Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Dienstag, 8. Juni 2010

Donnerstag, 09.04.2009, Ehime, Kuma kōgen-Town, Koiwaya-so Rest Hut

Der 25. Tag in Japan
Gegen 6.00 Uhr quäle ich mich total verfroren aus meinem Schlafsack. Jetzt erst mal einen heißen Tee aus dem Automaten und zum Frühstück Pilgerkekse und „Stangenbrot“. Letzteres sind so weiche Briochebrötchen-artige Brotstangen, die es mit Milchbrötchen-Geschmack (naturell) oder mit Schokostreuseln gibt. Ich ziehe mir am Automaten noch einen Kakao, weil ich wirklich durchgefroren bin. Während dessen beobachte ich wie Frühaufsteher in Yukata (Baumwollkimono) aus dem naheliegenden Onsen (Thermalbad) einen ersten Spaziergang in die Kälte wagen. Es ist also doch ein Onsen und kein Restaurant, wie ich gestern gedacht habe, als ich unter dem Schild in lateinischen Lettern (romaji) für Furuiwaiaso den Schriftzug „Family restaurant“ gelesen hatte. Ich packe meine Sachen, mein Schlafsack ist am Fußende klitschnass. Den muss ich bei nächster Gelegenheit trocknen, denke ich bei mir. Jetzt aber hurtig, ich bin schon viel zu spät dran. Wenn man draußen schläft ist man zwar bei Sonnenaufgang wach, aber bis man gefrühstückt, zusammengepackt und abmarschbereit ist, dauert es doch länger als hätte man im Ryokan (Pension) übernachtet. Meine Nachbarn gegenüber auf dem Parkplatz schlafen noch in ihrem Wohnmobil, aber ich mache mich auf den Weg zu Tempel Nr. 45, der hier ganz in der Nähe liegen muss. Der zarte Frühnebel lichtet sich. Im Moment ist es noch kalt und dunkel, da ich im Schatten der hohen Felsen wandere, doch als ich den Trail am Fluss Naose entlang laufe, kann ich einem herrlichen Naturschauspiel beiwohnen: Durch den Nebel kann man die einzelnen Sonnenstrahlen sehen, die hier am Fluss auf die Felsen treffen. Warmes Gold ergießt sich über mich und die müden alten Bäume, die hier am Ufer stehen. Eine herrliche Landschaft hier unten, die man oben von der Straße gar nicht sehen kann. Nur dem Wanderpilger, der dem Pilgerweg folgt, wird diese wunderschöne Ansicht zuteil. Langsam wird mir wärmer, ich durchwandere einen Bambushain und komme auf dem Gelände eines Schreins, der kurz vor der Ortschaft liegt, wieder raus. Es muss ein sehr alter Schrein sein, da man die Bilder in eine Art Bühnengebäude kaum noch erkennen kann, so ausgeblichen sind sie. Aber die Sonne scheint und wärmt mich, dass ist für mich die Hauptsache. Es geht an einer Teeplantage vorbei. Mir fällt ein Schild auf, das wohl die Sehenswürdigkeiten von Dorf Mikawa aufzählt, einer Ortschaft die weit hinter Tempel Nr. 45 liegt. Aber der eingezeichnete Ski-Fahrer weist mich darauf hin, dass man hier auf Shikoku, trotz subtropischen Klimas, im Winter in den Bergen durchaus mit Schneefällen rechnen kann. Vielleicht keine 4 m, wie es für Hokkaido, die nördlichste der 4 Hauptinseln Japans, typisch ist, aber immerhin kann man hier auf Shikoku dem alpinen Skisport frönen. Jetzt geht es noch durch so eine Ladengasse am Weg hoch. Die Bretterbuden sind noch verrammelt, da man so früh wohl keine Kundschaft erwartet. Und schon begrüßten mich zwei Wächterstatuen (niō) auf steinernen Säulen, das hölzerne Tor wird später folgen. Ab hier geht das Gekraxsel wieder los. Über eine endlos wirkende, steinerne Treppe, die von einem Metallgeländer begleitet wird, arbeite ich mich dem Haupttempel entgegen. Versüßt wird mir der Aufstieg durch zahllose Steinfiguren, die mit mir ein Suchspiel veranstalten, da sie durch ihre Moosbewachsung relativ gut mit ihrer Waldbodenumgebung verschmelzen. Nur die an der Treppe stehenden roten und blauen Fahnen, zuweilen beschriftete, steinerne Geländerhalterungen, bilden einen Kontrast zum satten Wald- und Moosgrün. Ich passiere eine Jizō-Galerie mit einen Loch, in dem nur ein Stein steht. Schöpfkellen auf dem Dach dieses Gebildes legen die Vermutung nahe, dass es sich um einen Brunnen handelt, die Kōbō Daishi einst hier entstehen ließ. Heute jedoch sieht der Brunnen doch recht trocken aus. Und endlich stehe ich auf der ersten Ebenen des Tempels, der hier einen, noch recht hellen, Glockenturm, ein Toilettenhäuschen, ein Pilgerhäuschen, einen Steinbecken und das Wohn- bzw. Verwaltungsgebäude des Tempels aufweist.

Exkurs Tempel Nr. 45 Iwayaji (岩屋寺)
„Der Tempel der Felsenhöhle“ trägt seinen Namen zu Recht, da er direkt vor einer zerklüfteten Felswand in den Berg gebaut worden ist. Die Gegend hier ist berühmt für ihre bizarren Felsformationen, von denen der 100 m hohe Koiwaya Fels, der ca. 2 km vom Tempel entfernt liegt, der berühmteste ist. 1874 wurde der Tempel hier offiziell vom Status des innersten Heiligtums (okunoin) von Tempel Nr. 44 (Taihōji) als Nr. 45 der Haupttempel (fudasho) erhoben. Der Legende nach bekam Kōbō Daishi 815 diesen Tempel von einer mysteriösen Frau namens Hokke-Sennin geschenkt, der man magische Fähigkeiten zusprach. Der Daishi schuf zwei Statuen von Fudō Myōō: eine aus Stein, die er in eine Höhle stellte, die andere in Holz als Hauptgottheit (honzon) für die Haupthalle (hondō). Nach und nach wurde der ganze Berg heilig, wie es z.B. im Shintoismus durchaus üblich ist. Der Tempel ist einer der Bergtempel (nansho) der Präfektur Ehime und bietet Rückzugsmöglichkeiten für Einsiedler und Wanderpilger, um ihren religiösen Übungen nachzugehen. „Seriwari Zenjo“ wird hier der Felsbrocken genannt, auf dem Kōbō Daishi seinem religiösen Training nachging. Man erreicht ihn über einen steilen 300 m langen Pfad, an dessen Ende eine Leiter steht mithilfe derer man auf den Felsen gelangen kann. Aber Vorsicht, man muss erst im Tempel um Erlaubnis fragen! 1898 fiel der ganze Komplex, mit Ausnahme einiger Dokumente, einem Feuer zum Opfer. 1927 wurden die Haupthalle (hondō) und einige andere Gebäude wiederaufgebaut.

