Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Dienstag, 29. Juni 2010

Sonntag, 26.04.2009, Hotel S. 106 Onsen

Der 42. Tag in Japan
Heute ist Sonntag, das Frühstück hier im Onsen (Thermalquelle) Hotel gibt es zwar erst um 7.00 Uhr, aber ich bin schon früher auf, da ich meine Sachen noch packen muss. Ich hatte sie zum Trocknen aufgehängt, weil ich gestern doch ziemlich durchgeweicht bin. Das Wetter ist trübe, aber es regnet zum Glück nicht. Als ich heute in den Spiegel schau, muss ich grinsen, denn mein Gesicht ist voller Sommersprossen. Das war mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ganz am Anfang meiner Pilgertour hatte ich echte Schwierigkeiten mit der starken Sonneneinstrahlung. Meine Hände hatten eine Sonnenallergie entwickelt und waren, neben den sich entwickelnden Sommersprossen, mit kleinen Bläschen überseht. Auch die Sehnenscheidenentzündung der Handgelenke hat sich ohne medikamentöse Unterstützung zurückgebildet. Meinen Füßen geht es gut, wenn ich mal von den etwas tauben Zehenspitzen und meinen verkürzten Achillessehnen absehe. Nichts, was so schlimm gewesen wäre, als dass ich hätte pausieren oder womöglich die Pilgerreise abrechen müssen. In wenigen Tagen werde ich mein Ausgangspunkt wieder erreicht haben und mit Ausnahme kleinerer Blessuren, mir tut der Hintern von gestern noch etwas weh, bin ich doch ganz gesund durchgekommen.

Zum Frühstück gibt’s diesmal nicht nur die gewöhnliche Miso Suppe mit Einlage, sondern so einen Nudelsuppentopf auf einem Stövchen. Nach einem reichhaltigen Frühstück checke ich aus. Ich kann mir mittlerweile auch ungefähr denken, wo ich mich jetzt befinde, denn hier in der Gegend gibt es nicht viele Unterbringungsmöglichkeiten. Wenn ich hier am Hotel die Straße entlang laufe und nach einem Fluss auf die Straße Nr. 193 treffe, weiß ich, wo ich heute Nacht geschlafen habe. Zurück zum Tempel Nr. 88 sollte es dann kein Problem mehr sein. Das Wetter ist, wie gesagt, bedeckt, doch kaum stehe ich vor der Tür, fegt mir ein kräftiger Windstoß meinen Pilgerhut vom Kopf. Ich flüchte wieder hinter die automatische Eingangstür des Hotels und krame meinen Regenponcho heraus. Den Pilgerhut binde ich am Rucksack fest. Anstelle meines Seggenhuts ziehe ich meine Mütze über die Ohren, die ich sonst nur bei den Übernachtungen in den Pilgerhütten getragen habe. Zusammen mit den Handschuhen haben sie mich immer schön warm gehalten. Und das brauche ich heute auch, denn der Wind ist eisig, kein Sonnenstrahl hat es seit geraumer Zeit geschafft, hier Wärme zu verbreiten, dabei habe ich zeitweilig schon richtig auf meiner Tour schwitzen müssen. Aber auf einmal ist es, als wäre ich in einem anderen Land, in dem es nur Kälte und Wind gibt. Dabei ist es doch fast Ende April und so hoch in den Bergen liegt diese Ortschaft auch nicht.

Laut Karte sollte es bis zum Ōkuboji ca. 14 km sein, natürlich muss ich den Tempel nochmals besuchen, da ich gestern bei dem vielen Regen nicht ein Foto schießen konnte. Auf meinem Weg liegt eine große Steinmetzfabrik, auf deren Betonmauer sind unzählige kleine Steinlaternen aufgestellt. Ich kann eine Steinsäule mit Löwen erkennen, eine Statue von Hotei, dem dicken, lachenden Mönch und eine Gruppe von drei Katzen. Es regnet noch ein paar Tropfen, der Wind weht mir um die Ohren, aber schließlich habe ich die Ortschaft erreicht, an der ich gestern zum Damm abgebogen bin. Hier hat sogar ein kleiner Laden geöffnet und das am Sonntagmorgen! Ich kaufe mir eine Tüte mit Muffins als Proviant und gefüllte Brötchen, die ich sogleich verspeise. Ohne Brot bzw. Stärke komme ich morgens nicht in Tritt! Der Weg zu Tempel Nr. 88 erscheint mir dann auch viel länger, vielleicht weil man die Strecke schon kennt. Aber kurz vor dem Ziel überholt mich so ein japanischer Schnellläufer. Ich hatte zwar versucht, ihn nicht davon wandern zu lassen, es ist immer gut, einen Tempomacher zu folgen, aber schließlich muss ich ihn dann doch ziehen lassen.

