Der 34. Tag in Japan
Ich stehe noch vor 6.00 Uhr auf, obwohl hier in mein dunkles Loch unter der Brücke nur wenig Licht fällt. Zwar weist der Himmel kein Wölkchen auf, aber dennoch ist des hier so dunkel? Natürlich, da ich mich nahe am Fluss befinde, halten die umgebenden Berge die Sonne ab. Schnell habe ich mein Kombini (24-h-Shop) Frühstück verdrückt und mich auf den Weg zurück zum Abzweiger zu Tempel Nr. 66 (Unpenji) gemacht. Das große Digitalthermometer zeigt keine 10°C, obwohl die Sonne scheint und es Mitte April ist. Ich passiere ein Restaurant mit der Aufschrift „Cafe Autobahn“ und frage mich, was hier als „deutsches Essen“ angeboten wird. Aber ich werde enttäuscht, nur der Name klingt nach Deutschland, denn die Plastikmodelle zeigen ausschließlich japanische Menüs. Vielleicht ist der Inhaber mal im Urlaub in Deutschland gewesen, und war dann derart begeistert vom „Land des unbeschränkten Tempolimits“, dass er sein Restaurant danach benannt hat. Aber ich wandere erst mal an der anderen Flussseite entlang. Ich überquere den Fluss dann bei einer großen Brücke und ehe ich mich versehe, weisen mir Schilder dann auch schon den Weg zu Tempel Nr. 66. 9 km heißt es auf dem blauen Schild, doch dies gilt für die Autostrecke und ich hoffe, dass der Fußgänger Trail doch etwas kürzer ist. Ich passiere ein kleines Teefeld und auf den angrenzenden Äckern pflügt ein Bauer mit so einem kleinen Traktor sein Feld. Die kleinen Landmaschinen und Autos hier in Japan sind einfach süß. Kaum größer als ein Aufsitzmäher schiebt sich der kleine „Trecker“ durchs Feld. Im Nachbarfeld stehen die Reissetzlinge ordentlich in Reih und Glied. Die Feldbewässerung ist eine Kunst, da das Wasser meist nicht steht, sondern von den obersten über die mittleren bis zu den unteren Feldern fließt. Man hat mir mal erklärt, dass die Felder deshalb so klein sind, weil nach dem Krieg niemand mehr als ein Hektar Land haben durfte.
Jetzt geht es wieder in die Berge und ich habe an meinem Rucksack richtig zu schleppen. Leider hat sich mein „Hüftgold“ mit der Zeit verflüchtigt, so dass der Rucksack nicht mehr richtig sitzt. Ich habe zwar die Riemen bis zum Anschlag zugezogen, merke aber nach einigen Minuten wie ich ein Kribbeln in der Leiste bekomme. Da drücken die Riemen wohl die Blutversorgung ab und ich hüpfe dann einige Male, um die Riemen wieder auf Taillenhöhe zu bringen. Die Verkehrsschilder muntern mich auf, jetzt bin ich schon 3 km gelaufen. So hangle ich mich von einem Schild zum nächsten, denn der Trail verläuft hier zwar auf Asphalt, ist aber autounfreundlich steil. Kurz hinter dem Schild hat jemand Bänke aufgestellt und ich nutze sie für ein kleines Päuschen. Von hier aus kann ich sogar schon den Unpenji sehen, wenn ich durch die Baumwipfel lukend, den größten Zoom meiner Kamera benutze. Ich kann ein helles Gebäude und eine große Statue auf einem Berg ausmachen. Ich laufe weiter und die Straße wandelt sich. Sie scheint nagelneu geteert worden zu sein, da hier noch Pylonen (Verkehrshütchen) stehen und auch die Fahrbahnmarkierung ist noch strahlend weiß. Aber warum hat man die Straße bloß so steil gebaut, wenn ich als Fußgänger hier schon kaum hoch komme, was sollen denn erst die Autofahrer machen, die die Straße zum Tempel hochfahren wollen? Nur nicht stehenbleiben, sonst rollt man wieder den Berg hinunter und auf keinen Fall Gegenverkehr, wer soll denn bei diesem Gefälle am Hang anfahren können? Eine große Tafel mit der Aufschrift Shikoku Michi („Shikoku Weg“) informiert mich über die Lage des Tempels und die Entfernungen der, in der Nähe liegenden, Sehenswürdigkeiten. Ich werde wohl noch einmal mit einer Seilbahn fahren müssen, damit ich den Weg vom Unpenji zum Bangai Nr. 16 nicht verfehle. Aber endlich passiere ich ein Paar Stelen und kurz darauf das Tor zum Unpenji, welches sowohl rote Wächterfiguren (niō) als auch riesige Strohsandalen (waraji) enthält. Die Sonne scheint hier durch die Bäume und die Aussicht von hier oben ist atemberaubend. Ich wundere mich immer wieder, wie man zu Fuß, dabei mit fast 15 kg Gepäck bestückt, dann doch so einen Berg erklimmen kann. Man braucht zwar länger als die motorisierten Pilger, aber erreicht sein Ziel dann doch. Es ist immer ein erhebenden Gefühl, nicht nur den Tempel erreicht, sondern auch den Berg gemeistert zu haben. Man hat sich dann eine gewisse Höhe erarbeitet, die einem den Abstieg auf der anderen Seite des Berges erleichtert. Das Gefühl muss man sich bewahren und beim nächsten Aufstieg immer daran denken, wenn man sich jetzt quält, den Berg hochzukommen, der Abstieg dann umso leichter ist.