Der Tempel ist hier regelrecht an die Felswand „geklebt“ worden. Auf der ersten Ebene stelle ich meinen Rucksack auf die blauen Bänke mit der Aufschrift des Kerzenherstellers, befestige meinen Stock und Hut, so dass sie nicht umfallen. Die Pilgerregel besagt, dass der Stock Kōbō Daishi symbolisiert und deshalb muss er vorrangig behandelt werden. So ist es mir dann doch immer etwas peinlich, wenn der Stock vor meinen Augen umkippt und mein Hut das Weite sucht. Aber ich steige die nächste Treppe zur Haupthalle hoch, immer die darüber liegende Felswand im Blick. Doch auf der nächsten Zwischenebene lockt mich ein dunkles Loch in den Fels. Hier steht ein Weihrauchbecken und ein Sechserpack Jizōs. Am Handgeländer ziehe ich mich durch die Dunkelheit. Als sich meine Augen langsam an den Lichtwechsel gewöhnt haben, kann ich im Schein der Laternen kleine Steinfiguren ausmachen. Sie sind zwar sehr dunkel, sei es von der Steinsorte oder vom Ruß, aber ich kann eine Buddha und Fudō Myōō Statue erkennen. Ich liebe solche Sehenswürdigkeiten, die man selber erkunden muss, da sie nicht im Tempelführer stehen, allerdings hätte ich gerne Näheres erfahren, doch dies bleibt mir aufgrund meiner geringen Japanisch Kenntnisse verwehrt.
Ich rezitiere meine Herz Sutra an der Haupthalle (hondō) zu Ehren von Fudō Myōō, dem ich schon in Stein auf dem Weg hierher und in der Höhle begegnet war. Ich hätte die Tempelgebäude fast verwechselt, da das Dashidō (Daishi-Halle), meist eine kleinere Halle, etwas abseits liegt. Aber diesmal ist es die größere Halle, links von der Haupthalle. Im Tempelführer steht, dass man einen Pfad von 300 m überwinden muss, um über eine Leiter zu Kōbō Daishis Felsen (seriwari zenjo) zu gelangen, auf dem er meditiert haben soll, aber eine Leiter steht hier direkt neben dem Hondō (Haupthalle). Ich steige zwar noch höher hinauf, passiere ein sehr altes Niōmon (Tor mit Wächterfiguren), doch hier oben wird der Weg derart schlecht passierbar, dass ich zu meinem Rucksack zurückkehre. Ich muss jetzt noch einen Eintrag in mein Pilgerbuch machen lassen, doch auf dem Weg dorthin, kommt mir eine graugetigerte Katze entgegengeschnurrt. Der Wonneproppen ist derart liebesbedürftig, dass er sogar mit der kalten Steinfigur eines Jizōs herumschmust. Es gibt von mir eine Rund Kraulen, doch dann muss ich mich der jungen Frau geschlagen geben, die mit einer Dose Katzenfutter aus dem Haus kommt. Mit „neko kawai“ (Katze süß!) gebe ich ihr zu verstehen, dass ich Katzen mag und ihre ganz besonders süß finde. Aber ich muss jetzt los, mich von den Details loseisen, da der nächste Tempel in 30 km Entfernung liegt. Ich mache noch eine Stippvisite auf dem Plumpsklo, wo ein Schild besagt „Western Style“ und eine weiteres das Hocken auf dem „Westler Klo“ mit einem Kreuz untersagt, während das korrekte Sitzen mit einem Kreis geboten wird. Die Aufschrift „Forestry, Agriculture and Fishery Biomass Recycling System“ weist diese Stille Örtchen als Bio-Toilette aus, was da wohl recycelt wird bzw. wo das landet, frage ich mich, und setze meinen Weg fort. Auf dem Rückweg ins Tal laufe ich doch dem Ehepaar von gestern in die Arme - so trifft man sich wieder. Es ist schon 9.00 Uhr und die Hitze macht mich fertig. Heute Morgen noch gefroren und jetzt schmoren im eigenen Saft, da lobe ich mir meinen Zwiebel-Look. Wenn es mir zu warm wird, kann ich die Fleecejacke aus der Regenjacke knüpfen, die Ärmel der Fleecejacke sind ebenfalls abnehmbar und unter meiner Kurzarmbluse trage ich noch ein Funktionsshirt. Ich laufe den Rückweg an der Straße lang, an der Brücke vor dem Tempel bewundere ich noch die beiden Steine, die man hier aufgestellt hat und die Bushaltestelle mit ihren Schiebetüren hätte auch eine schönes Nachtlager abgegeben. Aber ich muss jetzt zurück, das ganze Stück bis fast nach Kuma City.