Exkurs Tempel Nr. 88 Ōkuboji (大窪寺)
„Der Tempel der großen Höhle“ geht auf eine Höhle zurück, die hier einmal existiert hat. Der Tempel wurde 717 von Gyōgi (669-749) auf Geheiß der Kaiserin Genshō (680-748; 44. Tennō) gegründet. Im 9. Jahrhundert, nachdem er aus China zurückgekehrt war, schnitzte Kōbō Daishi den Honzon (Hauptgottheit) Yakushi Nyorai und widmete ihm und seinen Wanderstab mit rasselnden Metallringen (shakujō) eine Halle. Zwischen 1573 und 1592 brannten alle Hallen bis auf eine nieder. Nur die Statue und der Stab des Daishi überdauerten die Zeit der brandschatzenden Chōsokabe Truppen. Zwischen 1673 und 1704 wurde der Tempel unter Masudaira Yorishige, Herrscher von Takamatsu, wiederaufgebaut. Um 1900 brannte der Tempel abermals nieder, wurde aber nach einiger Zeit wiederhergestellt. Der Daishidō (Daishi Halle) stammt aus dem Jahre 1984. Man beachte die Krücken, die Pilger hierließen, nachdem sie auf der Pilgerreise geheilt wurden, die heiligen Buppōsō Vögel und die Kechigan Omamori (Talismane der abgeschlossenen Pilgerreise). Früher war Frauen der Zutritt verboten, heute gilt das glücklicher Weise nicht mehr. Auf einer Steinsäule vor dem Wächtertor (niōmon) kann man lesen, dass das Ende der Pilgerreise naht. „Hachijuchaich Kechigan-sho“, steht da in Kanji (Symbolzeichen) geschrieben, was so viel heißt wie „die heiligen Orte der Shikoku Pilgerreise, wo die Wünsche sich erfüllen“. Hier endet die Pilgerreise für viele Pilgerstöcke, die in der Hōjō Halle verwahrt werden und am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling oder während eines Goma Feuerrituals im August verbrannt werden. Aber der Pilger muss jetzt noch den Kreis mit dem Besuch des Tempels Nr. 1 schließen und den erfolgreichen Abschluss der Pilgerreise im Hauptquartier des Shingon Buddhismus, der gleichzeitig auch das Mausoleum des Daishis birgt, im Pilgerbuch (nokyochō) quittieren lassen.

Ich sehe mich auf dem Tempelgelände um, das Wetter ist zwar grau und windig, aber noch regnet es nicht. Gestern musste ich infolge von Dauerregen das Fotografieren aufgeben, aber auch heute mache ich nur wenige Fotos. Da ich meinen Kōbō Daishi Stock liebgewonnen habe, möchte ich ihn hier nicht zurücklassen. Schließlich muss ich noch zu Tempel Nr. 1 wandern. Wenn dann auf einmal der Wanderstock fehlt, den man über 40 Tage mit sich herumgeschleppt hat, ist das ein ganz komisches Gefühl. Man hat auf einmal eine Hand frei und weiß nicht, was man damit machen soll. Aber meinen kurzgelaufenen Stock, ich schätze er hat mindestens 10 cm verloren, wird sich Zuhause als Souvenir zu meinem Wanderstock vom Fuji und einem anderen Pilgerstock aus Kamakura (Nähe Tokyō) gesellen. Auf dem Gelände des Ōkuboji ist heute richtig was los, das liegt auch daran, dass die wenigen Läden und Shops hier direkt vor dem Tempelgelände liegen.

Mein Plan für heute sieht vor, nach einer kurzen Fotosession in Tempel Nr. 88 den Rückweg nicht direkt zu Tempel Nr. 1 einzuschlagen, sondern den Umweg über Tempel 10 zu wählen, da ich den am Anfang ausgelassenen Bangai Tempel Nr. 1 noch in meinem Pilgerbuch (nokyochō) verewigen lassen möchte. Den Bangai Tempel Nr. 1 direkt anlaufen zu wollen, zerschlägt sich schnell, da das Kartenmaterial keine solche Querfeldeinwanderung hergibt. Aber ich bin fast drei Wochen vor meinem eigentlichen Plan, wie und was ich danach mache, ob ich umbuchen oder die Restzeit in Japan verbringen kann, steht jetzt noch in den Sternen. Ich habe also Zeit und muss mich nicht beeilen und so wandere über den verzeichneten Trail in Richtung Tempel Nr. 10 (Krihataji), der hier in fast einer Linien mit den anderen Tempel, (Nr. 9 bis Nr. 1) liegt.

