Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Freitag, 11. Juni 2010

Samstag, 18.04.2009, Kagawa, BH nahe Bangai Tempel 15

Der 34. Tag in Japan
Ich stehe noch vor 6.00 Uhr auf, obwohl hier in mein dunkles Loch unter der Brücke nur wenig Licht fällt. Zwar weist der Himmel kein Wölkchen auf, aber dennoch ist des hier so dunkel? Natürlich, da ich mich nahe am Fluss befinde, halten die umgebenden Berge die Sonne ab. Schnell habe ich mein Kombini (24-h-Shop) Frühstück verdrückt und mich auf den Weg zurück zum Abzweiger zu Tempel Nr. 66 (Unpenji) gemacht. Das große Digitalthermometer zeigt keine 10°C, obwohl die Sonne scheint und es Mitte April ist. Ich passiere ein Restaurant mit der Aufschrift „Cafe Autobahn“ und frage mich, was hier als „deutsches Essen“ angeboten wird. Aber ich werde enttäuscht, nur der Name klingt nach Deutschland, denn die Plastikmodelle zeigen ausschließlich japanische Menüs. Vielleicht ist der Inhaber mal im Urlaub in Deutschland gewesen, und war dann derart begeistert vom „Land des unbeschränkten Tempolimits“, dass er sein Restaurant danach benannt hat. Aber ich wandere erst mal an der anderen Flussseite entlang. Ich überquere den Fluss dann bei einer großen Brücke und ehe ich mich versehe, weisen mir Schilder dann auch schon den Weg zu Tempel Nr. 66. 9 km heißt es auf dem blauen Schild, doch dies gilt für die Autostrecke und ich hoffe, dass der Fußgänger Trail doch etwas kürzer ist. Ich passiere ein kleines Teefeld und auf den angrenzenden Äckern pflügt ein Bauer mit so einem kleinen Traktor sein Feld. Die kleinen Landmaschinen und Autos hier in Japan sind einfach süß. Kaum größer als ein Aufsitzmäher schiebt sich der kleine „Trecker“ durchs Feld. Im Nachbarfeld stehen die Reissetzlinge ordentlich in Reih und Glied. Die Feldbewässerung ist eine Kunst, da das Wasser meist nicht steht, sondern von den obersten über die mittleren bis zu den unteren Feldern fließt. Man hat mir mal erklärt, dass die Felder deshalb so klein sind, weil nach dem Krieg niemand mehr als ein Hektar Land haben durfte.

Jetzt geht es wieder in die Berge und ich habe an meinem Rucksack richtig zu schleppen. Leider hat sich mein „Hüftgold“ mit der Zeit verflüchtigt, so dass der Rucksack nicht mehr richtig sitzt. Ich habe zwar die Riemen bis zum Anschlag zugezogen, merke aber nach einigen Minuten wie ich ein Kribbeln in der Leiste bekomme. Da drücken die Riemen wohl die Blutversorgung ab und ich hüpfe dann einige Male, um die Riemen wieder auf Taillenhöhe zu bringen. Die Verkehrsschilder muntern mich auf, jetzt bin ich schon 3 km gelaufen. So hangle ich mich von einem Schild zum nächsten, denn der Trail verläuft hier zwar auf Asphalt, ist aber autounfreundlich steil. Kurz hinter dem Schild hat jemand Bänke aufgestellt und ich nutze sie für ein kleines Päuschen. Von hier aus kann ich sogar schon den Unpenji sehen, wenn ich durch die Baumwipfel lukend, den größten Zoom meiner Kamera benutze. Ich kann ein helles Gebäude und eine große Statue auf einem Berg ausmachen. Ich laufe weiter und die Straße wandelt sich. Sie scheint nagelneu geteert worden zu sein, da hier noch Pylonen (Verkehrshütchen) stehen und auch die Fahrbahnmarkierung ist noch strahlend weiß. Aber warum hat man die Straße bloß so steil gebaut, wenn ich als Fußgänger hier schon kaum hoch komme, was sollen denn erst die Autofahrer machen, die die Straße zum Tempel hochfahren wollen? Nur nicht stehenbleiben, sonst rollt man wieder den Berg hinunter und auf keinen Fall Gegenverkehr, wer soll denn bei diesem Gefälle am Hang anfahren können? Eine große Tafel mit der Aufschrift Shikoku Michi („Shikoku Weg“) informiert mich über die Lage des Tempels und die Entfernungen der, in der Nähe liegenden, Sehenswürdigkeiten. Ich werde wohl noch einmal mit einer Seilbahn fahren müssen, damit ich den Weg vom Unpenji zum Bangai Nr. 16 nicht verfehle. Aber endlich passiere ich ein Paar Stelen und kurz darauf das Tor zum Unpenji, welches sowohl rote Wächterfiguren (niō) als auch riesige Strohsandalen (waraji) enthält. Die Sonne scheint hier durch die Bäume und die Aussicht von hier oben ist atemberaubend. Ich wundere mich immer wieder, wie man zu Fuß, dabei mit fast 15 kg Gepäck bestückt, dann doch so einen Berg erklimmen kann. Man braucht zwar länger als die motorisierten Pilger, aber erreicht sein Ziel dann doch. Es ist immer ein erhebenden Gefühl, nicht nur den Tempel erreicht, sondern auch den Berg gemeistert zu haben. Man hat sich dann eine gewisse Höhe erarbeitet, die einem den Abstieg auf der anderen Seite des Berges erleichtert. Das Gefühl muss man sich bewahren und beim nächsten Aufstieg immer daran denken, wenn man sich jetzt quält, den Berg hochzukommen, der Abstieg dann umso leichter ist.

Exkurs Tempel Nr. 66 Unpenji (雲辺寺)
„Der Tempel der schwebenden Wolke“ wurde 790 von Kōbō Daishi an der Stelle gegründet, wo er einige Jahre zuvor eine buddhistische Reliquie aus Stein zurücklassen musste. Aber es könnte auch 807 passiert sein, wo er auf Anweisung des Kaisers Saga (786-842; 52. Tennō) zwecks Tempelgründung hierher kam und eine Krankheit, die die Bewohner gefallen hatte, mithilfe seines Wanderstabes unter die Erde verbannte. Die Pilgerführer sind in diesem Punkt etwas widersprüchlich. Auch wenn es darum geht, ob Chōsokabe Motochika, der hier im 16. Jahrhundert die Idee bekam, die drei angrenzenden Provinzen Awa, Iyo und Sanuki zu unterwerfen. Hat er den Tempel nach seinem Gespräch mit dem Oberpriester Shunsō nun niederbrennen lassen oder hat das mutige Auftreten des Geistlichen den Kriegsherrn dazu veranlasst, den am höchstgelegenen Tempel Shikokus (911 m) zu verschonen? Auf alle Fälle umfasste der Tempel zu seinen besten Zeiten 7 Schreine, 12 angegliederte Hallen und 8 Zweigstellen und wurde „Shikoku Kōya“ genannt. In Anlehnung an den großen Tempelbezirk des Shingon Buddhismus auf dem Koya-san im Kii-Gebirge. Die Hauptgottheit (honzon) ist die tausendarmige Kannon (Senju Kannon). Eine andere Kannon Statue und ein Fudō zählen heute zu den Nationalschätzen. Der Tempel wurde Kaiser Kameyama (1249-1305; 90. Tennō) gewidmet, der hier einen Ginko Baum gepflanzt hat. Der Stamm des Baumes trägt eine Inschrift in Sanskrit (alte indische Sprache) und als Reliquie hinterließ der Kaiser seinen Haarschopf. Nach seiner Entmachtung wurde der 90. Kaiser (Tennō) von Japan Mönch, gründete den Zen-Tempel Nazen-ji in Kyōto und verbrachte den Rest seines Lebens dort. Bemerkenswert ist ferner, dass der erste Tempel in der Aufzählung der Präfektur Kagawa strenggenommen in der Präfektur Tokushima steht. Seit 1987 erleichtert eine Seilbahn dem Pilger den Besuch in diesem „Sekisho“ (Grenztempel), der den Pilger eigentlich spirituell prüfen sollte, ob er die Pilgerreise fortsetzen darf oder nicht.