Diesmal laufe ich durch den Koiwaya Tunnel, am Koiwaya Felsen, an meiner ehemaligen Schlafstätte, am Kogen Golf Klub und am Furusato-mura, eine Art Freilichtmuseum (http://www.kuma-kanko.com/english/index.html) vorbei, bis zur der Ortschaft mit dem Supermarkt. Hier lege ich dann erstmals wieder eine Pause ein und esse eine ganze Packung mit Frucht gefülltem Kuchen - der wäre in meiner Tasche sowieso nur zermatscht worden. Aber Vorsicht, ich darf mir den Magen auch nicht zu voll hauen, sonst geht mir vor lauter Verdauen die Puste aus. Leider machen Oberschenkel und Wade mir zu schaffen, sie schmerzen nicht, aber das ständige „Zwiebeln“ und Zwicken kann einen dann doch nerven.
Es geht wieder in die Berge, über holprige Waldwege gelange ich zu eine kleinen, idyllischen Dorf, dessen Felder hier terrassenartig an den Berg gebaut wurden. Das nächste Mal, als ich aus dem Wald komm, ist da nur eine Zementfabrik oder ist es ein alter Steinbruch. Auf alle Fälle mache ich im nächsten Dorf Halt. Hier steht ein WC-Häuschen modernster Bauart direkt an einer Brücke. Leider fegt der Wind derartig um die Ecken, dass ich mein ganzes Zeug mit ins Häuschen nehmen muss. Auf der anderen Seite des Kuma Flusses, dessen Lauf hier verändert wurde, ist ein Park mit Kirschbäumen und Pavillon hergerichtet worden. Ich passiere ein Schreintor, vermutlich das des Kōdono Schreins, und setze meinen Weg fort, wieder bergauf. Hier auf einer Anhöhe des Funa Berges hat man einen schönen Blick ins Tal und auch einen abgerutschten Hang kann ich von hier sehen. Es rutschen immer wieder Hänge ab bzw. zum Teil sind es Steinbrüche und auch zum Bau von Straßen und Tunnel werden ganze Waldgebiete gerodet. Diese kahlen Stellen kann man dann schon aus großer Entfernung erkennen, da sie wie braune Flecken im sonst grünen Mantel der Berge wirken. Nachdem ich den Misaka Pass hinter mir gelassen habe, wird es allmählich flacher, da ich in die Ebene wandere, in der Matsuyama City liegt. Ich mache noch ein Päuschen in der Sakamotoya Pilgerhütte, wie sie in der Karte genannt wird und folge dem Lauf des Misaka Flüsschens. „Amikake ishi“ wird das nächste Gebäude in meiner Karte genannt, da es mit einer Swastika (Hakenkreuz in anderer Richtung) versehen ist, ein buddhistisches Zeichen. Ob man hier im Notfall übernachten kann, frage ich mich, aber der Tag ist noch jung und den nächsten Tempel sollte ich noch bei Tageslicht erreichen können. Auf meinem Weg begegnen mir überall große, weiße Schilder, da sie kleine Skizzen aufweisen, handelt es sich wohl um keine offiziellen Schilder, sondern solche, die Geschichten und Mythen aus der Region erzählen. Leider habe ich keine Zeit sie großartig zu studieren, das werde ich später machen. Endlich habe ich die große Ebene erreicht und folge einem Pilger, der einige hundert Meter vor mir läuft. Als ich zu ihm aufschließe, da der Ärmste den Weg wohl nicht kennt, hat der aber schon eine Bäuerin angesprochen. Ich folge ihm grinsend und er spricht mich an. Ich zeige ihm mein englischsprachiges Kartenbuch. Gemeinsam betreten wir dann Tempel Nr. 46, doch auf dem Tempelgelände verliere ich ihn wieder, da mich zwei ausländische Frauen ablenken.

Exkurs Tempel Nr. 46 Jōruriji (浄瑠璃寺)
„Der Tempel des reinen Lapis Lazuli“ trägt seinen Namen nach Yakushi Nyorai, der auch als „Buddha des reinen Smaragd Lichtes“ (Rurikō Nyorai) bezeichnet wird. Aber warum der blaue Lapis Lazuli etwas mit dem grünen Smaragd zu tun haben soll, kann ich mir nicht erklären. Auf alle Fälle wurde der Tempel 708 von Gyōgi (668-749) gegründet, der auch die Statue des Yakushi Nyorai geschnitzt hat. Zu ihm gesellten sich noch die beiden Statuen des Mond- und Sonnenlichts (Nikko und Gakko). 812 kam Kōbō Daishi hierher und renovierte den Tempel. Zwischen 1392 und 1467 expandierte der Tempel, er bekam Land geschenkt, auf dem neue Gebäude errichtet wurden, die jedoch später wieder verfielen. Im späten 17. Jahrhundert griff ein Waldbrand auf den Tempelbezirk über, nur die Statuen der Hauptgottheiten konnten gerettet werden. Erst 80 Jahre später wurde der Tempel von einem Mann namens Gyōn (1723-?) wiederaufgebaut, der als Dienst an der Gemeinschaft, um Geld bat, um Tempel und die 8 Brücken der Tosa Straße von Iwayaji nach Matsuyama zu bauen. Bemerkenswert sind ferner die drei 1000-jährigen Bäume, die zu den Naturmonumenten von Matsuyama zählen. Am Fuß des einen Baumes gibt es eine Kōbō Daishi Figur (momi daishi), deren Verehrung zu einem langen Leben und guter Ernte führen soll. Aber es gibt in der Umgebung noch andere wundersame Steine, so z.B. die Fußabdrücke Buddhas (bussoku seki), die einem, wenn man sie mit nackten Füßen betritt, eine sofortige Schmerzlinderung verschaffen sollen. Auch schützen sie einen vor Unfällen im japanischen Verkehrschaos. Es gibt einen großen Gebetsstein (seppoo ishi), in dem ein kleiner Stein vom Berg Ryōju in Indien eingelassen ist. Als Gegenstück zu den Fußabdrücken gibt es in der Nähe des Glockenturms die Handabdrücke Buddhas, welche einem Weisheit und Geschicklichkeit verleihen sollen. Und ein weiterer Busshu – Busshu shimon (Buddhas Fingerabdrücke) sollen den Einklang von Körper und Seele fördern, sowie schlummerndes Schreibtalent zum Erblühen bringen. Ein weiterer Felsen hat nichts mit Buddha zu tun. Auf ihm steht ein Haiku (traditionell jap. Gedicht), das von Masaoka Shiki (1867-1902), einem der berühmtesten Haiku Dichtern der Neuzeit, das in Angedenken an Emon Saburō, der aus dieser Gegend stammt, geschrieben wurde:

Wie lang auch der Frühlingstag
wärt,
erinnere Dich an Emon
Saburo
Im Jōruriji.

Zur Erinnerung - Saburō ist der Mann, der Kōbō Daishi keine Almosen geben wollte und dem in kürzester Zeit alle seine 8 Söhne verstorben waren. Bei dem Versuch den Daishi um Vergebung zu bitten, er drehte diverse Runden durch die Tempel Shikokus, in denen er den Daishi vermutete, verstarb er total erschöpft in den Armen des gesuchten Wandermönchs. Der Legende nach hat er also die Pilgerreise begründet. Sein Grabmal steht zwischen Tempel Nr.11 und Nr. 12!