Exkurs Tempel Nr. 66 Unpenji (雲辺寺)
„Der Tempel der schwebenden Wolke“ wurde 790 von Kōbō Daishi an der Stelle gegründet, wo er einige Jahre zuvor eine buddhistische Reliquie aus Stein zurücklassen musste. Aber es könnte auch 807 passiert sein, wo er auf Anweisung des Kaisers Saga (786-842; 52. Tennō) zwecks Tempelgründung hierher kam und eine Krankheit, die die Bewohner gefallen hatte, mithilfe seines Wanderstabes unter die Erde verbannte. Die Pilgerführer sind in diesem Punkt etwas widersprüchlich. Auch wenn es darum geht, ob Chōsokabe Motochika, der hier im 16. Jahrhundert die Idee bekam, die drei angrenzenden Provinzen Awa, Iyo und Sanuki zu unterwerfen. Hat er den Tempel nach seinem Gespräch mit dem Oberpriester Shunsō nun niederbrennen lassen oder hat das mutige Auftreten des Geistlichen den Kriegsherrn dazu veranlasst, den am höchstgelegenen Tempel Shikokus (911 m) zu verschonen? Auf alle Fälle umfasste der Tempel zu seinen besten Zeiten 7 Schreine, 12 angegliederte Hallen und 8 Zweigstellen und wurde „Shikoku Kōya“ genannt. In Anlehnung an den großen Tempelbezirk des Shingon Buddhismus auf dem Koya-san im Kii-Gebirge. Die Hauptgottheit (honzon) ist die tausendarmige Kannon (Senju Kannon). Eine andere Kannon Statue und ein Fudō zählen heute zu den Nationalschätzen. Der Tempel wurde Kaiser Kameyama (1249-1305; 90. Tennō) gewidmet, der hier einen Ginko Baum gepflanzt hat. Der Stamm des Baumes trägt eine Inschrift in Sanskrit (alte indische Sprache) und als Reliquie hinterließ der Kaiser seinen Haarschopf. Nach seiner Entmachtung wurde der 90. Kaiser (Tennō) von Japan Mönch, gründete den Zen-Tempel Nazen-ji in Kyōto und verbrachte den Rest seines Lebens dort. Bemerkenswert ist ferner, dass der erste Tempel in der Aufzählung der Präfektur Kagawa strenggenommen in der Präfektur Tokushima steht. Seit 1987 erleichtert eine Seilbahn dem Pilger den Besuch in diesem „Sekisho“ (Grenztempel), der den Pilger eigentlich spirituell prüfen sollte, ob er die Pilgerreise fortsetzen darf oder nicht.