Es gibt hier zwar eine Seilbahn, die aber aus meiner Sicht an der falschen Seite des Unpenji-yamas gebaut worden ist, da der Trail von der gegenüberliegenden Seite kommt. Während der Fußpilger die Strecke also über asphaltierte Straßen läuft, die wie erwähnt, gerade erneuert wurde, kann der motorisierte Pilger mit Auto oder Bus auch bis Sanroku fahren, um sich dann von dort mit der Seilbahn auf den Berg zum Tempel bringen zu lassen. Laut Kartenbuch ist sie 2,7 km lang und benötigt 7 Minuten, um den Pilger auf ca. 1000 m Höhe zu bringen. Das Tempelgelände ist ein weitläufiges Terrain, das neben den eigentlichen Hallen viele Details zu bieten hat. Zum Beispiel die Tanuki Figuren (Marderhunde), einen eigenartig verschmolzenen Stein (kankan ishi) und eine Obergine aus Metall gearbeitet, die hier auf einem Granitblock liegt. Die riesige Figur auf dem Gipfel des Berges, die einen Dreizack in Händen hält, ist wohl eine Kannon Statue. Besonders interessant finde ich die Sammlung von 500 Rankan Figuren, ehemals Jünger Buddhas. Sie stehen hier, jeder individuell gestaltet. Es soll sogar eine weibliche Figur direkt an einem Willkommensschild stehen, da ich zu diesem Zeitpunkt von ihr nichts wusste, habe ich leider auch nicht auf sie geachtet. Mittendrin befindet sich eine Anlage mit dem liegenden Buddha oder ist es eine Sterbeszene? Ich sehe Hotei, der mit Kindern spielt, eine als Schildkröte gestaltetes Weihrauchgefäß, Bodhidarma, legendärer Kampfmönch (Shaolin in China!) und Begründer des Zen-Buddhismus in Japan. Ich könnte mich hier stundenlang aufhalten und Fotos knipsen, man kann sich hier einfach nicht satt sehen. Aber als eine Familie ihren gebrechlichen Vater mit dem Rollstuhl durch das Tempelareal karrt, holt mich das in die Wirklichkeit zurück. Dass man die alten Herrschaften noch derartige Tourtouren zumuten muss, bleibt mir unverständlich! Zumal die beiden Frauen (Oma und Schwiegertochter) und der Mann echt zu tun haben, Opi mit seinem Rollstuhl den steilen Weg hochzuschieben. Aber Opi wird nicht nur bis zur großen Kannon Statue geschoben, sondern muss auch noch einige Schritte mit dem Pilgerstock gehen, bevor er seine Pilgerverpflichtungen erfüllt hat.

Leider sind einige Gebäude aufgrund von Bauarbeiten verhüllt, aber es gibt hier genügend andere interessante Dinge zu sehen. Wie die verschiedenen Arten von Talismane, die hier verkauft werden, die mit Moos bewachsenen Steine, die aussehen als hätte man sie aus einer chinesischen Landschaft geklaut, und die Gebetsmühlen, mithilfe derer man seine Gebetsgänge zwischen den Tempelhallen zählen kann oder dreht man sie, wie in der tibetischen Gebetstradition, einfach nur? Ich gehe am Omukae Daishi, dem „Willkommensdaishi“, zum Abschied vorbei, da ich den Berg über die Seilbahnstation verlassen möchte. Ich habe mich nun doch entschieden, sie zu benutzen, damit ich nicht auf den falschen Weg komme, da ich vor Tempel Nr. 67 noch unbedingt Bangai Nr. 16 besuchen möchte. Wenn es nicht so dunstig wäre, hätte man eine noch bessere Aussicht, vielleicht würde man den Bangai Tempel schon von hier oben sehen können. So verschwimmt aber der Rand der Ebene, die sich vor mir erstreckt. Mir fällt ein Skilift auf, der parallel zur Seilbahn verläuft und ich muss, bei der Vorstellung unter den Augen der Kannon Statue Ski zu fahren, grinsen. Als ich in der Talstation eintreffe, liegt die noch nicht wirklich im Tal, sondern auf halber Höhe. Hier gibt es einen riesigen Parkplatz, um den sich viele Geschäfte angesiedelt haben. Vor einem Geschäft werden Dangos, Reisbälle, die in Soße getaucht werden, am offenen Feuer geröstet. Leider ist der Pilgerweg hier nur schlecht beschildert, so dass ich mich erstmal in Richtung Iseki bzw. Ōya See auf den Weg mache. An letzterem soll Bangai Nr. 16 liegen. Ich wandere durch Wildnis, die von Feldern und niedrigen Büschen charakterisiert wird. Die Sonne brennt und es gibt keinen Schatten, aber endlich habe ich Bangai Nr. 16 erreicht.

Exkurs Bangai Tempel 16 Hagiwaraji (萩原寺)
„Der Tempel des Buschkleefeldes“ wurde von Kōbō Daishi vor 1200 Jahren gegründet und „Karadasan Hibuse Jizō Bosatsu“ gewidmet. Ob dies eine Sonderform des Jizōs ist oder eine eigenständige Gottheit, konnte ich leider nicht herausfinden.

Obwohl es in der Beschreibung heißt, dass dieser Tempel vor 1200 Jahren von Kōbō Daishi gegründet wurde und ein spezieller Ausbildungstempel für Shingon Priester gewesen sein soll, sowie über 280 Zweigstellen in ganz Japan verfügt habe, ist der heutige Tempel ein ungepflegter und heruntergekommener Einkaufsladen. Das Pilgerbüro kommt einen vor wie ein 100-Yen Shop, in dem man von Kinderspielzeug über Pilgerutensilien und andere Reisegeschenke (omiage) alles Mögliche kaufen kann. Normaler Weise bin ich ein Fan dieser 100-Yen-Shops, da man alles Nützliche und Unnutze, was man für 100 Yen kaufen kann, auf kleinstem Raum findet. Aber für ein Pilgerbüro ist es dann doch etwas unpassend. Auch als die Frau mein Pilgerbuch abzeichnen will, ist sie so hektisch, dass die den Stempel an die falsche Stelle setzt. Anstelle den Eintrag nach Bangai Tempel Nr. 15 zu machen, drückt sie ihren Stempel doch einfach auf die freigelassene Seite, die ich für Bangai Tempel Nr. 1 vorgesehen hatte. Ich notiere mir also in mein Pilgerreise Notizbuch, dass der erste Bangai-Tempel nicht Nr. 1, sonder leider Nr. 16 ist! Während meines Aufenthalts im Tempel wird das Tor von Bienen in Beschlag genommen. Der Rückweg durchs Tor ist mir versperrt, da der ganze Bereich plötzlich nur so von Bienen wimmelt. Ich wusste gar nicht, dass ein Bienenscharm so groß sein kann. Ich hatte zwar beim Durchschreiten des Tores durchaus gesehen, das einige Bienen an der linken Seite durch ein Loch krabbelten, doch jetzt ist die Luft vor dem Tor verfüllt mit lauter Bienenleibern, die komischer Weise derart in der Luft stehen, als wollten sie den Durchgang versperren. Nach einem kurzen Abstecher in ein Nebengebäude machte ich mich auf den Weg zu Tempel Nr. 67.

Die Sonne brennt, ich habe zwar schon Sonneblocker nachgelegt, aber hier in der Ebene gibt es nur Felder, kein Wäldchen, das mir Schatten spenden könnte. Auf den langgestreckten Asphaltstraßen, ich schätze es geht hier 5 km geradeaus, komme ich mir vor wie in der Wüste. Bei einem kleinen Schrein, der auf einem bewaldeten Hügel liegt, lege ich eine kurze Rast ein. Zum Glück ist es verboten, Bäume auf Schreingeländen zu fällen, da es meist heilige Bäume sind, in denen Götter wohnen. In Großstätten erkennt man Schreingelände schon von Weitem, da sie meist die einzigen bzw. größten Bäume der Gegend aufweisen. Auf meinem Weg zum Tempel Nr. 67 komme ich an einem Lotoswurzelteich vorbei. Lotoswurzeln werden in Japan eingelegt als Gemüse gegessen. Es sind meist etwas dickere Scheiben, in denen viele Löcher sind, sie werden als „Renkon“ bezeichnet. Leider sind auf dem Trail die Pilgerschilder Mangelware, obwohl ich auf dem beschriebenen Trail wandere, finde ich erst kurz vor dem Daikōji Tempel einige Schilder.