Leider habe ich nicht einen der Busshu (Fuß-, Finger-, Handabdrücke) gesehen, da der Vorplatz derart mit Grünzeug und Steinfiguren gepflastert ist, dass man nur schwer den Überblick behält. Außerdem lenkte mich ein, durch ein Muschelhorn erzeugter, Ton ab und ich überlegte, ob ich heute einem Yamabushi (Bergasket), Praktizierender des Shugendō, begegnen könnte. Während ich noch die schönen Palmen bewundere, fallen mir zwei Europäerinnen auf, die hier vor dem Pilgerbüro eine Pause eingelegt haben. Da sie lebhaft miteinander diskutieren, spreche ich sie gleich auf Deutsch an. Es sind Mutter und Tochter und kommen aus Magdeburg bzw. die Tochter studiert Japanologie in Berlin. Das ist auch der Grund für ihre Reise, denn die Tochter möchte die Pilgerreise der 88 Tempel zum Thema ihrer Abschlussarbeit machen. Da beide sehr japanophil (Japan liebend) sind, hat die Mutter kurzerhand ihren Urlaub zusammengekratzt und ist mit ihrer Tochter gemeinsam auf große Tour gegangen. Sie berichten mir, dass sie eben noch einen Yamabushi (Bergasketen) gesehen haben, der in sein Muschelhorn geblasen hat. Als ich jedoch etwas später nach dem Einsiedler suche, ist er leider schon verschwunden. Ich bekomme von der Tochter eine Orange mit der Erklärung überreicht, dass man im Pilgerbüro davon ausgegangen sei, dass wir zusammen gehören. Ich bedanke mich und als die beiden aufbrechen, erklären sie mir, dass sie noch den nächsten Tempel besuchen und sich dann eine Unterkunft suchen wollen. Sie reisen zwar mit Bus und Bahn, haben aber trotzdem keine Reservierungen gemacht. Wir verabschieden uns. Ich muss noch meine Herz Sutren rezitieren, doch nachdem ich aus dem Pilgerbüro komme, fällt mir ein Zettel an meinem Rucksack ins Auge. Die beiden von vorhin haben ihre Adresse hinterlassen und ich ärgere mich, dass ich nicht selber auf die Idee gekommen bin, die beiden zu fotografieren bzw. ihnen ebenfalls meine Adresse zu geben. Als Shikoku Veteran könnte man sich, zurück in Deutschland, mal treffen und Erfahrungen austauschen. Aber diesen Fehler kann ich schnell korrigieren, da ich die beiden kurz vor Tempel Nr. 47 wieder eingeholt habe.

Exkurs Tempel Nr. 47 Yasakaji (八坂寺)
Der Tempel wurde wahrscheinlich im 7. Jahrhundert von Gyōja Ozunun (634-701), Begründer des Shugendō („Weg des Trainings von Wunderkräften“), gegründet. 701 erweiterte der Landesherr der Provinz Iyo, Tamaoki Ochi, den Komplex um 7 weitere Hallen und widmete sie der Verehrung des Kaiser Nonmu (auch Nommu; 683-707; 42. Tennō). Von diesem Landesherrn bekam der Tempel auch seinen Namen „Tempel der 8 Abhänge“, da man ihn zur damaligen Zeit nur über 8 Abhänge bzw. Wege erreichen konnte, die den Berg Daidō (heute ōtomo) hinaufführten. Nachdem Kōbō Daishi 815 hier verweilte, erblühte der Tempel als wichtige Institution für Shugendō. Im 16. Jahrhundert wurden der Komplex und seine Schätze von Chōsokabe Truppen niedergebrannt, jedoch später wieder aufgebaut. Die Hauptgottheit (honzon) ist hier Amida Nyorai, dessen Statue von einem einflussreichen Tendai Priester namens Genshin (942-1017), auch bekannt als Eshin, geschnitzt wurde. Tendai ist eine, auf dem Lotos Sutra basierende, Schule des Buddhismus in Japan, welche zeitweise dominierte, vor allem in der Hein-Zeit (794-1192), und mit der Shingon Schule rivalisierte. Bereits erwähnter Emon Saburō, hatte nur wenige Kilometer von hier seinen Familientempel mit Namen Monju-in und Tokujōji. Die Gräber seiner 8 Söhne liegen keine 500 m vom Yasakaji Tempel entfernt. Erwähnenswert sind ferner der Steinturm und ein indischer Reliquienturm (Stupa). Eine aus dem 13. Jahrhundert stammende Amida Statue und eine aus der gleichen Zeit stammende Bishamonten Figur zählen zum wichtigen Weltkulturerbe. Die Ursprünge des Tempels aufgreifend begründete der Daigo-ha Zweig des Shingon, hier ein wichtiges Zentrum für die Praktik des Shugendō, welches die shintoistischen Gottheiten (budd. gongen/shinto. Kami), die am Berg Kumano in den Kii Bergen (Präfektur Wakayama*) verehrt werden, hier als personifizierte buddhistisch Bodisattvas verehren. Deshalb wird der Tempel auch Kumano-san-Yasakaji genannt.

*Diesen Ort habe ich nach meiner Shikoku Tour ebenfalls besucht. Die shintoistische Pilgertour, die zu den drei Großschreinen von Kumano führt, wird „Kumano-Kodo“ genannt und man kann von verschiedenen Ausgangspunkten starten, so z.B. vom Koya-san. Ich jedoch bin vom berühmten Ise-Schrein aus gewandert und immer wieder auf Orte gestoßen, an denen Kōbō Daishi Wunder bewirkt hat.

Exkurs Shugendō (修験道)
Shugendō bedeutet im Japanischen so viel wie „der Weg des Trainings von Wunderkräften“ und ist eine Mischung aus Buddhismus und Shintoismus. Die Anhänger dieser religiösen Mischform werden auch Shugenja oder Yamabushi („die in den Bergen schlafen“) genannt, da sie in den Bergen ihre magischen Rituale und asketische Übungen durchführen. Zu diesen gehören die Meditation in der Einsamkeit, aber auch der Feuerlauf (Goma-Ritual) zu Ehren von Fudō Myōō oder das Meditieren unter eiskalten Wasserfällen.
„Wunderkräfte“ wie das Vertreiben von Dämonen oder Wahrsagen werden durch das Auslooten der menschlichen Fähigkeiten bei diesen Ereignissen erworben, die dem Außenstehenden als übermenschlich vorkommen. Aber auch Naturheilkunde beherrschen diese Einsiedler, die sich in der Wildnis auskennen, und durch die Begegnung mit den legendären Bergkobolden (Tengus) Selbstverteidigungskenntnisse erworben haben sollen. Äußerlich erkennt man die Bergasketen an ihrer eigenwilligen Mönchstracht: Sie ist gekennzeichnet durch ihre safrangelbe Farbe, die große Bommeln und ein kleines Kästchen (hōjugata tokin), das vor der Stirn getragen, als Kopfbedeckung dient. Letzteres soll beim Durchstreifen des Waldes vor Astschlägen schützen und als Trinkschale Verwendung finden. Akustisch machen sie sich mit ihrem Muschelhorn (hora) auf sich aufmerksam, ein weiters Erkennungszeichen.

