die Konversation in Englisch weitergehen. Ich bedanke mich sehr herzlich bei meinem Fremdenführer und schon ist er wieder verschwunden. Als ich mit dem jungen Mann den Tempel betrete, schwinden meine Hoffnungen auf einen Pilgerbucheintrag, da ich das Pilgerbüro leer vorfinde. Ohne zu zögern drückt mein Begleiter auf eine Klingel und mir rutscht das Herz in die Hose. Ich will hier doch keinen aus dem wohlverdienten Feierabend holen! Als aber eine junge Frau so um die 20 erscheint, bin ich doch etwas erleichtert, dass ich jetzt keine Standpauke von so einem großen Brummbären von Tempelvorsteher über mich ergehen lassen muss.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 19 Kōzaiji (番西寺)
„Der Tempel der Westwache“ ist eine etwas freie Übersetzung von mir, da ich keine Informationen im Netz finden kann, die in Englisch sind. Er soll von Gyōgi (668-749) gegründet worden und Enmei Jizō Bosatsu, einem speziellen Jizō, der langes Leben verheißt, gewidmet worden sein. Der Kōzaiji und Tempel Nr. 18 haben der Ausbildung sowohl von Shingon Priestern als auch der Allgemeinheit gedient. Kōbō Daishi ist der erste gewesen, der auch Nicht-Adligen, eine schulische Ausbildung ermöglicht hat und so Ahnvater des öffentlichen Schulwesens gilt.

Die Frau erklärt mir, dass sie die Tochter des Tempelvorstehers ist. Sie macht einen Eintrag in mein Pilgerbuch und erklärt mir noch anhand mehrerer zusammengeklebter Kopien wie ich zum nächsten Tempel, dem Ichinomiyaji (Tempel Nr. 83), gelange. Sie schenkt mir die Kopien und ich habe einige Schwierigkeiten die Blätter ordentlich zu verstauen. Sie verabschiedet sich und geht ins Haus zurück. Ich halte noch ein kurzes Gespräch mit dem Japaner, er hat ein Stativ aufgebaut, um ein Bild von uns beiden zu machen. Leider drehe ich geistig derart am Rad, dass ich vergesse, meinerseits ein Bild von uns zu schießen. Als es mir einfällt, ist er jedoch schon verschwunden. Schade, aber ich mache noch ein paar Bilder vom Tempel, um mich danach auf den Weg zum Ryokan zu machen. An einem Lawson-Kombini (24-h-Shop) kaufe ich einen Okonomiaki (jap. Pizza), da es schon spät ist und ich nicht glaube, dass ich um die Uhrzeit noch was zu Essen in meine Unterkunft bekomme. Erst mal gucken, ob ich überhaupt unterkomme! Ich will noch eine Telefonkarte kaufen, werde vom Verkäufer aber auf den nächstgelegenen Family Mart (ebenfalls 24-h-Shop) verwiesen. Dort läuft alles sehr kompliziert. Da ich am Automaten keine Karte, sondern nur einen Zettel erhalte, den ich dann an der Kasse bezahlen muss. Da ich den Automaten nicht selber bedienen kann, er läuft komplett auf Japanisch, muss mir der Kassierer ohnehin assistieren. Bis zum Momoya ist es noch ein ganzes Stück, doch als ich dort ankomme, der Eingang zum eigentlichen Ryokan ist verschlossen, frage ich im angrenzenden Restaurant nach und bekomme dann doch noch ein Zimmer. Restaurant und Ryokan gehören nämlich zusammen. Ich bezahle 3500 Yen für die Übernachtung, die aber nicht erholsam ist, da in regelmäßigen Abständen ein teuflisches Erdbeben mein Zimmer heimsucht. Das rührt von den Zügen, die kurz vor dem Gebäude in den Bahnhof Kinashi einfahren. Von dem Gebimmel der drei angrenzenden Bahnübergänge mal ganz zu schweigen.