Es gibt hier zwar eine Seilbahn, die aber aus meiner Sicht an der falschen Seite des Unpenji-yamas gebaut worden ist, da der Trail von der gegenüberliegenden Seite kommt. Während der Fußpilger die Strecke also über asphaltierte Straßen läuft, die wie erwähnt, gerade erneuert wurde, kann der motorisierte Pilger mit Auto oder Bus auch bis Sanroku fahren, um sich dann von dort mit der Seilbahn auf den Berg zum Tempel bringen zu lassen. Laut Kartenbuch ist sie 2,7 km lang und benötigt 7 Minuten, um den Pilger auf ca. 1000 m Höhe zu bringen. Das Tempelgelände ist ein weitläufiges Terrain, das neben den eigentlichen Hallen viele Details zu bieten hat. Zum Beispiel die Tanuki Figuren (Marderhunde), einen eigenartig verschmolzenen Stein (kankan ishi) und eine Obergine aus Metall gearbeitet, die hier auf einem Granitblock liegt. Die riesige Figur auf dem Gipfel des Berges, die einen Dreizack in Händen hält, ist wohl eine Kannon Statue. Besonders interessant finde ich die Sammlung von 500 Rankan Figuren, ehemals Jünger Buddhas. Sie stehen hier, jeder individuell gestaltet. Es soll sogar eine weibliche Figur direkt an einem Willkommensschild stehen, da ich zu diesem Zeitpunkt von ihr nichts wusste, habe ich leider auch nicht auf sie geachtet. Mittendrin befindet sich eine Anlage mit dem liegenden Buddha oder ist es eine Sterbeszene? Ich sehe Hotei, der mit Kindern spielt, eine als Schildkröte gestaltetes Weihrauchgefäß, Bodhidarma, legendärer Kampfmönch (Shaolin in China!) und Begründer des Zen-Buddhismus in Japan. Ich könnte mich hier stundenlang aufhalten und Fotos knipsen, man kann sich hier einfach nicht satt sehen. Aber als eine Familie ihren gebrechlichen Vater mit dem Rollstuhl durch das Tempelareal karrt, holt mich das in die Wirklichkeit zurück. Dass man die alten Herrschaften noch derartige Tourtouren zumuten muss, bleibt mir unverständlich! Zumal die beiden Frauen (Oma und Schwiegertochter) und der Mann echt zu tun haben, Opi mit seinem Rollstuhl den steilen Weg hochzuschieben. Aber Opi wird nicht nur bis zur großen Kannon Statue geschoben, sondern muss auch noch einige Schritte mit dem Pilgerstock gehen, bevor er seine Pilgerverpflichtungen erfüllt hat.
Leider sind einige Gebäude aufgrund von Bauarbeiten verhüllt, aber es gibt hier genügend andere interessante Dinge zu sehen. Wie die verschiedenen Arten von Talismane, die hier verkauft werden, die mit Moos bewachsenen Steine, die aussehen als hätte man sie aus einer chinesischen Landschaft geklaut, und die Gebetsmühlen, mithilfe derer man seine Gebetsgänge zwischen den Tempelhallen zählen kann oder dreht man sie, wie in der tibetischen Gebetstradition, einfach nur? Ich gehe am Omukae Daishi, dem „Willkommensdaishi“, zum Abschied vorbei, da ich den Berg über die Seilbahnstation verlassen möchte. Ich habe mich nun doch entschieden, sie zu benutzen, damit ich nicht auf den falschen Weg komme, da ich vor Tempel Nr. 67 noch unbedingt Bangai Nr. 16 besuchen möchte. Wenn es nicht so dunstig wäre, hätte man eine noch bessere Aussicht, vielleicht würde man den Bangai Tempel schon von hier oben sehen können. So verschwimmt aber der Rand der Ebene, die sich vor mir erstreckt. Mir fällt ein Skilift auf, der parallel zur Seilbahn verläuft und ich muss, bei der Vorstellung unter den Augen der Kannon Statue Ski zu fahren, grinsen. Als ich in der Talstation eintreffe, liegt die noch nicht wirklich im Tal, sondern auf halber Höhe. Hier gibt es einen riesigen Parkplatz, um den sich viele Geschäfte angesiedelt haben. Vor einem Geschäft werden Dangos, Reisbälle, die in Soße getaucht werden, am offenen Feuer geröstet. Leider ist der Pilgerweg hier nur schlecht beschildert, so dass ich mich erstmal in Richtung Iseki bzw. Ōya See auf den Weg mache. An letzterem soll Bangai Nr. 16 liegen. Ich wandere durch Wildnis, die von Feldern und niedrigen Büschen charakterisiert wird. Die Sonne brennt und es gibt keinen Schatten, aber endlich habe ich Bangai Nr. 16 erreicht.