Das Tor von Tempel Nr. 47 mag zwar unscheinbar sein – klein und schmal und ohne Wächterstatuen, dafür ist die Bemalung der Decke umso eindrucksvoller. Buddha ist hier abgebildet mit einer Vielzahl von Apsaras, das sind so eine Art buddhistisch Göttinnen bzw. Engel. Auf dem Tempelgelände gibt es eine Vielzahl von Plakaten und Fotokollagen, die über das Shugendō und deren Rituale berichten. Rituale zu denen sich die Yamabushi (Bergasketen) hier zusammenfinden und z.B. das Feuerlaufen zelebrieren, ziehen nicht nur Einheimische, sondern auch immer mehr Touristen an. Allein das Auftreten der Yamabushi in ihrer safrangelben Kleidung, bewaffnet mit Muschelhorn und Riesenpuscheln ist schon sehenswert. Ich konnte zwar auf meiner späteren Pilgerreise auf Shikoku und auf der Kii-Halbinsel einige Yamabushi in Augenschein nehmen, doch huschten sie entweder zu schnell an mir vorbei bzw. ließen die Wetterverhältnisse ein Foto nicht zu. Direkt neben dem Tempel gibt es zwei Gänge, ich würde sie mal als Himmel und Hölle bezeichnen, die ebenfalls nicht im Tempelführer Erwähnung finden. Während man durch den Himmel Gang über einen flachen Boden läuft, sind die Wände mit Apsara Figuren (Göttinnen; Engel) verziert. Im Höllen Gang finden sich dagegen spitze Stolpersteine und gruselige Hungergeister. Hier im Tempel sehe ich auch eine neue Form des „Tausend Kraniche“ Origamis (jap. Papierfaltkunst) – statt sie auf eine Kette zu ziehen, hat man ganz besonders kleine Kraniche gefaltet und sie in eine 1,5 l Plastikflasche „gesperrt“.
Ich finde zwar auch den Steinturm, aber er ist nicht besonders groß. Wenn im englischsprachigen Tempelführer die Rede von „Tower“ oder „Monument“ ist, denkt der Europäer immer an hohe Türme und monumentale, d.h. große, Gedenksteine. Man ist dann etwas enttäuscht, wenn so eine Turm „nur“ 2-3 m misst und auch das Monument einem vielleicht gerade bis zur Hüfte reicht. Das kann ganz schön schwierig werden, wenn man in einem Park nach etwas Großem Ausschau hält. Hätte man gewusst, wie groß bzw. klein eine solche Gedenkstätte in Wirklichkeit ist, hätte man sie vielleicht nicht übersehen. Aber genug des Sinnierens über verpasste Möglichkeiten. Kurzerhand schließe ich mich den beiden Magdeburgern an, nicht jedoch ohne zu fragen, ob ihnen meine Anwesenheit genehm ist. Man weiß ja nie in welcher spirituellen Verfassung die Pilger sich hier befinden, manchmal scheinen sie mit sich selbst genug Gesellschaft haben. Auch mir waren die Momente kostbar, in denen ich nicht mit einem Mitpilger klönen musste, wenn ich einfach nur die Atmosphäre in mich aufsaugen wollte oder mit lautem Keuchen einen Berg bezwingen musste. Aber die beiden sind ganz locker drauf und gemeinsam machen wir uns also auf den Weg, um eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden.
Es werden noch Erdbeeren an einem Verkaufsstand am Straßenrand gekauft – ein ausgedienert Kühlschrank dient hier als Auslage und eine festgeschraubte Kasse dem Bezahlen. Unglücklicher Weise wurde die Straße hier gerade umgebaut, was das Navigieren erschwert. Das Ebara Resort ist geschlossen bzw. beherbergt jetzt ein Freizeitzentrum mit Tennishalle. Das Tengiku ist verrammelt und dunkel. Als die beiden schon mit dem Gedanken spielen, den nächsten Bus nach Matsuyama zu nehmen, finden wir dann doch im Chochin-ya eine Übernachtungsmöglichkeit. Da der Bangai Tempel Nr. 9 (Monjuin) hier direkt um die Ecke liegt, hätte ich ihnen auf ihrer Bustour in die Stadt nicht folgen können. Aber jetzt sind wir in so einer richtigen Bettenburg einquartiert, vor der 3 Reisebusse parken.
Da Mutter und Tochter kein Faible für japanisches Essen haben, sie versorgen sich lieber mit westlicher Nahrung aus dem Kombini Markt (24-h-Shop), nehme ich mein Abendessen allein im großen Speisesaal ein. Hier wurde sogar ein Altar für Kōbō Daishi errichtet und als mir die Kellnerin mein Abendessen bringt, zeigt sie mir mit gefalteten Händen, ich solle mich doch beim Daishi dafür bedanken. Was ich auch sofort tue. Das Essen ist wie immer sehr lecker. Heute gibt es sogar einen kleinen Feuertopf: Das ist so ein kleiner Topf mit Deckel, in dem Suppe mit Einlage durch eine Brennpastenbefeuerung erhitzt wird. Das alleine ist schon ein Schauspiel, wenn die Flamme so vor sich hin lodert. Doch wenn man den Deckel öffnet, die Kellnerin weist mich an auf sie zu warten, damit alles gut durchgekocht ist, ist das wie ein kleines Stilleben - so mit Nudeln, Pilzen, Sprossen, hauchdünnem Rindfleisch, Krabbenschwänzen und Frühlingszwiebeln.
Nachdem ich ein Bad genommen habe, es gibt hier wieder nur ein Gemeinschaftsbad, das ich allerdings alleine nutzen kann, da die meisten Gäste erst ein Bad nehmen und dann Essen, treffe ich mich mit meinen beiden Magdeburgern im Flur auf einen Drink. Ich berichte ihnen von der Sauna, die ich im Badebereich entdeckt habe. Am Automaten ziehe ich mir ein Calpis Soda, das ist Mineralwasser mit einem leichten Joghurtgeschmack. Gemeinsam fläzen wir drei uns auf einer Couch und erzählen über unsere Erlebnisse und Pläne. Mit der Japan-Studentin diskutiere ich noch über japanisches Unterrichtsmaterial und wie man am besten die Kanji (Symbolzeichen) lernen kann. Zu meiner Überraschung bietet sie mir einen Kitkatzen Schokoriegel an, den sie kurz zuvor aus dem Getränkeautomaten gezogen hat. Bis jetzt war ich der Meinung gewesen, es handle sich um einen Schokodrink mit Kitkatzen Geschmack, aber als sie mir das Glas mit den Riegeln zeigt, bin ich dann doch etwas verblüfft. Ich kannte zwar neben Softdrinks, Bier, Kaffe und Tee, die es sowohl kalt als auch heiß aus dem Getränkeautomaten gibt, schon diverse Fertig-Suppe, aber Schokoriegel hatte ich da nicht vermutet. Wir resümieren und diskutieren und kommen zu dem Schluss, dass uns die Pilgerkekse besonders gut schmecken. Wir verabschieden uns voneinander, da wir nicht wissen, ob wir uns morgen früh nochmals sehen werden und kriechen in unsere Futons. Leider wird die Nacht bei mir nicht ganz so erholsam, da meine Toilettenspülung ständig rauscht oder ist es die Spülung des Nachbarn. Als ich dem Rauschen auf den Grund gehe, entdecke ich eine kleines Flüsschen, der Deutsche würde es wohl als „Aue“ bezeichnen, die direkt unter meinem Fester vorbeiführt. Da nützen einem die Klimaanlage und der große Flachbildschirm im Zimmer auch nichts, wenn man das Rauschen des Flüsschens nicht abstellen kann.