Ich mache mich jetzt auf den Rückweg, über die mehrspurig ausgebaute Autostraße wandere ich am Higaidani Fluss entlang. Kurz vor einem Tunnel entdecke ich noch eine nichtverzeichnete Übernachtunsmöglichkeit. Es ist wohl so eine Art Rastplatz mit Toilettenhäuschen, das direkt über dem Fluss gebaut worden ist. Wenn es von der gegenüberliegenden Rinderfarm nicht so stinkend herüberwehen würde, wäre dies ein gemütliches Plätzchen. So aber sehe ich zu, dass ich meine Pause so kurz wie möglich halte. Auf einem Schild, auf der die Internetseite (http://www.road.pref.tokushima.jp/h/i/index.html) vermerkt ist, gibt es Informationen zu allen Möglichen wie Verkehr, Wetter, Erdbeben, Tsunami und Wasserstandmeldungen, leider alles nur in Japanisch und ohne Bilder. Hier esse ich meine Osettai (Pilgergeschenk) vom Bangai Nr. 20, die Nudelcracker und ein paar Kekse.

Die Luft ist irgendwie raus. Die anfängliche Spannung war sorglosem Wandern gewichen. Keine Sorge, wie weit man kommt, keine Sorge, ob man eine Unterkunft findet, aber immer Aufmerksamkeit darauf, Alternativen zu finden, die einem eine Ausweichmöglichkeit eröffnen. Nicht lange über etwas ärgern, nein - andere Möglichkeiten finden, weiter zu kommen oder im Zweifelsfall früher einkehren, als plötzlich im dunklen Wald zu stehen. Kein regelmäßiges Fernsehen, kaum Nachrichten, obwohl die japanischen Berichte über die Schweinegrippe aus Mexiko verfolgt habe und auch versucht habe, regelmäßig den Wetterbericht zu sehen. Die Dinge auf solcher Tour bekommen eine andere Wertigkeit. Man überdenkt Gewohnheiten, fragt sich, ob das wirklich nötig ist und erkennt, dass „Weniger oft Mehr“ ist. Das ist jetzt wieder so eine buddhistische Phrase, aber es ist wirklich so. Auf meiner Tour habe ich gemerkt, was ich wirklich brauche, natürlich bezogen auf die Tour, man muss sich wundern, mit wie wenig Sachen man über die Runden kommt und natürlich wägt man ihm wahrsten Sinne des Wortes jedes Stück ab, was man mit sich herumschleppt. Sollte man das nicht auch im täglichen Leben so machen, denn nichts anderes ist unser Alltag, eine Pilgerreise, die wir umso mehr genießen können, je weniger wir Wert auf Nebensächlichkeiten legen, die uns die Zeit für Dinge rauben, die wirklich wichtig sind. Ich hoffe ich kann diesen Aspekt in meinen deutschen Alltag hinüberretten.

Aber genug des Philosophierens – noch bin ich nicht wieder in Deutschland. Zurzeit wandere ich noch durch die Wälder hier in den Bergen, die sich vor mir wie eine grüne Wand auftürmen. Zwischendurch mal eine Brücke, die, im Gegensatz zu vielen Straßen, jede einen eigenen Namen trägt. An einem kleinen Bambushain sehe ich wie ein Japaner Bambussprossen ausgräbt. Später erfahre ich aus dem Internet (Wikipedia sei Dank!), dass Bambus bis zu 1 m pro Tag wachsen kann und zu den am schnellsten wachsenden Pflanzen überhaupt zählt! Waldbambus kann bis zu 38 m hoch wachsen und gehört dem Namen nach zu den „Süßgräsern“. Ein Grashalm von 38 m Höhe – Japan wartet gerne mit Superlativen auf!