Exkurs Bangai Tempel 16 Hagiwaraji (萩原寺)
„Der Tempel des Buschkleefeldes“ wurde von Kōbō Daishi vor 1200 Jahren gegründet und „Karadasan Hibuse Jizō Bosatsu“ gewidmet. Ob dies eine Sonderform des Jizōs ist oder eine eigenständige Gottheit, konnte ich leider nicht herausfinden.
Obwohl es in der Beschreibung heißt, dass dieser Tempel vor 1200 Jahren von Kōbō Daishi gegründet wurde und ein spezieller Ausbildungstempel für Shingon Priester gewesen sein soll, sowie über 280 Zweigstellen in ganz Japan verfügt habe, ist der heutige Tempel ein ungepflegter und heruntergekommener Einkaufsladen. Das Pilgerbüro kommt einen vor wie ein 100-Yen Shop, in dem man von Kinderspielzeug über Pilgerutensilien und andere Reisegeschenke (omiage) alles Mögliche kaufen kann. Normaler Weise bin ich ein Fan dieser 100-Yen-Shops, da man alles Nützliche und Unnutze, was man für 100 Yen kaufen kann, auf kleinstem Raum findet. Aber für ein Pilgerbüro ist es dann doch etwas unpassend. Auch als die Frau mein Pilgerbuch abzeichnen will, ist sie so hektisch, dass die den Stempel an die falsche Stelle setzt. Anstelle den Eintrag nach Bangai Tempel Nr. 15 zu machen, drückt sie ihren Stempel doch einfach auf die freigelassene Seite, die ich für Bangai Tempel Nr. 1 vorgesehen hatte. Ich notiere mir also in mein Pilgerreise Notizbuch, dass der erste Bangai-Tempel nicht Nr. 1, sonder leider Nr. 16 ist! Während meines Aufenthalts im Tempel wird das Tor von Bienen in Beschlag genommen. Der Rückweg durchs Tor ist mir versperrt, da der ganze Bereich plötzlich nur so von Bienen wimmelt. Ich wusste gar nicht, dass ein Bienenscharm so groß sein kann. Ich hatte zwar beim Durchschreiten des Tores durchaus gesehen, das einige Bienen an der linken Seite durch ein Loch krabbelten, doch jetzt ist die Luft vor dem Tor verfüllt mit lauter Bienenleibern, die komischer Weise derart in der Luft stehen, als wollten sie den Durchgang versperren. Nach einem kurzen Abstecher in ein Nebengebäude machte ich mich auf den Weg zu Tempel Nr. 67.
Die Sonne brennt, ich habe zwar schon Sonneblocker nachgelegt, aber hier in der Ebene gibt es nur Felder, kein Wäldchen, das mir Schatten spenden könnte. Auf den langgestreckten Asphaltstraßen, ich schätze es geht hier 5 km geradeaus, komme ich mir vor wie in der Wüste. Bei einem kleinen Schrein, der auf einem bewaldeten Hügel liegt, lege ich eine kurze Rast ein. Zum Glück ist es verboten, Bäume auf Schreingeländen zu fällen, da es meist heilige Bäume sind, in denen Götter wohnen. In Großstätten erkennt man Schreingelände schon von Weitem, da sie meist die einzigen bzw. größten Bäume der Gegend aufweisen. Auf meinem Weg zum Tempel Nr. 67 komme ich an einem Lotoswurzelteich vorbei. Lotoswurzeln werden in Japan eingelegt als Gemüse gegessen. Es sind meist etwas dickere Scheiben, in denen viele Löcher sind, sie werden als „Renkon“ bezeichnet. Leider sind auf dem Trail die Pilgerschilder Mangelware, obwohl ich auf dem beschriebenen Trail wandere, finde ich erst kurz vor dem Daikōji Tempel einige Schilder.