Exkurs Tempel Nr. 67 Daikōji (大興寺)
„Der Tempel des großartigen Wachstums“ wurde 822 von Kōbō Daishi auf Geheiß des Kaisers Saga (786-842; 52. Tennō) gegründet. Der Tempel wird auch „Komatsuji“ genannt, was so viel wie „Schwanz einer kleinen Pinie“ bedeutet und sich wohl auf den Bergnamen bezieht. Kōbō Daishi hat hier die Gongen (budd. Bezeichnung für shintoistische Götter) der drei Großschreine von Kumano verehrt und die Statue des Yakushi Nyorai als Hauptgottheit (honzon) geschnitzt. Aber nicht nur der Shintoismus war und ist immer mit dem Daikōji vergesellschaftet gewesen, sondern auch die buddhistische Tendai-Sekte hat einige Zeit lang zusammen mit der Shingon Sekte Kōbō Daishis diesen Tempel geführt. Zu seiner besten Zeit gab es hier 24 Shingon und 12 Tendai Gebäude, die aber im 16. Jahrhundert von Chōsokabe Truppen niedergebrannt worden sind. Die Zeit zwischen 1573 und 1592 überstand nur die Haupthalle (hondō), die anderen Gebäude wurden im 17. Jahrhundert wiederaufgebaut. Bemerkenswert sind hier ein Kampfer- und ein Muskatnussbaum, die der Daishi persönlich gepflanzt haben soll. Es gibt zwei Daishi-Hallen (daishidō) an denen jeweils die Gläubigen des Shingon Buddhismus bzw. die der Tendai Schule beten können. Die über 3 m messenden Niō Statuen (Wächterstatuen) stammen von dem berühmten Künster Unkei (1223) und sind die größten auf der Shikoku Pilgerreise. Es gibt eine Statue des chinesischen Tedai Sektengründers „Tentai Daishi“. Es ist nicht Saichō, ein anderer japanische Mönch, der zusammen mit Kōbō Daishi nach China reiste, um vor Ort den Buddhismus und seine verschiedenen Schulen zu studieren. Der Tempel hält aber auch noch eine Legende parat, die von einem Liebespärchen in der Edo-Zeit (1603-1868) handelt. Eine Gemüseverkäuferin names Oshichi und der Tempelbediensteter Yoshisaburō, verliebten sich und wollten heiraten. Aber die Frau starb sehr unerwartet bei einem Brand in Tokyo. Als jetzt Yoshisaburō während der Pilgerreise für die Seele seiner Geliebten hier am Tempel ankam, bemerkte er, dass der Hals der Wächterstatue kaputt war. Nachdem er den Tempelvorsteher um Erlaubnis gefragt hatte, nahm er den Kopf der Wächterstatue auf die Schulter und trug sie, um Spenden für die Reparatur bittend, durch Shikoku.

Das Tor mit den größten Wächterstatuen der Pilgerreise schaue ich mir natürlich genauer an und da beide ihren Kopf fest auf den hölzernen Schultern tragen, ist Yoshisaburō mit seiner Spendensammlung wohl erfolgreich gewesen. Es ist ein ordentlicher Tempel, nicht so ein zusammen gewürfeltes Sammelsurium wie Bangai Nr. 16. Zu meinem Erstaunen entdecke ich eine Eule in einem Käfig, die daneben sitzenden Männer lächeln mich an. Ob die Eule ein Glücksbringer ist? Links und rechts von der Haupthalle (hondō) stehen die beiden Daishi-Hallen (daishidō), aber welcher nun zum Shingon und welcher zum Tendai Buddhismus gehört, entzieht sich meiner Kenntnis. Hier hängt aber auch ein Bildnis Kōbō Daishis, das, wenn man es näher betrachtet, aus lauter japanisches Schriftzeichen (Kanji) besteht. Das ist doch eine tolle Idee, vielleicht sind das sogar die Schriftzeichen des Herz-Sutra. Da ich nicht weis, wo im Bild ich anfangen soll, bleibt diese Frage ungelöst. Hier hängt außerdem noch ein Poster, das Fremdwerbung macht. Nicht für die 88 Tempel von Shikoku wird geworben, sondern für die 33 Tempel, die der Gottheit Kannon Bosatsu gewidmet sind und in Kyoto liegen. Es gibt in Japan sogar die Möglichkeit „100 Tempel der Kannon“ zu besuchen, die sich in „Saikoku“ im Gebiet Kansai (33 Tempel in und um Kyoto, Ōsaka, Wakayama etc.), „Bandou“ im Gebiet Kanto (34 Tempel in und um Tokyo) und „Chichibu“ im Gebiet um Saitama, gliedern.

Vor den Hallen liegen Dachpfannen aus, die man beschriften und dem Tempel spenden kann. So kann man natürlich auch ein Dach renovieren! Als ich den Tempel verlasse, komme ich auf dem Rückweg wieder am Ōhira Ryokan vorbei. Hier war ich auf dem Hinweg zum Tempel etwas vom Weg abgekommen, als ich ein Kätzchen hier schreien hörte. Da ich es nicht finden konnte, bin ich dann weiter am Haus vorbei gelaufen, anstelle den direkt Weg daran vorbei zum Tempel zu nehmen. Eigentlich hätte ich im Ryokan nach einer Unterkunft fragen können, aber ich spekuliere darauf, das ich in der verbleibenden Zeit noch den Weg zu Tempel Nr. 68 und 69 schaffe, die gemeinsam auf einem Areal, in der Nähe des Kotobiki Parks liegen sollen. Laut Wetterbericht muss ich morgen wieder mit erhöhter Regenwahrscheinlichkeit rechnen, obwohl ich gerne im Park direkt am Strand schlafen würde. Als ich schließlich am Eingangstor eintreffe, ich musste mich mal wieder durch ein Stadtlabyrinth von Straßen und Gässchen quälen, ist es schon 16.45 Uhr. Ich stürme über das Gelände und finde das Pilgerbüro, wo man mir, zu meinem größten Erstaunen, gleich zwei Pilgerbucheinträge macht. Ich atme auf, das hatte ich doch im Tempelführer gelesen!

Exkurs Tempel Nr. 68 Jinnein (神恵院)
„Der Tempel der Gnade Gottes“ wurde aufgrund einer Vision des Mönches Nisshō am 21. März 703 gegründet. Der Mönch gehörte zum Yogacara (Hossō-shū Schule) Buddhismus, einer philosophische Bewegung, die die Wirklichkeit als Projektion des eigenen Geistes auffasst. Ihm erschienen am Berg Kotohiki („Zitterspielen“) sieben farbige Wolken. Danach sah er ein Schiff mit dem Koto (jap. Zitter) spielenden Gott Hachiman (shintoistischer Kriegsgott), der ihm erklärte, dass er diesen wunderschönen Ort nicht mehr verlassen werde, sondern hier bleiben möchte, um Buddhas Dharma (Lehre) und die Gesetzte zu schützen. Nisshō barg das Schiff mithilfe von Einheimischen, baute Hallen in denen das Schiff, die Zitter und andere Schätze verwart werden konnten und nannte diesen Ort Kotobiki-Hachiman-Guu. Aber er weihte dem Tempel bzw. Schrein auch einer Statue von Amida Nyorai, der als buddhistische Verkörperung Hachimans gesehen wird und eine Figur der Prizessin Jinguu (169-269). Letztere war nach Ableben ihres Mannes von 209 bis 269, als ihr Sohn die Regentschaft wieder übernahm, Kaiserin von Japan (Tennō) und soll sich bei einem legendären Feldzug in Korea einen Namen gemacht haben. 722 Besuchte Gyōgi diesen Ort und von 806 bis 810 soll Kōbō Dasihi hier gelebt haben. Er hat auch das Bild von Amida Nyorai bzw. dem zitterspielenden Hachiman (kotobiki hachiman) gemalt, der hier als Hauptgottheit (honzon) verehrt wird und den Tempel „Jinnein“ genannt haben. Während der Meiji-Restauration wurde der Kobobiki-Hachiman- Guu Schrein und der Jinnei Tempel getrennt, wobei die Amida Nyorai Statue in die Yakushi Halle des Kannonji (Tempel Nr. 69; siehe unten) überstellt wurde. Die Haupthalle (hondō) des Jinnein wurde im Jahre 2003 aus Beton erstellt. Bemerkenswert sind nicht nur die früheren Verbindungen zwischen Tempel Nr. 68 und 69, noch heute pflegen sie ein gemeinsames Pilgerbüro (nokyoshō), in dem der Pilger die Stempel und Signaturen für beide Tempel erhält. Auch das Eingangstor (niōmon) teilen sich die beiden Tempel. Neben der Haupthalle (hondō) gibt es einen Garten, der Gigien genannt wird und vom 45. Oberpriester des Jinneis gestaltet worden ist. Sehenswert ist ferner die Darstellung einer riesigen Münze (zenigata sunae; „münzenförmiges Sandbild“) am Strand, die aus Sand aufgeschüttet ist und das erste Mal 1633 nach dem Modell einer Münze aus der Kanei Periode (1624–1643) erstellt wurde. Spezielle Aussichtspunkte liegen auf halber Höhe zwischen Tempel und Strand.