Mittwoch, 08.04.2009, Ehime, Uchiko Town, Fuji-ya Ryokan

Der 24. Tag in Japan
Das Frühstück ist auf 6.00 Uhr angesetzt, da die Wirtin weiß, dass Pilger früher aufstehen müssen als normale Touristen. Aber schon um 5.00 Uhr rührt sich in den andere Zimmer was. Durch die dünnen Wände hört man jedes Gespräch und jeden noch so leise gestellten Fernseher. Beim Frühstück sind alle wieder versammelt, das Ehepaar, meine beiden Gentlemen und ein weiterer Japaner. Zum japanischen Frühstück bekomme ich ein Ei und auwei – es ist leider nicht gekocht, sondern soll nur den Frühstücksreis aufpeppen! Beim Aufbruch, ich habe mich vorher nicht mit meinen beiden Pilgerkollegen absprechen können wann es wieder losgeht, verabschieden wir uns gemeinsam von der Wirtin und ich mache noch ein Foto von ihr. Auf dem Trail trennen sich unsere Wege, da Herr Siam eine andere Route wählt. Während er an der Straße 380 entlang wandern will, werde ich beim Schrein Mishima Jinja abbiegen, um den Tempel Nr. 44 heute über die Nordroute zu erreichen. Auf meinem Weg begegne ich einem Fasan, der vor mir über die Straße läuft, einem süßer kleiner Hund und sogar eine Ziege soll ich heute auf meinem Weg am Fluss Ohira-gawa entlang sehen. Während ich jedoch am Mishima Jinja abbiege und nach einer kleinen Bergtour wieder an einem anderen, aber gleichnamigen Mishima Jinja rauskomme, missinterpretiere ich meine englische Karte. Nach der Karte läuft hier ein kleiner Weg vom Schrein wieder auf die Straße 42. Ich verlasse also das Schreingelände und hoffe, jeden Moment auf die nächst größere Straße zu treffen. Aber Fehlanzeige, hier ringelt sich eine kleine Straße durch die Berge. Ich laufe so ca. 2 km in die falsche Richtung bis ich auf ein Sägewerk treffe, in dem ich einen Arbeiter nach dem Pilgertrail fragen kann. Der schickt mich wieder zurück zum Jinja (Schrein). Das ist immer am frustrierensten, wenn man den Weg, den man sich gerade hochgeschleppt hat, wieder zurücklaufen muss, nur weil man eine Kleinigkeit übersehen hat. Als ich endlichen das Schrein Tōri (Tor) wieder erreicht habe, finde ich auch ein Schild, dass hier ungünstig rechts an einer Hecke befestigt ist. Wenn man hier vom Schreingelände kommt, hat man das Schild im Rücken. Wäre ich aber die andere Tour gelaufen, hätte mich mein Weg hier direkt vorbei geführt. Ich werde den Autoren des englischen Buches, wenn ich mein Pilgerabenteuer niederschreibe noch so etliche Verbesserungsvorschläge unterbreiten, damit man sich, auch bei schlechter oder mangelnder Beschilderung, trotzdem zurechtfinden kann. Ich notiere in mein Notizbuch, dass ich 4 km gelaufen bin, ohne meinem Ziel, Tempel Nr. 44, nähergekommen zu sein.

Aber jetzt bin ich wieder auf dem Pilgertrail und treffe das Ehepaar aus dem Ryokan (Pension) wieder. Ganz schön schwer, die Japaner wiederzuerkennen, zumal wenn sie Pilgerkleidung tragen. Wir kommen an einer Pilzzucht vorbei und ich verstehe jetzt, was die Leute vor ein paar Tagen mit den kleinen Holzstämmen gemacht haben. Hier stehen sie, beschattet unter so eine Art Sonnenschutz, wie kleine Zäune im Wald. Ich finde sogar ein Stämmchen, an den man zwei große Shiitake Pilze vergessen hat. Aber wir wandern weiter, immer den Berg hinauf. Wir müssen hier den Shomosakawa Fluss und den Hiwata Pass bewältigen, bevor wir in der nächsten Ortschaft, Kuma-kōgen, den nächsten Tempel (Nr. 44) besuchen können. Es ist mir fast peinlich, wie schnell ich an den beiden vorbeiziehe, aber ich kann nicht auf halber Höhe Pause machen. Obwohl ich mehr Gepäck mit mir herumschleppe, versuche ich immer ein Hindernis erst zu nehmen, bevor ich Pause machen - getreu dem deutschen Motto „Erst die Arbeit und dann das Vergnügen“. Aber hier gibt es immer wieder Möglichkeiten eine Rast auf einem Bänkchen einzulegen und ich warte geduldig, bis meine Wanderkollegen mich wieder eingeholt haben. Wir treffen sogar hier oben noch auf zwei weitere Pilger, die gerne ein Pläuschchen mit uns halten. Einer schließt sich uns sogar an, aber jetzt muss ich auf Englisch Rede und Antwort stehen, da der Japaner mich förmlich ausquetscht. Aber er merkt schnell, dass wir die Luft eigentlich für den Weg brauchen, der hier den Berg hoch geht. Wortlos laufen wir dann wie die Ameisen hintereinander und bestaunen den schönen Blick von hier oben. Bis zur Stadt kommen wir noch an einem modernen, weil in Beton erbauten, Tempel vorbei. Beim Anblick eines Bootes hier oben muss ich schmunzeln: Ich vergesse immer wieder dass, obwohl wir uns hier in den Bergen befinden, wenige Kilometer entfernt, das Inlandsmeer beginnt. Es wird auch „Seto Inlandsmeer“ genannt, da es die Insel Shikoku und von der westlichen Hauptinsel Honshu sowie zur nördlich gelegenen Hauptinsel Kyushu trennt und nur über 4 Meerengen mit dem japanischen Meer im Norden und dem Pazifischen Ozean im Süden verbunden ist.