Exkurs Tempel Nr. 67 Daikōji (大興寺)
„Der Tempel des großartigen Wachstums“ wurde 822 von Kōbō Daishi auf Geheiß des Kaisers Saga (786-842; 52. Tennō) gegründet. Der Tempel wird auch „Komatsuji“ genannt, was so viel wie „Schwanz einer kleinen Pinie“ bedeutet und sich wohl auf den Bergnamen bezieht. Kōbō Daishi hat hier die Gongen (budd. Bezeichnung für shintoistische Götter) der drei Großschreine von Kumano verehrt und die Statue des Yakushi Nyorai als Hauptgottheit (honzon) geschnitzt. Aber nicht nur der Shintoismus war und ist immer mit dem Daikōji vergesellschaftet gewesen, sondern auch die buddhistische Tendai-Sekte hat einige Zeit lang zusammen mit der Shingon Sekte Kōbō Daishis diesen Tempel geführt. Zu seiner besten Zeit gab es hier 24 Shingon und 12 Tendai Gebäude, die aber im 16. Jahrhundert von Chōsokabe Truppen niedergebrannt worden sind. Die Zeit zwischen 1573 und 1592 überstand nur die Haupthalle (hondō), die anderen Gebäude wurden im 17. Jahrhundert wiederaufgebaut. Bemerkenswert sind hier ein Kampfer- und ein Muskatnussbaum, die der Daishi persönlich gepflanzt haben soll. Es gibt zwei Daishi-Hallen (daishidō) an denen jeweils die Gläubigen des Shingon Buddhismus bzw. die der Tendai Schule beten können. Die über 3 m messenden Niō Statuen (Wächterstatuen) stammen von dem berühmten Künster Unkei (1223) und sind die größten auf der Shikoku Pilgerreise. Es gibt eine Statue des chinesischen Tedai Sektengründers „Tentai Daishi“. Es ist nicht Saichō, ein anderer japanische Mönch, der zusammen mit Kōbō Daishi nach China reiste, um vor Ort den Buddhismus und seine verschiedenen Schulen zu studieren. Der Tempel hält aber auch noch eine Legende parat, die von einem Liebespärchen in der Edo-Zeit (1603-1868) handelt. Eine Gemüseverkäuferin names Oshichi und der Tempelbediensteter Yoshisaburō, verliebten sich und wollten heiraten. Aber die Frau starb sehr unerwartet bei einem Brand in Tokyo. Als jetzt Yoshisaburō während der Pilgerreise für die Seele seiner Geliebten hier am Tempel ankam, bemerkte er, dass der Hals der Wächterstatue kaputt war. Nachdem er den Tempelvorsteher um Erlaubnis gefragt hatte, nahm er den Kopf der Wächterstatue auf die Schulter und trug sie, um Spenden für die Reparatur bittend, durch Shikoku.
Das Tor mit den größten Wächterstatuen der Pilgerreise schaue ich mir natürlich genauer an und da beide ihren Kopf fest auf den hölzernen Schultern tragen, ist Yoshisaburō mit seiner Spendensammlung wohl erfolgreich gewesen. Es ist ein ordentlicher Tempel, nicht so ein zusammen gewürfeltes Sammelsurium wie Bangai Nr. 16. Zu meinem Erstaunen entdecke ich eine Eule in einem Käfig, die daneben sitzenden Männer lächeln mich an. Ob die Eule ein Glücksbringer ist? Links und rechts von der Haupthalle (hondō) stehen die beiden Daishi-Hallen (daishidō), aber welcher nun zum Shingon und welcher zum Tendai Buddhismus gehört, entzieht sich meiner Kenntnis. Hier hängt aber auch ein Bildnis Kōbō Daishis, das, wenn man es näher betrachtet, aus lauter japanisches Schriftzeichen (Kanji) besteht. Das ist doch eine tolle Idee, vielleicht sind das sogar die Schriftzeichen des Herz-Sutra. Da ich nicht weis, wo im Bild ich anfangen soll, bleibt diese Frage ungelöst. Hier hängt außerdem noch ein Poster, das Fremdwerbung macht. Nicht für die 88 Tempel von Shikoku wird geworben, sondern für die 33 Tempel, die der Gottheit Kannon Bosatsu gewidmet sind und in Kyoto liegen. Es gibt in Japan sogar die Möglichkeit „100 Tempel der Kannon“ zu besuchen, die sich in „Saikoku“ im Gebiet Kansai (33 Tempel in und um Kyoto, Ōsaka, Wakayama etc.), „Bandou“ im Gebiet Kanto (34 Tempel in und um Tokyo) und „Chichibu“ im Gebiet um Saitama, gliedern.