Exkurs Tempel Nr. 69 Kanonji (観音寺)
„Der Tempel der Kannon“ wurde wie schon der vorherige Tempel vom Mönch Nisshō gegründet (701-703), allerdings unter dem Namen „Jinguuji“. Dementsprechend war er ursprünglich wohl auch der Kaiserin Jinguu gewidmet. Um das Jahr 793 wird ein Mann namens Rigen Oberpriester des Tempels und benennt ihn in „Jinnein“ um. 807 kommt Kōbō Daishi hierher und baut neben dem Tempel am Fuße des Kobobiki Berg, 7 Hallen, 47 Stupas (Reliquientürme). Er weiht den Tempel, in Erinnerung an Jinguu, Shō Kannon, deren/dessen Statue er auch geschnitzt hat. Der Tempel wird jetzt „Kanonji“ genannt, genau wie die Stadt hier. Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert erblüht der Tempel, er wird zum Ort wo man für die Gesundheit der Kaiser Kammu (737-806), Heizei (774-824) und Kameyama (1249-1305) betet. Der Hondō (Haupthalle) wird 1472, 1525 und zuletzt 1959 restauriert und zählt heute zum „Wichtigen Kulturgut“. Interessanter Weise hat dieser Tempel keine Daishihalle, dafür wird berichtet, dass der Daishi nach einer Vision vom Hachiman hier sieben Schätze vergraben haben soll, weshalb der Tempel auch „Shichihozan (sieben Schatz) Kannonji“ genannt wird. Aber zu seinen eigentlichen Schätzen, sie werden als „Nationale Schätze“ gelistet, zählen eine Ikone des Buddhas wie er ins Nirvana eingeht (Shaka nehan –zō), eine Fudō Myōō Statue und die Schriftrollen, in welche die Legende um den Kotobiki Hachiman erzählen wird.

Nach dieser Hektik in der Abendstunde sehe ich mich in Ruhe im Tempel um. Erkunde jeden Winkel, sehe mir den Gigien-Garten an und mache mich schließlich auf den Weg zum Strand. Hier im Kotohiki Park soll es eine aus Sand aufgeschüttete Figur einer Münze geben. „Zenigata sunae“ oder auch „Kan-ei-tsuho“ wird diese Sehenswürdigkeit genannt, die schon im 17. Jahrhundert den Strand geschmückt haben soll. Aber erstmal suche ich den Strand, finde zwar die Münze, aber so direkt davor kann man außer ein paar tiefen Gräben kaum was erkennen - es ist alles weißer Strandsand. Mich beschleicht die Befürchtung, dass ich jetzt den Weg, den ich bekommen bin, wieder hoch kraxeln muss, da ich den Aussichtpunkt hoch über dem Strand von hieraus sehen kann. Ich mache mich also auf den Weg, die vielen Stufen zu erklimmen, jedoch nicht ohne die Augen nach einer Schlafstätte offen zu halten. Als ich dann in der Aussichthütte ankomme, haben sich dort schon andere Pilger gemütlich eingerichtet. Dann muss ich wohl doch unten im Park im Pavillon schlafen. Da bin ich dann auch alleine und muss mit keinem um die Wette schnarchen. Ich fotografiere noch den Sonnenuntergang, wie so viele Touristen, die den Weg hier herauf gefunden haben. Auf dem Rückweg zum Pavillon versorge ich mich noch mit Getränken aus dem Automaten, als plötzlich ein Pfauenschrei meine beschauliche Abendstille zerreißt. Auch das noch, denke ich so bei mir, hoffentlich hält der heute Nacht den Schnabel! Aber nicht der Vogel, sondern eine Konstruktion namens „Wasserharfe“ soll mir mit ihren tropfendem „Klingeling“ die Nachtruhe rauben. Als ich den Pavillon betrete, die WCs sind im angrenzenden Gebäude untergebracht, reinige ich erst mal die Bank von Sand, auf der ich die Nacht verbringen will. Schnell habe ich mein Abendessen bestehend aus Pilgerkeksen und Mochi (Reisküchlein) mit Weintraubenlimonade verzehrt und mich zur Ruhe gebettet, als laute Musik mich abermals stört. Ob die jungen Leute im Park Party machen oder es hier sogar einen Laden mit Live-Musik gibt, weis ich nicht, auf alle Fälle ist Samstag und es geht bis spät in die Nacht. Als der Rabatz zur Ruhe kommt, übernimmt das Plätschern der Wasserharfe meine Unterhaltung. Und irgendwann schlafe ich dann trotzdem ein.

Freitag, 17.04.2009, Ehime, Shikoku Chuuō City, Handa Rest Hut

Der 33. Tag in Japan
Der Tag beginnt kühl und feucht. Es regnen schon wieder, da kann mich mein Frühstück aus Pilgerkekse, Mochi (Reisbällchen mit Bohnenmus Füllung) und Cola auch nicht mehr aufmuntern. Gestern war ein nervlich und sportlich fordernder Tag gewesen und schönes Wetter hätte mir das Aufstehen erleichtert. Doch so komme ich erst spät weg - bis ich mich aus meinem Schlafsack geschält, gefrühstückt und gepackt habe, dauert es dann doch. Aber ich habe ein trockenes Plätzchen für meine Morgentoilette, da hinter der Hütte so ein kleiner Kabuff (kleine Abstellkammer) mit Waschbecken, Toilette und sogar elektrischem Licht (denki) steht. Der Bangai Nr. 14 liegt direkt auf meinem Weg, ich kann ihn gar nicht verfehlen, aber der Regen wird stärker.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 14 Tsubakidō/Jōfukuji ( 椿堂/常福寺)
„Die Halle der Karmelie“ bzw. „Der Tempel des endlosen Glücks“ wurde von Kōbō Daishi gegründet und Enmei Jizō Bosatsu sowie Fudō Myōō gewidmet. Im Jahre 816 kam der Daishi auf seiner Wanderschaft hier vorbei und nutzte seinen Wanderstock aus Kamelienholz, um einen Ritus abzuhalten, der die Bevölkerung von einem geheimnisvollen Fieber errettete. Als das Fieber verschwunden war, wuchs der Stock des Daihi zu einer wunderschönen Kamelie aus, die von den Leuten nur „Kōbō Daishi Tsubaki“ (Kōbō Daishi Kamelie) genannt wurde. Der Tempel brannte nieder, wurde aber an der jetzigen Stelle wiederaufgebaut.

Als ich im Tempel ankommem werde ich im Pilgerbüro herzlich vom Mönch begrüßt. Wir halten einen kleinen Klönschnack auf Englisch und ich bekomme als erstes Osettai (Pilgergeschenk) des Tages eine „Krönchenorange“ geschenkt. Kronenorangen haben so eine kleine, abgeflachte Beule, die wie ein kleines Krönchen auf der runden Orange wirkt. Aber auch den Eintrag im Pilgerbuch (nokyochō), sowie einen Reisklops mit Bohnenmus Füllung (mochi) erhalte ich noch dazu, weil der Mönch so von mir und meinen Erzählungen begeistert ist. Aber ich will mich auch nicht lumpen lassen und kaufe im Tempel ein Album, in das ich die Götterbildchen (fude) sowie ,die nur in Bangai-Tempeln erhältlichen, bunten Tempelkarten sammeln kann. Das Fotografieren im Tempel ist mühsam, da es regnet. So springe ich von Unterstand zu Unterstand und mache ein paar Bilder, um meinen Besuch zu dokumentieren. Einen Kamelienbaum mit wenigen Blüten finde ich am Wasserbecken. Zu diesem Zeitpunkt ist mir aber das Schild, welches das Trinken des Wassers verbietet eher im Blick, als die paar Blüten, die der Regen noch dazu ziemlich zerzaust hat. Die Steinstatuen im Tempel scheinen alle relativ neu zu sein, als wären sie gerade aufgestellt worden. Ich kann Hotei, einen der 7 Glücksgötter ausmachen. Das ist der dicke Mönch, der immer lacht und einen Sack mit Almosen mitführt. Seine Tugend ist die Selbstgenügsamkeit - „Erwarte nichts und Dir wird gegeben“. Doch aus seinem Bettelsack gibt er gerne etwas ab, so dass er meist wie der Nikolaus mit Kindern dargestellt wird oder einem als Statue in Restaurant Eingängen entgegen lächelt. Besonders hübsch finde ich hier die Palmen, man sieht sie hier eher selten, da wir uns nicht im tropischen Okinawa (südlichste aller Inseln) befinden. Wenn einem aber immer wieder dicke Regentropfen auf dem Objektiv zum Putzen zwingen, macht das Fotografieren nicht wirklich Spaß.