Immer wieder machen wir Pausen, da das Wetter heute doch recht warm ist bzw. der Trail heute über Stock und Stein durch die Berge führt. Endliche erreichen wird die Stadt Kuma, doch was ist das? Meine japanischen Freunde erklären mit, dass sie jetzt ihren Ryokan aufsuchen wollen und erst morgen den Taihōji besuchen wollen. Ich verabschiede mich von ihnen und da es erst 14.00 Uhr ist, werde ich sowohl den Tempel einen Besuch abstatten und auch noch ein gutes Stück weiterwandern. Ich überquere den kleinen Fuß Kuma, von dem die Ortschaft hier ihren Namen hat. Eine ganze Armader von Karpfenwimpel (koi nobori) flattern hier an einer kleinen Brücke im Wind, obwohl noch lange nicht der 5. Mai ist, das ist der Tag des Jungen-Festes, an dem sie eigentlich gehisst werden. Es sind auch keine Wimpel im eigentlichen Sinne, sondern Windsäcke, die nach dem schwarzen Koi (Karpfen) für den Vater und den roten für die Mutter, inform von blauen Kois anzeigen, wie viele Jungen in einer Familie leben. Aber auch so sehen die flatternden Karpfen, die Sinnbild für Kraft und Ausdauer des gegen den Strom schwimmenden Karpfens sind, sehr hübsch aus. Sie bilden zusammen mit den zart rosa blühenden Kirschbäumen einen tollen Kontrast. Von der Brücke kann ich schon das, zwischen den Häusern stehende, einfache Tempeltor erkennen. Das eigentliche Tor (Niōmon) steht aber noch ein Stück weiter und der eigentliche Tempel liegt noch ein gutes Stück Fußmarsch entfernt. Ich freue mich riesig, denn mit dem Haupttempel Nr. 44 habe ich laut Zählung der Haupttempel die Hälfte geschafft – heute habe ich im wahrsten Sinne des Wortes „Bergfest“.

Exkurs Tempel Nr. 44 Taihōji (大宝寺)
„Der Tempel des großen Schatzes“ war ursprünglich der private Versammlungsraum eines koreanischen Mönchs, der 701, im 1. Jahr des Inkrafttretens der Taihō Reform nach Japan gekommen war. Taihō bzw. der Taihō-Kodex war eine Verfassungsreform, in der nach chinesischem Vorbild der Konfuzianismus (Lehre des Konfuzius, der jedem Menschen einen moralisch/sozialen Platz in der Gesellschaft zuwies) mit eingeflossen ist. So leitet sich auch der Tempelname von diesem Datum ab. Oder war es ein japanischer Mönch, der von Korea heimgekehrt war? Die Tempelführer widersprechen sich in dieser Hinsicht. Eine andere Legende aus dem 6. Jahrhundert bezeichnet zwei Jäger (Ukyō und Hayato Myōjin) als Tempelinitiatoren, die während der Jagd auf eine Jūichimen Kanzeon Bosatsu (elfgesichtige Kannon) Statue gestoßen sind. Ob der Ursprung der Kannon Verehrung also in der Statue des koreanischen Mönchs liegt oder bei den Brüdern, die diese oder eine andere Figur im Wald fanden, so wird die formelle Gründung Kōbō Daishi zugesprochen, der hier zwischen 810 und 824 den Tempel wiederaufbaut hat. Der Legende nach gab es in dieser Region nur unfruchtbares Land und als der Daishi hierher kam, lebte hier nur eine einzige, einsame Frau, die ihn bat, ihr doch Gesellschaft zu leisten. Der Mönch leitete den Kuma Fluss um, so dass er näher am Tempel vorbeifließen konnte. Der umgeleitete Fluss brachte die Fruchtbarkeit zurück in die Felder und alsbald kamen auch die Bauern zurück, so dass die Frau wieder Gesellschaft bekam.1156 wurde dieser Tempel zum Ort der Huldigung des Kaisers Go-shirakawa (1127-1192; 77. Tennō), als ein kaiserlicher Gesandter hier für den erkrankten Kaiser betete. Die Schwester des Kaisers soll dem Tempel sogar als Äbtissin vorgestanden haben. Wieder und wieder wurde der Tempel von Feuersbrünsten heimgesucht. Mitte des 18. Jahrhundert konnte der Tempelvorsteher Saishuu Hōin rebellierende Bauern dazu überreden, wieder in ihre Dörfer zurückzukehren. Hierfür bekam er bzw. der Tempel eine Belohung vom damaligen Lokalfürsten von Iyo. Nachdem der Tempel 1873 abermals niedergebrannt war, wurden 1912 sowohl die Haupthalle (hondō) als auch die Daishi-Halle (daishidō) wiederaufgebaut. Der Tempelführer berichtet weiter, dass der Tempel auf der Kuma Anhöhe liegt und von einem wunderschönen Zedernwald umgeben ist. Sehenswert sind das Eingangstor mit seinen Wächterfiguren und die riesigen Strohsandalen (waraji), die hier aufgehängt wurden. Es gibt zwei Glockentürme, von denen die eine, die sogenannte „Friedensglocke“, an die Seelen der Opfer des 2. Weltkrieges erinnern soll. Dem „aruki henro“ (Wanderpilger) wird gratuliert, da er die Hälfte der Tempel besucht hat, aber er soll den Mut nicht sinken lassen, auch wenn es bis hierher ein hartes Stück Arbeit war. Vorsicht, zuweilen wird der Tempel auch mit “Daihōji“ anstatt „Taihōji“ transkribiert, genau wie das japanische Wort für Fluss manchmal mit „kawa“ oder „gawa“ umschrieben wird!