Vor den Hallen liegen Dachpfannen aus, die man beschriften und dem Tempel spenden kann. So kann man natürlich auch ein Dach renovieren! Als ich den Tempel verlasse, komme ich auf dem Rückweg wieder am Ōhira Ryokan vorbei. Hier war ich auf dem Hinweg zum Tempel etwas vom Weg abgekommen, als ich ein Kätzchen hier schreien hörte. Da ich es nicht finden konnte, bin ich dann weiter am Haus vorbei gelaufen, anstelle den direkt Weg daran vorbei zum Tempel zu nehmen. Eigentlich hätte ich im Ryokan nach einer Unterkunft fragen können, aber ich spekuliere darauf, das ich in der verbleibenden Zeit noch den Weg zu Tempel Nr. 68 und 69 schaffe, die gemeinsam auf einem Areal, in der Nähe des Kotobiki Parks liegen sollen. Laut Wetterbericht muss ich morgen wieder mit erhöhter Regenwahrscheinlichkeit rechnen, obwohl ich gerne im Park direkt am Strand schlafen würde. Als ich schließlich am Eingangstor eintreffe, ich musste mich mal wieder durch ein Stadtlabyrinth von Straßen und Gässchen quälen, ist es schon 16.45 Uhr. Ich stürme über das Gelände und finde das Pilgerbüro, wo man mir, zu meinem größten Erstaunen, gleich zwei Pilgerbucheinträge macht. Ich atme auf, das hatte ich doch im Tempelführer gelesen!
Exkurs Tempel Nr. 68 Jinnein (神恵院)
„Der Tempel der Gnade Gottes“ wurde aufgrund einer Vision des Mönches Nisshō am 21. März 703 gegründet. Der Mönch gehörte zum Yogacara (Hossō-shū Schule) Buddhismus, einer philosophische Bewegung, die die Wirklichkeit als Projektion des eigenen Geistes auffasst. Ihm erschienen am Berg Kotohiki („Zitterspielen“) sieben farbige Wolken. Danach sah er ein Schiff mit dem Koto (jap. Zitter) spielenden Gott Hachiman (shintoistischer Kriegsgott), der ihm erklärte, dass er diesen wunderschönen Ort nicht mehr verlassen werde, sondern hier bleiben möchte, um Buddhas Dharma (Lehre) und die Gesetzte zu schützen. Nisshō barg das Schiff mithilfe von Einheimischen, baute Hallen in denen das Schiff, die Zitter und andere Schätze verwart werden konnten und nannte diesen Ort Kotobiki-Hachiman-Guu. Aber er weihte dem Tempel bzw. Schrein auch einer Statue von Amida Nyorai, der als buddhistische Verkörperung Hachimans gesehen wird und eine Figur der Prizessin Jinguu (169-269). Letztere war nach Ableben ihres Mannes von 209 bis 269, als ihr Sohn die Regentschaft wieder übernahm, Kaiserin von Japan (Tennō) und soll sich bei einem legendären Feldzug in Korea einen Namen gemacht haben. 722 Besuchte Gyōgi diesen Ort und von 806 bis 810 soll Kōbō Dasihi hier gelebt haben. Er hat auch das Bild von Amida Nyorai bzw. dem zitterspielenden Hachiman (kotobiki hachiman) gemalt, der hier als Hauptgottheit (honzon) verehrt wird und den Tempel „Jinnein“ genannt haben. Während der Meiji-Restauration wurde der Kobobiki-Hachiman- Guu Schrein und der Jinnei Tempel getrennt, wobei die Amida Nyorai Statue in die Yakushi Halle des Kannonji (Tempel Nr. 69; siehe unten) überstellt wurde. Die Haupthalle (hondō) des Jinnein wurde im Jahre 2003 aus Beton erstellt. Bemerkenswert sind nicht nur die früheren Verbindungen zwischen Tempel Nr. 68 und 69, noch heute pflegen sie ein gemeinsames Pilgerbüro (nokyoshō), in dem der Pilger die Stempel und Signaturen für beide Tempel erhält. Auch das Eingangstor (niōmon) teilen sich die beiden Tempel. Neben der Haupthalle (hondō) gibt es einen Garten, der Gigien genannt wird und vom 45. Oberpriester des Jinneis gestaltet worden ist. Sehenswert ist ferner die Darstellung einer riesigen Münze (zenigata sunae; „münzenförmiges Sandbild“) am Strand, die aus Sand aufgeschüttet ist und das erste Mal 1633 nach dem Modell einer Münze aus der Kanei Periode (1624–1643) erstellt wurde. Spezielle Aussichtspunkte liegen auf halber Höhe zwischen Tempel und Strand.