Mein nächstes Ziel ist nicht der Tempel Nr. 66, sondern der Bangai Tempel Nr. 15, der hier doch recht weit entfernt vom Hauptpilgerweg liegt. Ich laufe die Straße Nr. 192 entlang, biege aber nicht nach Norden ab, den Weg werde ich auf der Rücktour einschlagen. Nach ca. 13 km komme ich am Maruzen Shokudō vorbei, einem kleinen Restaurant, das so klein ist, das die Toilette in einem separaten Häuschen untergebracht ist. Vorher passiere ich auch noch den Sakaime Tunnel, vor dem ein ausrangierter Bus steht. Ist das vielleicht der Bus, den der Regisseur des Films „88 – Pilgern auf Japanisch“ als Schlafstatt genutzt hat? Ich erinnere mich vage, dass ich eine solche Szene gesehen habe, wo er mit einem anderen Japaner in einem ausgebauten Bus gegessen und geschlafen hat. Aber die Schilder an diesem Verkehrswrack besagen, dass es nicht kostenlos ist. 2000 Yen soll der Pilger berappen, dafür werden die Annehmlichkeiten aufgezählt und eine Telefonnummer ist auch noch vermerkt. Aber noch will ich keine Unterkunft suchen und labe mich in dem kleinen Restaurant erst mal an meiner Udon Suppe, welche die Wärme wieder in mein Inneres bringt. Ich setze meinen Weg fort und das Wetter wird immer besser. Zwar kann ich auf einer elektronischen Anzeigetafel „12 °C“ lesen, aber wenn man einen zügigen Schritt an den Tag legt und genügend warme Udon Nudelsuppe intus hat, dann ist die durchbrechende Sonne wie die Sahne auf einem Stück Kuchen. An einem Daily Yamasaki Kombini (24-h-Shop) stocke ich meinen Proviant auf und bekomme als Pilgergeschenk sogar noch einen riesigen Apfel. Obst ist in Japan immer teuer, da vieles importiert werden muss und wenn es dann noch so eine Granate von Apfel ist. Die Verkäuferin hat ihn extra aus einem Nebenzimmer geholt und nicht aus der Auslage genommen, dann schmeckt so ein Ding doch doppelt lecker!

Mittlerweile scheint die Sonne und meine Stimmung hebt sich, nicht nur, weil ich gut gegessen habe. Ich peile ein Business-Hotel an, wo ich mein Gepäck abgeben werde, um dann dem Bangai Tempel Nr. 15 einen Besuch abzustatten. „Namu Daishi Henjo Kongō“ bete ich als ich in ca. 10 m Höhe den Fluss über eine Hängebrücke überquere. Nur nicht zu rhythmisch gehen, damit ich Brücke nicht so schwingt. Das ist schon ein eindrucksvoller Fluss mit großen Brücken, nicht so ein ausgetrocknetes Rinnsal. Den Grund hierfür werde ich später erfahren, es gibt nämlich ein Sperrwerk, das den Fluss anstaut. Als ich jedoch die Treppe, die voller Laub liegt, zum Hotel hochsteige, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es die richtige Wahl gewesen ist. Es scheinen nicht viele Wanderer diesen Weg zu nehmen. Im Hotel herrscht um diese Zeit noch „tote Hose“ und ich spreche zwei junge Kellnerinnen aus dem angrenzenden Restaurant an. Mit der Übernachtung sollte es in Ordnung gehen, ich lasse also mein Gepäck in der Lobby und mache mich auf den Weg zum Bangai Tempel Nr. 15. Ich habe die Strecke ganz schön unterschätzt: Da laufe ich doch einige Stunden am Fluss entlang. Während ich noch darüber sinniere, dass ich mich lange nicht mehr verlaufen habe, ist es auch schon wieder um mich geschehen. Eine große Baustelle hat mich vom Weg abgebracht, aber man müsste den Tempel bzw. die zu ihm führende Seilbahn doch eigentlich schon von Weitem erkennen. Ich laufe weiter und finde dann doch noch die Seilbahn, obwohl ich anfangs erstmal nach einem Bahnhof Ausschau gehalten habe, an dem ich mich orientieren wollte. Ich löse eine Karte für Hin- und Rücktour. Mal sehen wie gut der Trail oben ausgeschildert ist -vielleicht mache ich die Rücktour wieder zu Fuß.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 15 Hashikuraji (箸蔵寺)
„Der Tempel des Essstäbchen Lagers“ wurde 828 von KōbōDaishi, angelockt durch die seltsam heilige Atmosphäre des Berges, gegründet und Konpira Daigongen, eigentlich eine shintositischen Gottheit (kami), gewidmet. Die Gottheit soll dem Daishi erschienen sein und ihm erklärt haben, sie würde alle diejenigen retten, die Essstäbchen benutzen. So schnitzte der Mönch eine Statue der Gottheit Konpira, die der indischen Götterwelt entstammt und als „Krokodil-Gott“ Fischer und Seeleute beschützt. Da der Buddhismus shintoistische Gottheiten als Manifestationen von Bosattsus (Erleuchtete) auffasst, die noch nicht ins Nirvana (Auflösung) eingegangen sind, werden sie gerne als Helfer auf dem Weg der eigenen Erleuchtung um Hilfe gebeten. Und auch im bereits erwähnten Shugendō (Bergasketentum) werden sie verehrt. Man findet hier, neben den Tempelgebäuden sowie einem Miniaturpilgerpfad der 88 Tempel, somit auch shintoistische Gebäude und Statuen. 1868 wurden die hier dicht miteinander vergesellschafteten Religionen unter dem „Gesetzt zur Trennung von Buddhismus und Shintoismus“ auseinandergerissen. Man sagt, ein Bergkobold (Tengu) soll die ersten heiligen Essstäbchen hierher gebracht haben. Ähnlich wie bei Pinseln oder Nadeln gibt es ein alljährliches Festival, bei dem die Gerätschaften in Ruhestand geschickt bzw. ihnen für ihre Arbeit gedankt wird. Am 4. August werden so die Essstäbchen verbrannt und es finden Feuerläufe über glühende Kohlen statt. Die Kirschblüte wird am 12. April, am 12. November die Herbstlaubfärbung gefeiert. Hierzu gibt es spezielle Reisküchlein (omochi), die einer Lotterie ähnlich, ins Volk geworfen werden. In den Kuchen sind Zettelchen versteckt, die später in kleine Geschenke umgetauscht werden können. In Japan glaubt man, dass der Stern, unter dem man geboren ist, bestimmt, ob man Glück oder Unglück im Leben hat. Anlässlich der vier Sternfeste, die am 31. Dezember, 6. und 14. Januar sowie 4. Februar mit Zeremonien und Gebeten abgehalten werden, kann der Gläubige sein Schicksal wenden, indem er zu seinem Stern betet.

Als ich an der Bergstation aussteige, ich hatte während der Fahrt ein altes Tor gesehen, steht mein Entschluss fest, die Rücktour wieder zu Fuß zu laufen. Ein kleines Wildschwein begrüßt mich hier oben, es mag ein paar Wochen alt sein, denn ein ausgewachsenes hätte man wohl kaum mit einer Leine hier anbinden können. Das Tempelareal ist hier weitläufig und die Gebäude eindrucksvoll. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Nebentempel sich solche Gebäude und weitläufige Anlage leisten kann.

Nachdem ich meine Sutra rezitiert habe, laufe ich fotografierend in Richtung Tempelbüro. Als ich dort ankomme, „blufft“ mit da doch ein Mönch in Englisch an. Ob ich Bilder gemacht hätte, fragt er mich in strengem Tonfall, und macht eine Geste, als wolle er mir die Kamera wegnehmen. Ich bin kurz vom Heulen - ob der Schroffheit im Tonfall oder die Aussicht, hier nicht fotografieren zu dürfen. Wenn man beim Bildermachen nicht gerade mit Blitzlicht fotografiert, was durchaus schädlich für die empfindlichen Oberflächen sein kann bzw. die Gläubigen stören könnte, oder die Kamera direkt auf die Statuen in den Tempelhallen richtet, ist das Fotografieren eigentlich erlaubt. Wenn es nicht erwünscht ist, geben eigentlich große Schilder darüber Auskunft, die dann auch in englischer Sprache verfasst sind. Es geht so mehrfach hin und her, ob ich nun was fotografiert hätte oder nicht. Aber plötzlich wechselt er das Thema und fragt mich, was ich hier tue und nach meinem Alter. Die Atmosphäre kippt, während er vor einigen Sekunden noch den strengen Aufpasser gespielt hat, lächelt er ganz breit, als hätte er sein Ziel, mich zu verunsichern, erreicht. Sein Kollege holt Kekse und wir beginnen ein Pläuschen über meine Shikoku Tour. Als die beiden den Eintrag in mein Pilgerbuch machen wollen, gehen ihnen die Augen über, wo ich schon überall in Japan gewesen bin. Da ich für die Bangai Tempel kein neues Tempelbuch gekauft hatte, sondern mein altes vom Schrein am Fuji-san stammende Pilgerbuch, benutze, können sie an den Einträgen erkennen, dass ich sowohl den Fuji, als auch Kyoto, Nara, Osaka und natürlich auch Shikoku bereist habe. Sie sind doch sehr verwundert, dass ich als alleinstehende Frau nicht nur die Tour der 88 Tempel mache, sondern auch die Nebentempel (Bangai) besuche.
Als das Gespräch auf mein Alter fällt, muss ich grinsen, denn die Japaner haben das gleiche Problem mit der Einschätzung des Alters von Europäern, wie die ausländischen Touristen die Japaner nur schlecht altersmäßig einordnen können. Ich bekomme noch ein „pamfueto“ (Broschüre) über den Tempel und reiße mich dann von meinem Smalltalk los, da ich noch nicht alles auf dem Gelände, das wie gesagt sehr weitläufig ist, erkundet habe.