Im Tempel finde ich besonders die schöne Kannon Statue beeindruckend, die hier eine gelbe Patina angesetzt hat und einen schönen Kontrast zu den dunkelgrünen Zedern bildet. Auf dem Gelände gibt es auch eine Wand, an die Pilger ihren Namenszettelchen (osame fuda) angebracht haben – was es wohl damit auf sich hat? Vor Bäumen sind Schilder aufgestellt, die ich leider nicht lesen kann. Die Gebäude wirken sehr alt und auch der Binzuru (Buddhas Gefolgsmann) sieht in seinem Drahtverschlag eher wie ein Knastbruder als wie ein Heiliger aus.

Exkurs Datumsangaben in Japan
In Japan wird das Datum nach dem Kaiser bzw. dessen Regierungsmotto benannt. Heute ist Akihito Kaiser von Japan und sein „Regierungsmotto“ lautet Heisei („Frieden überall“). 2009 würde also Heisei 21 entsprechen. Das erste Jahr einer neuen Ära beginnt jeweils mit dem Amtsantritt eines neuen Kaisers, endet aber am 31. Dezember, sodass dieses bestimmte Jahr zu zwei Ären gehört. Seit der Meiji-Restauration (1868) gab es bisher (2009) vier Jahresdevisen/Ären:
122. Kaiser Musuhito – Motto „Meiji“ von 1868 (Meiji 1) bis 1912 (Meiji 45)
123. Kaiser Yoshihito – Motto „Taishoo” von 1912 (Taishō 1) bis 1926 (Taishō 15)
124. Kaiser Hirohito – Motto „Shōwa“ von 1926 (Shōwa 1) bis 1989 (Shōwa 64)
125. Kaiser Akihito – Motto „Heisei“ seit 1989 (Heisei 1)
In offiziellen japanischen Dokumenten wurde ab dem Kriegsende 1945 auf Anordnung der Besatzungsmächte die westliche Jahreszählung verwendet, seit dem 6. Juni 1979 gilt gesetzlich wieder die japanische. Zeitperioden werden in Japan meist mit dem Hauptsitz der Regierung bezeichnet, so z.B. Nara-Zeit (710-794), Heian-Zeit (heute Kyōto; 794 - 1192), Kamakura-Zeit (1192-1333), das Mittelalter in Muromachi (1338-1573), Azuchi-Momoyama-Zeit (1573-1603), oder auch Edo-Zeit (heute Tokyo; 1603-1868).

Aber ich will mich hier nicht länger aufhalten. Ich habe noch ein gutes Stück zu wandern bis ich eine Pilgerhütte finden bzw. in ein Onsen (Thermalbad) einkehren kann. Ich hatte leider verpennt, in Kuma Proviant zu kaufen, und da der Trail hier weiter über das Tempelgelände führt, kann ich keinen Abstecher zurück ins Tal machen. Stattdessen wandere ich weiter, durchquere den Tōnomidō Tunnel und finde glücklicher Weise in der der nächsten Ortschaft, hier steht der Sumiyoshi Schrein, einen kleinen Laden, wo ich dem Grummeln meines Magens nachgeben und noch Proviant für den nächsten Tag einkaufen kann. Was habe ich für ein Schwein, denn der Laden ist nicht in meiner Karte vermerkt. Jetzt sitze ich hier auf der Bürgersteigkante und mache Pause, bediene mich am Getränkeautomaten. Meine Wade zwickt etwas, aber ich hoffe, bis heute Abend eine Unterkunft oder zumindest eine der vielen Henro Hütten (Pilgerhütte) beziehen zu können. Es geht hier schneller voran als erwartet – so eine richtige Flachlandetappe – nur hier und da ragen hohe, aber ziemlich zerklüftete Felsen empor. Ich laufe über einen Abzweiger durch den Wald, aber die von mir angepeilte Hütte finde ich nicht. Auf dem Weg zum Onsen Koiwaya-so (Thermalbad) verliere ich abermals den Trail und lande auf einem naturkundlichen Wanderpfad. Es sind Schilder an den Pflanzen aufgestellt. Ich passiere vor einer sehr zerklüfteten Felswand ein kleines Tempelhäuschen. Es dämmert schon, ich sollte mich beeilen. Doch als ich wieder auf die Hauptstraße treffe, sehe ich keinen Onsen! Dabei ist der Koiwaga Felsen, der berühmteste weil größte Felsen dieser Gegend, direkt vor einem Restaurant. Da es hier eine Henro Hütte mit WC und Getränkeautomaten gibt, beschließe ich hier zu übernachten. Aber das mit dem Onsen ärgert mich dann doch. Obwohl, wenn ich des Japanischen mächtig gewesen wäre, erkannt hätte, dass das Restaurant gleichzeitig der gesucht Onsen ist. Aber manchmal ist man blind, weil man andere Vorstellungen bzw. Erwartungen hat. Auf dem Parkplatz vor mir steht ein Wohnmobil. Die werden wohl auch die Nacht hier verbringen, denke ich so bei mir, dann bist du wenigstens nicht ganz allein. Ich packe meine selbstaufblasbare Matratze aus, helfe ihr mit ein paar Atemstößen, die volle Dicke zu erreichen. Ziehe meine zweite Hose an, knüpfe meine Fleecejacke in meine Regenjacke und packe noch meine Mütze und meine Handschuhe aus dem Rucksack. Nachdem ich mir meine Füße im Waschbecken des angrenzenden Toilettenhäuschens gewaschen und saubere Socken angezogen habe, halte ich Abendbrot mit Tucki-Cräckern und einer Dose Traubenlimonade aus dem Getränkeautomat. Ich kuschle mich in meinen Schlafsack, ziehe noch den wasserfesten Sack über die Füße, meinen Regenponcho über den Kopf. Doch die Nacht wird sehr kalt. Hier auf der Holzbank drehe und wende ich mich, vorbeifahrende Autos blende mich mit ihrem Licht und beim Gedanken an dicke Spinnen und andere Insekten, die hier in Japan immer etwas größer ausfallen, kann ich nur wenig Schlaf in dieser Nacht finden.