Exkurs Tempel Nr. 69 Kanonji (観音寺)
„Der Tempel der Kannon“ wurde wie schon der vorherige Tempel vom Mönch Nisshō gegründet (701-703), allerdings unter dem Namen „Jinguuji“. Dementsprechend war er ursprünglich wohl auch der Kaiserin Jinguu gewidmet. Um das Jahr 793 wird ein Mann namens Rigen Oberpriester des Tempels und benennt ihn in „Jinnein“ um. 807 kommt Kōbō Daishi hierher und baut neben dem Tempel am Fuße des Kobobiki Berg, 7 Hallen, 47 Stupas (Reliquientürme). Er weiht den Tempel, in Erinnerung an Jinguu, Shō Kannon, deren/dessen Statue er auch geschnitzt hat. Der Tempel wird jetzt „Kanonji“ genannt, genau wie die Stadt hier. Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert erblüht der Tempel, er wird zum Ort wo man für die Gesundheit der Kaiser Kammu (737-806), Heizei (774-824) und Kameyama (1249-1305) betet. Der Hondō (Haupthalle) wird 1472, 1525 und zuletzt 1959 restauriert und zählt heute zum „Wichtigen Kulturgut“. Interessanter Weise hat dieser Tempel keine Daishihalle, dafür wird berichtet, dass der Daishi nach einer Vision vom Hachiman hier sieben Schätze vergraben haben soll, weshalb der Tempel auch „Shichihozan (sieben Schatz) Kannonji“ genannt wird. Aber zu seinen eigentlichen Schätzen, sie werden als „Nationale Schätze“ gelistet, zählen eine Ikone des Buddhas wie er ins Nirvana eingeht (Shaka nehan –zō), eine Fudō Myōō Statue und die Schriftrollen, in welche die Legende um den Kotobiki Hachiman erzählen wird.
Nach dieser Hektik in der Abendstunde sehe ich mich in Ruhe im Tempel um. Erkunde jeden Winkel, sehe mir den Gigien-Garten an und mache mich schließlich auf den Weg zum Strand. Hier im Kotohiki Park soll es eine aus Sand aufgeschüttete Figur einer Münze geben. „Zenigata sunae“ oder auch „Kan-ei-tsuho“ wird diese Sehenswürdigkeit genannt, die schon im 17. Jahrhundert den Strand geschmückt haben soll. Aber erstmal suche ich den Strand, finde zwar die Münze, aber so direkt davor kann man außer ein paar tiefen Gräben kaum was erkennen - es ist alles weißer Strandsand. Mich beschleicht die Befürchtung, dass ich jetzt den Weg, den ich bekommen bin, wieder hoch kraxeln muss, da ich den Aussichtpunkt hoch über dem Strand von hieraus sehen kann. Ich mache mich also auf den Weg, die vielen Stufen zu erklimmen, jedoch nicht ohne die Augen nach einer Schlafstätte offen zu halten. Als ich dann in der Aussichthütte ankomme, haben sich dort schon andere Pilger gemütlich eingerichtet. Dann muss ich wohl doch unten im Park im Pavillon schlafen. Da bin ich dann auch alleine und muss mit keinem um die Wette schnarchen. Ich fotografiere noch den Sonnenuntergang, wie so viele Touristen, die den Weg hier herauf gefunden haben. Auf dem Rückweg zum Pavillon versorge ich mich noch mit Getränken aus dem Automaten, als plötzlich ein Pfauenschrei meine beschauliche Abendstille zerreißt. Auch das noch, denke ich so bei mir, hoffentlich hält der heute Nacht den Schnabel! Aber nicht der Vogel, sondern eine Konstruktion namens „Wasserharfe“ soll mir mit ihren tropfendem „Klingeling“ die Nachtruhe rauben. Als ich den Pavillon betrete, die WCs sind im angrenzenden Gebäude untergebracht, reinige ich erst mal die Bank von Sand, auf der ich die Nacht verbringen will. Schnell habe ich mein Abendessen bestehend aus Pilgerkeksen und Mochi (Reisküchlein) mit Weintraubenlimonade verzehrt und mich zur Ruhe gebettet, als laute Musik mich abermals stört. Ob die jungen Leute im Park Party machen oder es hier sogar einen Laden mit Live-Musik gibt, weis ich nicht, auf alle Fälle ist Samstag und es geht bis spät in die Nacht. Als der Rabatz zur Ruhe kommt, übernimmt das Plätschern der Wasserharfe meine Unterhaltung. Und irgendwann schlafe ich dann trotzdem ein.
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