Bei einer Mini-88-Tempeltour, wo jeweils eine kleine Steinstatue einen anderen Tempel repräsentiert, spricht mich ein Japaner an. Er kann ein paar Brocken Deutsch und erzählt mir von seinem Freund, der eine Deutsche geheiratet hat. Jetzt muss ich mich aber sputen, wenn ich noch das Tor „auf halber Höhe“, das ich aus der Gondel heraus gesehen hatte, besuchen will. Ich steige also die unzähligen Steinstufen hinunter. Ein breiter Weg führt hier zum Tor, vorbei an Shugendō Figuren mit überlangen Nasen (Tengu) und vogelschnäbligen Mischwesen. Das Tor hier ist sehr alt und ich frage mich, was die Torwächter noch zusammenhält, so morsch wirken sie. Ich passiere noch einen Turm, der hier am Trail liegt, doch als ich zur Seilbahnstation zurückkehren will, um eine Rückfahrkarte umzutauschen, wähle ich den falschen Weg und gebe mein Vorhaben auf. Als ich mich abermals verlaufe, stehe ich plötzlich dann doch vor der kleinen Talstation. Für das Geld der Rücktour, kann ich mir Abendessen und Frühstück im Kombini (24-h-Shop) kaufen, was ich dann auch tue, nachdem ich im Hotel eingecheckt habe. 5750 Yen ohne Frühstück muss ich berappen. Das ist ganz schön heftig, wenn ich meine schlechte Aussicht, ich gucke unter eine Brücke und meine anfänglichen Probleme mit der Stromversorgung, sie hatten die Sicherung vergessen, bedenke.

Exkurs Feiertage in Japan

Der 4. Februar ist ein besonderer Tag, er wird „Setsubun“ genannt und ist eine Art Frühlingsfest. An ihm werden die bösen Dämonen gebannt, indem man geröstete Soja-Bohnen mit dem Ruf „fuku wa uchi, oni wa soto“ (Glück herein! Böse Geister heraus!) zur Tür hinaus wirft. Zum Teil werden auch Personen mit Teufelsmasken von Kindern mit diesen speziellen Bohnen beworfen.

Gesetzliche Feiertage
1. Januar – Neujahrstag (shōgatsu): Ist der höchster Feiertag in Japan, es gibt besondere Speisen, die alle symbolische Bedeutung haben - so stehen lange Nudeln für ein langes Leben. Die Häuser werden auf Hochglanz gebracht und mit, aus Stroh und Bambus hergestellten, Dekorationen (shime-na oder kadomatsu) geschmückt. Weihnachten wird zwar auch in Japan gefeiert, doch Geschenke bzw. Geld in besonderen Umschlägen erhalten die Kinder zu Neujahr. Man besucht den Shintō-Schrein (hatsumōde) bzw. den buddhistischen Tempel. Je früher man seinen ersten Besuch im „Neuen Jahr“ macht, desto besser ist man vor Unglück geschützt. Deshalb steht man schon am Sylvesterabend in langen Schlangen an, um nach 24 Uhr ein erstes Gebet zu verrichten und sich mit neuen Talismanen, die alten werden verbrannt, einzudecken. Auch beginnt mit Neujahr ein neues Tierkreiszeichen, die in Japan jährlich wechseln. Deshalb ist das jeweilige Tier auch Hauptmotiv auf den in Massen an sämtliche Bekannten verschickten Neujahrskarten. Die japanische Post hat einen besonderen Dienst, damit auch ja keine Karte zu früh geliefert wird. Damit verbunden ist eine Art Neujahrslotterie. Auch die folgenden Tage gelten noch als Feiertage. Somit ist Neujahr eine der 3 Hauptferienzeiten in Japan, neben der „Goldenen Woche“ um den 1. Mai und O-Bon (Allerseelenfest) im August. Es bleibt noch zu erwähnen, dass wenn ein gesetzlicher Feiertag auf einen ohnehin freien Sonntag fällt, der darauffolgenden Montag fei ist.

2. Montag im Januar: Tag der Erwachsenen (seijin no hi): An diesem Tag sieht man viele 20-jährige (genauer alle diejenigen, die in diesem Kalenderjahr zwanzig Jahre alt werden) im Kimono auf dem Weg zum Rathaus, wo eine Zeremonie zur Feier der Volljährigkeit stattfindet. Für viele junge Japanerinnen ist dies neben der Hochzeit die einzige Gelegenheit, zu der noch ein traditioneller Kimono betragen wird.

11. Februar: Gedenktag der Reichsgründung (kenkoku-kinen no hi)

um den 21. März: Frühlingsanfang (shunbun no hi) mit Kirschblüte (sakura)
Der Frühlingsanfang fällt zeitlich ungefähr zusammen mit der Kirschblüte (sakura), über letzteres habe ich schon berichtet.

29. April: Shōwa-Tag (shōwa no hi) zu Ehren des Geburtstag des Kaisers Hirohito (Regierungsmotto „shōwa“), Vater des amtierenden Kaisers von Japan, der 1989 verstorben ist. Um die Reihe von Feiertagen, welche die sogenannte „Goldene Woche“ bilden, nicht zu unterbrechen, wurde er durch den „Tag der Umwelt“ (midori no hi) ersetzt.

3. Mai Verfassungsgedenktag (kenpō kinenbi)

5. Mai: Tag des Kindes (kodomo no hi) Am Kindertag, der früher ausschließlich ein „Jungen-Tag“ war, wünscht man den Kindern Glück und Gesundheit. In Anbetracht der ursprünglichen Bedeutung des Tages werden vor jedem Haus Windsäcke in Form von Karpfen (koinobori) gehisst. Es gibt jeweils für den Vater einen großen schwarzen, für die Mutter einen roten und für jeden Sohn einen blauen, oft auch in verschiedenen Größen je nach Alter.

3. Montag im Juli: Meerestag (umi no hi): Dieser gesetzliche Feiertag wurde erst 1996 eingeführt, um die lange feiertagslose Zeit zwischen Mai und September aufzulockern.

3. Montag im September: Tag der Ehrung der Alten (keirō no hi)

um den 22. September: Herbstanfang (shūbun no hi)

2. Montag im Oktober: Tag des Sports (taiiku no hi): An diesem Tag finden in vielen Städten Sportfeste statt, er soll an den Jahrestag der Olympischen Sommerspiele in Japan von 1964 erinnern.

3. November: Tag der Kultur (bunka no hi): Ist ebenfalls ein „Ersatztag“ für den früher hier gefeierten Geburtstag des Kaisers Meiji, der Japan durch seine Restauration in die Moderne geführt hat.

23. November: Arbeiter-Dank-Tag (kinrō kansha no hi; wörtlich „Tag des Dankes der Arbeit“)

23. Dezember: Geburtstag des amtierenden Kaisers Akihito (tennō no tanjōbi)
Der Geburtstag jedes amtierenden Kaisers, des Tennō, ist für die Dauer seiner Regentschaft ein Feiertag. Wie man aber am „Tag der Umwelt“ im April sieht, wird er auch nach dem „Abtreten“ des Kaisers noch beibehalten. Am Geburtstag des derzeitigen Tennō wird ein Teil des Innenhofes des Kaiserpalastes für die Allgemeinheit geöffnet. Diese Gelegenheit nutzen viele Japaner, um dem Kaiser, während einer kleinen Ansprache, die er in Begleitung der kaiserlichen Familie hält, zu gratulieren.

Sonstige Festtage

14. Februar Valentinstag
Anders als im Westen verschenken hier die Japanerinnen Schokolade an von ihnen verehrte Männer (Freunde, Kollegen), welche sich dann am 14. März, dem „White Day“ (Weißen Tag) revanchieren.

3. März: Puppenfest (hinamatsuri): Es werden Puppen (ningyō) in historischen Kimono ausgestellt. Dieser Feiertag ist den Mädchen gewidmet. Dem Aberglauben nach nehmen die Puppen böse Geister in sich auf und schützen so die Besitzer. Hat ein Mädchen diese auch als „Puppentreppe“ bezeichnete Sammlung nicht am Folgetag weggeräumt, so sagt man, werde sie erst spät heiraten.

8. April: Blumenfest (hana matsuri): Buddhas Geburtstag
An diesem Tag werden anlässlich des Geburtstags des historischen Buddhas Sakkyamuni Elefantenfiguren in den Tempeln aufgestellt. Der Gläubige gedenkt dieses Tages durch eine spezielle Zeremonie, bei der gesüßter Tee über eine kleine Buddha-Statue gegossen wird.