Ich passiere so ein blaues „Ensemble“ aus Getränkeautomaten, Sitzbank und Blumenständer. Da hat sich jemand aber besonders Mühe gegeben, um es hier gemütlich zu machen. Man muss immer bedenken, dass es hier in Japan durchaus nicht üblich ist, in der Sonne zu sitzen. Fast jede Etagenwohnung besitzt zwar einen Balkon, der aber wird nicht zum Entspannen genutzt, sondern dient als Rumpelkammer bzw. Waschkeller. Hier hängt die Wäsche zum Trocknen, werden die Futon-Betten zum Lüften aufgehängt und alles gelagert, was man nicht mehr in den kleinen Wohnräumen unterbringen kann. Apropos kleine Räume, da fällt mir ein, dass ich nicht eine Nacht in einer Reismühle übernachten musste, obwohl das ideale Unterkünfte sind. Auch eine Übernachtung in einem Kapsel-Hotel ist mir erspart geblieben, obwohl in Kōchi die Möglichkeit bestanden hätte. Letzteres kenne ich vom Hörensagen aus Tokyo, wo man, wenn man den letzten Zug verpasst hat, die Nacht in so einem kleinen Schlafcontainer (capsule) in einem Saal übernachten kann. Hinter einem kleinen Vorhang findet sich ein mit TV, Radio und Lampe ausgestattetes Bett. In letzter Zeit werden auch immer mehr Internetcafes zum Übernachten genutzt, da sie meist billig sind als ein Hotel. Man muss allerdings erwähnen, dass in Japan diese Art der Cafes aus abgetrennten und abschließbaren Kabinen besteht, also kein großer Raum ist wie bei uns, in dem sich die Computer dicht an dicht drängen. Duschmöglichkeiten und Decken gehören in den Cafes meist mit zu Service – es ist zwar anders gedacht gewesen, aber man muss eben ein bisschen erfinderisch sein.

Für heute ist mein Ziel allerdings weder eine Reismühle, noch ein Internetcafe, obwohl ich das Internet in meiner geplanten Unterkunft kostenlos benutzten darf. Wie schon auf dem Hinweg werde ich im Hotel Awa Access, eiem Businesshotel, absteigen. Es liegt hinter dem Hōrinji (Tempel Nr. 9) etwas abseits vom Pilgerpfad. Ich hatte es mir in die Karte eingetragen, weil hier die Unterkunftsmöglichkeit doch recht dünn gesät sind. Als ich durch Awa City laufe, immer an der Straße Nr. 12 entlang, kommt mir die Strecke dann doch länger vor. Als ich an einer Bushaltenstelle vorbeikomme, die mit einem soliden Holzhäuschen versehen ist und an einen „Getränkeautomaten Park“ grenzt, überlege ich noch kurz hier zu übernachten. So könnte ich immerhin 5500 Yen sparen, aber ich freue mich schon auf das „Westliche Frühstück“ mit Eiern und Kaffee satt. Außerdem möchte ich das Internet dazu nutzen, mir Informationen über Umbuchungsmöglichkeiten, Transportmöglichkeiten zum Koya-san und weitere Reisetipps in Japan, zu beschaffen. Ja, ich nehme langsam Abschied von der Pilgertour, der Natur und der Insel, auf der ich so viel Spaß hatte. Morgen noch den letzten Abschnitt bis zum Tempel Nr. 1 gewandert und eine Stippvisite auf dem Koyasan und was danach kommen mag, weis bis jetzt nicht mal Kōbō Daishi.

Als ich heute Abend am Computer im Access Awa meine E-Mails checke, erwartet mich eine Überraschung. Sowohl die „Berliner Mädels“ als auch Hajo haben mir eine Warnung zukommen lassen, dass die vielbesagten Schlangen unterwegs sind. Explizit Hajo warnt mich davor den Trail bei Bangai Tempel Nr. 20 zu benutzen, da er erstens schlecht markiert ist und zweitens es viele Schlangen auf dem Berg geben soll. Knapp daneben ist auch vorbei, denke ich so bei mir, bei der Kälte auf dem Berg, hätte ich die allenfalls „Schlange in Eis“ oder „Schlange ganz steif“ begegnen können. So hatte das kalte Wetter also doch sein gutes: Ich habe zwar ziemlich gefroren, dafür hatte ich keinen Schlangenkontakt. Im nahe liegenden Sunkus Kombini (24-h-Shop) besorge ich mir zum Abendessen, im Hotel wird nur Frühstück angeboten, eine japanische Pizza (okonomiaki) und eine Traubenlimonade („Fanta Budo“), sowie für morgen Gebäckteilchen mit Schokostreußeln und Teile, die wie „Berliner“ schmecken.

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