13. August: O-Bon (buddhistisches Allerseelenfest) Buddhistischer Gedenktag für die Verstorbenen. Viele Japaner fahren dazu in ihren Heimatort, die meisten Firmen machen für einige Tage Betriebsferien, die etwa vier bis sieben Tage um den 13. August andauern. Behörden und öffentliche Institutionen bleiben jedoch geöffnet, da in Japan eine strikte Trennung von Staat und Kirche herrscht und sie daher religiöse Festtage ignorieren müssen. Ich hatte ja schon über die Feiern auf dem Friedhof und die Freudenfeuer von Kyoto berichtet.

15. November: „Sieben-Fünf-Drei“ (shichi go san)An diesem Tag ist es üblich, dass Eltern mit drei- oder siebenjähriger Mädchen sowie fünfjähriger Jungen mit diesen den lokalen Shintō-Schrein besuchen, um für Gesundheit, Sicherheit und glückliche Zukunft zu beten. Dabei werden die Kinder in traditionelle Kleidung gesteckt, d.h. Kimono bzw. Hakama (Hosenrock). Zur Feier dieses Tages erhalten die Kinder spezielle Süßigkeiten im Schrein. Der Brauch entstand einst, um bei der damaligen hohen KindersterblichkeitKindersdem örtlichen Gott (kami) für das Wohlergehen des Kindes zu danken.

24. bzw. 25 Dezember: Christmas (kurisumasu)
Auch in Japan kann man sich nicht dem Flair von Weihnachten entziehen. Obwohl hier die eigentlichen „Geschenke Saisons“ im Winter und im Sommer stattfinden. Hierzu werden von den Kaufhäusern vorbereitete “Pflichtgeschenke“ an die Personen verteilt, denen man Dank oder Respekt schuldet. Weihnachten ist mehr ein atmosphärisches Fest, bei dem man die Lichter und Dekorationen genießt, und sich, vor allem Liebespärchen, einen Restaurant oder Love Hotel Besuch leisten. Es fällt mitten in die Vorbereitungen für das Neujahrsfest, das von „Jahresabschiedfeiern“ geprägt ist, ähnlich der bei uns bekannten Weihnachtsfeiern im Betrieb oder Verein.

Donnerstag, 16.04.2009, Shikoku-Chuuō City, Shinchokokuji YH

Der 32. Tag in Japan
Um 6.00 Uhr ist Abmarsch angesagt, zum Frühstück gibt es den Rest Schokokekse, Dorae Keki und Wasser. Als ich gestern Abend zur Toilette ging und die Toilettenlatschen anzog, traf es mich wie ein Schlag: Welche Weichheit an meinem Fuße, welch Genuss die schmerzenden Füße endlich mal auf Latschen zu betten, die passen. Da die Damen des Hauses sich den ganzen Abend nicht mehr hat sehen lassen und sie auch am Morgen nicht zu finden war, habe ich die Latschen kurzerhand „geklauft“. Ich habe sie eingepackt und der Damen einen 1000-Yen-Schein in die Scheibe an der Rezeption geklemmt. Da ich weiß, dass solche Latschen allenfalls 700 Yen kosten, dazu noch gebraucht, sollte es reichen. Man muss sich doch wundern, wie sich während so einer Pilgertour die Präferenzen doch verschieben: Ein Himmel auf Erden in ausgelatschten Klopantoffeln! Aber die Muskulatur meiner Beine hatte sich so verkürzt, obwohl ich jeden Morgen Streching betrieben habe, dass ich morgens nach dem Aufstehen nur noch O-beinig und vorsichtig wie auf rohen Eiern barfuss laufen kann.

Ich verlasse den Tempel, jedoch nicht ohne noch ein paar Fotos zu schießen. Allein der Tempel und aber auch die Aussicht von hier oben, sind es wert, die lange Treppe hochgestiegen zu sein. Nach dem Tempeltor fällen mir die Hütte, das WC-Häuschen und die Getränkeautomaten ins Auge. Zur Not hätte ich auch dort schlafen können. Ich brauche jetzt einfach nur die ganze Strecke bis zum Abzweiger zum Tempel Nr. 65 an der Autobahn entlang laufen. Aber vorher muss ich noch einen Abstecher in die Stadt machen, da mein Proviant aufgebraucht ist und man nie weis, was einen in Zukunft erwartet. Aber das ist leichter gesagt als gedacht, denn der Trail hier in der Stadt ist unübersichtlich und schlecht ausgeschildert. Ich irre über neue, zweispurige Straßen, auf denen so früh kaum ein Auto fährt. Ich spreche einen Mopedfahrer an und halte verzweifelt Ausschau nach weiß gekleideten Pilgerkameraden. Schließlich folge ich Schulkindern, um mich an deren Schule zu erkundigen, um welche es sich handelt, da es hier immerhin drei verschiedene Schulen gibt. Ich bin an der Nakasone Elementary School (Grundschule) gelandet. Eine Mutter, die hier Schülerlotse spielt, gibt mir freudig Auskunft. Von diesem Bezugspunkt finde ich dann auch recht schnell den Circul-K Kombini (24-h-Shop), wo ich erst mal so richtig frühstücken kann. Es gibt Okonomiaki (jap. Pizza) und Erdbeermilch und auch meinen Proviant kann ich hier aufstocken. Aber der Pilgerführer ist hier nicht sehr exakt, da laut Karte der Trail vor dem Shop vorbeiführt sollte, die roten Pilgerzeichen mich jedoch hinter dem Geschäft vorbei lotsen. Aber jetzt muss ich zurück zum Expressway (Autobahn), über den Togawa Park in die Berge Richtung Sankakuji Tempel. Es geht wieder bergauf, anfangs recht steil, dann mäßig und schließlich bin ich schneller als erwartet am Tempel Nr. 65.

Exkurs Tempel Nr. 65 Sankakuji (三角寺)
„Der Tempel der Dreiecke“ erhielt seinen Namen von dem dreieckigen Altar, den Kōbō Daishi für ein 21-tägiges Goma Ritual errichtet hat, um einen unheilvollen Geist hier auf dem Geisterberg (Yurei-san) zu bannen. Der Tempel wurde zwar ursprünglich von Gōgi (669-749) nach dem Model von Mirokus (Buddha der Zukunft) „Tusita Himmel“, eine Art Paradies, gegründet, jedoch 815 von Kōbō Daishi, der sich in seinem gefährlichen 42 Lebensjahr befand, für das Bannen seines Unglücks benutzt. Kōbō Daishi hat auch die Statue der Hauptgottheit (honzon), die elfgesichtige Kannon (Juuichinen Kannon), geschnitzt. Unter Kaiser Saga (786-842; 52. Tennō) wurde der Tempel mit Ländereien ausgestattet und auf 12 Subtempeln erweitert, bis er im 16. Jahrhundert nieder brannte, aber wiederaufgebaut wurde. Das „innerste Heiligtum“ (okunoin) ist Kōbō Daishi gewidmet, der hier das Goma Ritual abgehalten hat. Im Angedenken daran wurde auch ein dreieckiger Teich mit Jizō Statue angelegt. Der Tempel, der auf einer Höhe von 450 m liegt, ist der leichten Geburt gewidmet. Hier müssen die potentiellen Mütter allerdings so tun, als würden sie in den Tempel einbrechen, um eine Schöpfkelle zu stehen, die dann unter dem heimischen Bett verwahrt wird. Nach erfolgter Geburt, bringen die Mütter die Kellen dann zurück zum Tempel, wo sie dann erneut „entwendet“ werden können.

Überraschender Weise treffe ich hier „Herrn Siam“ wieder, diesmal ohne Pilgerpartner, erzählt er mir wie schnell ich doch bin. Ich bin zwar schnell, aber durch den Besuch der Nebentempel (bangai fudasho) verlieren ich dann noch viel Zeit. Trotzdem treffe ich immer wieder auf meinen nur Japanisch sprechenden, aber wohl etwas Englisch verstehenden, Pilgerkollegen. Ich erzähle ihm, dass ich noch den Bangai Tempel Nr. 13 besuchen möchte. „Herr Siam“ dagegen kann sich gleich auf den direkten Weg zu Tempel Nr.66 (Unpenji) machen. Da aber nach Bangai Tempel Nr. 13 auch noch Bangai Tempel Nr. 14 und Nr. 15 auf mich warten, die für sich jeweils eine ganze Tagestour beanspruchen, wird dies hier wohl unsere allerletztes Treffen sein. Im Sankakuji Tempel ist Frühjahrsputz angesagt, da überall Leute arbeiten bzw. zurzeit gerade eine Teepause einlegen. Es wird gewischt, geharkt und die Beete gesäubert. Ich muss jetzt wieder auf das japanische Pilgerbuch umsteigen, das die Bangai Fudasho (Nebentempel) im englischen Kartenmaterial nicht aufgeführt sind. Ich habe die Wahl zwischen drei Routen, allerdings sehe ich beim ersten Blick in die Karte nur den direkten Weg über den Berg. Ich frage im Tempel, ob ich meinen Rucksack hier deponieren darf, um den Bangai Tempel Nr. 13 zu besuchen. Ich verstaue mein gutes Stück unter einer Bank im Pilgerbüro. Nun folge ich den Pilgerzeichen in den Wald, aber der Trail wird wohl nicht so häufig benutz, da er voller Laub und umgestürzter Bäume ist. Es ist so eine richtige „Querfeldein Tour“ und ich überlege, wie ich den Weg nur zurück schaffen soll. Ich treffe ein Pärchen in hochmoderner Wanderausrüstung. Die kommen garantiert nicht vom Bangai Tempel, die sehen mit ihrer Ausrüstung nicht nach Pilgern aus! Hier am Trail hängen auch so kleine Sicheln an langen Stielen. Zur Not muss sich der Pilger seinen Pfad hier eigenhändig freischneiden. Endlich gelange ich aus dem Wald an einen etwas lichteren Bereich. Vor mir steht ein kleines Gebäude, vielleicht ein Schrein. Die Steinlaternen und Statuen, die den Weg säumen, lassen weder die eine noch die andere Schlussfolgerung zu. Als ich weiter gehe, muss ich erschreckt feststellen, dass der Trail hier direkt über eine schlecht gesicherte Klippe führt. Mit einem großen Rucksack als Gepäck und zusätzlich Regen wäre ich wohl nicht über die Klippe gewandert. Aber so hangle ich mir vorsichtig an einem gespannten Seil über den Felsen. Nein, auf keinen Fall werde ich diese Tour zurückwandern, da werde ich eine andere Lösung finden! Hinter diesem Hindernis ist der Weg nicht mehr schwierig, Steinstufen gewährleisten den sicheren Tritt und Steinfiguren säumen den Weg. Doch im Tempel werde ich von einem ohrenbetäubenden Laubfeger begrüßt.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 13 Senryūji (仙龍寺)
„Der Tempel des Einsiedler Drachens“ soll von Kōbō Daishi 794 gegründet worden sein. Bisweilen wird er auch als „innerstes Heiligtum“ (okunoin) von Tempel Nr. 65 bezeichnet oder als „Kōya-san für Frauen“, da Frauen der Zugang seit jeher gestattet war, was nicht bei allen Tempeln zu damaliger Zeit üblich war. Das geht auf eine Legende zurück, nachdem Kōbō Daishi hier eine weiblichen Hindu (indische Religion) Einsiedlerin getroffen hat, die als Besitzerin des Berges, ihm all ihr Hab und Gut geschenkt hat. Eine andere Quelle besagt, dass nicht Kōbō Daishi, sondern Hōdō Sennin, ein indischer Asket, der über China und Korea nach Japan kam, den Tempel gegründet hat. Allerdings scheinen Frau und Asket nicht ein und dieselbe Person zu sein, obwohl in den Tempelführern der Eindruck erweckt wird. Kōbō Daishi soll hier das Goma Feuerritual abgehalten und das „Bija Mandala“ (Keimsilben Mandala; vermutlich Mutterschoß Mandala) in die Wand der Tempelhöhle geritzt haben. Der Tempel liegt in einer Felsschlucht, so dass es auch tagsüber recht dunkel ist. Sehenswert ist die Höhle, in der Kōbō Daishi verehrt wird. Ihm wird hier auch als „Mushiyoke Daishi“ gehuldigt, der Insekten und Würmer ausmerzt.

Der Bangai Tempel Nr. 13 besteht eigentlich nur aus einem einzigen großes Gebäude, in dem auch das Pilgerbüro sich befindet. Am Eingang muss man die Schuhe ausziehen und gelangt dann über diverse Gänge zur Stempelstelle. Ich suche anfangs im menschenleeren Tempel nach dem Ort, wo ich meine Sutren rezitieren kann, lande aber erstmal unfreiwillig in der „Freiluft Waschgelegenheit“ und den Toiletten. Als Pilger möchte ich hier aber nicht untergebracht werden, das wäre mir dann doch zu spartanisch, allerdings lockt die Eingangshalle mit einem Getränkeautomaten. Nachdem ich mein Nokyochō (Pilgerbuch) habe ausfüllen lassen, ob ich nur am Hondō (Haupthalle) oder Daishidō (Daishi-Halle) meine Sutra rezitiert habe weiß ich nicht, setzt ich mich in den Hof. Bei einer Cola und Pilgerkeksen genieße ich die wenigen Sonnenstrahlen, die hier in der Schlucht ankommen. Ein Taxi fährt vor und drei Mönche steigen aus. Das ist jetzt deine Change, denke ich bei mir, wieder zurück zum Tempel Nr. 65 zu kommen. Also frage ich den Taxifahrer, was er für die Tour nimmt. Für 2000 Yen will er mich zurück zu meinem Rucksack bringen und ehe ich mich versehe, sitze ich auch schon auf der Rückbank des Taxis. Der Weg zum Tempel Nr. 65 ist wie eine Achterbahnfahrt, da sich die Autostraße um den Berg herum schlängelt. Als wir durch einen langen Tunnel fahren, sehe ich einen Pilger in Richtung Tempel Nr. 65 laufen und überlege noch, ob wir den nicht besser hätten mitnehmen sollen. Am Tempel angekommen bezahle ich das Taxi, doch als ich die Treppen zum Tempel hinaufsteigen will, krampf sich alles in mir zusammen und mir kommen die Tränen. Als ich nämlich so schön in der Sonne gesessen und mir meine Pilgerkekse habe schmecken lassen, hatte ich bei meiner Ankunft der Umständlichkeit halber, meinen Wanderstock zusammen mit meinem Hut in den Stockständer am Eingang gestellt. Toll – da stehen sie jetzt noch immer!!!
Ich muss mich jetzt erstmal fangen, setze mich in eine Ecke und heule „Rotz und Wasser“. Ich komme endlich zu dem Schluss, dass ich Kōbō Daishi (meinen Stock) und meinen Sonnenschutz (Hut), die mich über so viele Kilometer treu begleitet haben, nicht einfach stehenlassen kann. Da fragt man sich immer wieder wie Pilger ihre Wanderstöcke einfach so im Tempel vergessen können und dann passiert es einem selbst!

Ich studiere die Karte. Über den Berg gehe ich auf keinen Fall, durch den Tunnel, das ist zu weit. Aber in der Karte finde ich einen unauffälligen, kleinen Pfad, der eigentlich auch zum Bangai führen sollte. Eventuell hat der Bangai Tempel Shokubō, Tempelunterkunft, und ich könnte heute dort übernachten, obwohl es wie erwähnt doch recht spartanisch auf mich gewirkt hat. Aber wo ein Wille, da ist auch ein Weg. Wenn aber etwas schief läuft, dann kann es sich zur Lawine entwickeln. So komme ich an diesem Tag zwar noch zum Bangai Nr. 13 und kann meine kostbaren Stück an mich nehmen, aber leider gibt es keine Unterkunftsmöglichkeit und auch in der Nähe ist keine Hütte eingetragen. Dabei ist 13 doch meine Glückszahl, da ich an einem 13. geboren worden bin. Es nützt alles nichts und so laufe ich einfach den weiten Weg durch den Tunnel, den ich von der Taxifahrt schon kenne, zurück. Eine Taschenlampe mit Kurbelantrieb habe ich dabei, so dass ich auch bei Dunkelheit laufen kann. Dann muss ich einfach mal gucken, wie weit ich komme. Man muss sich immer mehrere Pläne ausdenken und immer noch einen Plan B des Plan B parat haben. Nur nicht frustriert den Kopf in den Sand stecken – es muss weitergehen! Zumal in der Karte eine kleine Hütte in einer Ortschaft hinter dem Tunnel eingetragen ist. „Handa Rest Hut“ wird diese Lokalität in der Karte genannt, aber ob diese Hütte noch existiert und wie große die vor allen Dingen ist, erfahre ich erst vor Ort.

Natürlich schaffe ich den Weg bis zur Hütte, obwohl der Tunnel dann noch sehr lang und stickig ist. Bei Abenddämmerung trudel ich an der Hütte ein. Habe sogar noch genügend Zeit, um mir für das Abendbrot Getränke aus einem Automaten am Ortseingang zu holen.

Resumee von diesem Tag – was predigte Buddha seinen Anhängern immer wieder? Der mittlere Weg ist der rechte, nicht der längste auch nicht der steilste, nein - der mittlere Weg zwischen den Extremen! Unachtsamkeit ist die Geißel der Menschheit – vieles passiert aus Unachtsamkeit, deshalb lebe bewusst, konzentriere Dich auf das, was Du tust und werde Eins mit Deiner Tätigkeit. Namu Daishi Henjo Kongō!