Der 19. Tag in Japan
7.15 Uhr werde ich durch die Tempelglocke geweckt, ich bin gestern gar nicht dazu gekommen zu fragen, ob es heute eine Morgenandacht gibt. Von meinem Fenster aus kann ich das ganze Areal vor den Tempelhallen überblicken.
Exkurs Tempel Nr. 40 Kanjizaiji (観自在寺)
Obwohl der Tempelname „Tempel des Avalokitesvara/Kannon“ bedeutet, ist die Hauptgottheit (Honzon) hier Yakushi Nyorai. 807 gründete Kōbō Daishi den Tempel auf Anweisung des Kaisers Heizei (774-824). Er schnitzte drei Statuen, Yakushi Nyorai, Amida Nyorai und Kannon, aus einem Holzblock, wobei er vor jedem Schnitt drei Niederwerfungen vollzog. Im 9. Jahrhundert besuchten die Kaiser Heizei und Saga (786-842) den Tempel und stifteten als Förderer des Tempels Sutren. Ihnen zu Ehren wurden der Tempel und die Stadt in Heijōzan Kanjizaiji bzw Mishō umbenannt. Zu einem früheren Zeitpunkt zählte der Tempel 48 Subtempel, die jedoch niederbrannten (1775). 1679 wurde der Tempel durch den damaligen Daimyō (Landesherrn) von Uwajima, Munetoshi Date, wiederaufgebaut. 1959 verwüstete abermals ein Feuer den Komplex und 1964 entschlossen sich die Gemeindemitglieder den Hondō (Haupthalle) in Beton errichten zu lassen. Die Legende besagt, dass nachdem Kōbō Daishi die drei Statuen geschnitzt hatte, noch ein Stück Holz übrig geblieben ist. Er schnitzte das sogenannte Funa-gata (Schiff-förmige) Gebet an Amida, „Namu Amida Buddha“ („Ehre Dir Amida Buddha“), ins Holz, um es wie eine Druckplatte zu benutzen. Es wird zwar nicht mehr die originale Druckplatte für die Kopien verwendet, aber noch heute glauben die Pilger, dass ein Abdruck, den man im Tempel kaufen kann, Krankheiten wie Blindheit, Stummheit und Herzprobleme heilen kann. Bei schwangeren Frauen soll ein Stück Stoff mit dem Abdruck über dem Bauch getragen eine leichte Schwangerschaft und Geburt ermöglichen. Als der Taira (Heike) Klan von den Minamoto (Genji) im 12. Jahrhundert geschlagen wurden, die Minamoto errangen die Regierungsmacht und verlegten den Regierungssitz nach Kamakura, lebten die Mitglieder des Heike Klans hier als Flüchtlinge. Bemerkenswert sind die 5-stöckige Pagode, der Turm Shingyo-Hōtō (Schatzturm des Shingyo) mit Kopien des Herz-Sutra aus ganz Japan, sowie das Mausoleum des Kaisers Heizei, obwohl dieses auch die Stadt Nara für sich beansprucht. Das Eingangstor ist über 200 Jahre alt und ist mit dem Prädikat „Lokales Erbe“ versehen. Vor dem Daishidō (Daishi-Halle) gibt es eine Miniatur-88-Tempeltour.
Immer wieder erstaunlich wie unterschiedliche doch die Tempelbeschreibungen sind. Im Kanjizaiji , der direkt am Sōzu-gawa liegt, konnte ich leider nicht den Miniatur-Pilgerweg entdecken, dafür aber die „Hachitai butsu“ genannte Göttergruppe, die einem Wünsche erfüllen können, wenn man sie mit Wasser besprengt. Und auch die Pagode, sowie ein Mausoleum blieben meinem Blick verborgen. Schade, dass ich nicht mehr Japanisch verstehe, sonst hätte ich danach fragen können. Auch ein Gebäude direkt vor meinem Fenster, das den sieben Glücksgöttern, Daikoku, Ebisu, Benten, Bishamonten, Fukurojuji, Jurōjin und dem dicken Hotei, gewidmet ist, wird leider nicht erwähnt.
Exkurs 7 Glücksgötter
Shichi Fukujin (七福神; „Sieben Glücksgötter“) sind ein aus der Muromachi-Zeit (1333 – 1568) stammende Gesellschaft von Glück bringenden Göttern, die ursprünglich aus anderen Religionen stammen. Zu ihnen gehören Daikoku („großer Schwarzer“), der für die Erde, Wohlstand, Landwirtschaft, Hochwasserschutz, Küche zuständig ist. Ebisu, der Patron der Fischerei, ist für Glück und erfolgreicher Handel zuständig. Benten, die einzige Frau, ist Förderin der Musik, Künste, Literatur und alles was mit Wasser zu tun hat. Bishamonten, buddhistischer Wächtergott des Nordens, ist uns bereits bekannt. Fukurokuji steht für Weisheit und langes Leben, Jurōjin ist Sinnbild für langes Leben. Hotei, der dicke Mönch, der uns hier in Deutschland meist im chinesischen Restaurant begegnet, steht für Zufriedenheit und Seligkeit.
Am Neujahrstag laufen der Sage nach die sieben Glücksgötter auf ihrem Schiff (Takarabune) in einen Hafen ein. Dieses Schiff trägt nicht nur sieben Glücksgötter, sondern bringt auch die sieben immaterielle Schätze (Klugheit, Wissen, Erfahrung, Gelehrsamkeit, Tapferkeit, Wohlstand und langes Leben, Glück und Zufriedenheit) sowie fünf materielle Schätze (den unerschöpflichen Geldbeutel, den unsichtbar machenden Hut, den Glücksmantel, den hölzernen Hammer des Reichtums und die Geister jagende Ratte) mit. Hat der Japaner zu Neujahr ein Bild dieser sagenhaften Sieben unter dem Kopfkissen, so sollen seine Träume in dieser Nacht in Erfüllung gehen.
Und wieder habe ich schlecht geschlafen, da es wieder einmal kalt geworden ist, die Klimaanlage aber leider zu laut war, so dass ich sie ausgestellt habe. Ich will am Morgen noch ein paar Bilder vom Badezimmer schießen, doch leider ist es schon verschlossen. Ich hinterlasse eine Notiz ins Gästebuch mit den deutschen Worten „Herzlichen Dank“ und lege den Zimmerschlüssel auf den Empfangstisch. Nachdem ich im Tempel meine beiden Sutren rezitiert habe, lasse ich mein Pilgerbuch signieren und bekomme sogar noch zwei schöne Postkarten als Pilgergeschenk (Osettai). Im Tempel bewundere ich die mächtigen Waffen, Varja nennt sich dieses Shingon typische Kampfzepter und auch der Medizinbuddha Binzuru bekommt noch einen Extra Groschen bzw. Yen von mir, da ich an meine etwas lädierten Füße denke, aber vor allem um eine Handgelenke fürchte. Ich umrunde noch mal den Pavillon der 7 Glücksgöttern, man kann nie genug göttlichen Beistand haben, und schon verlasse ich das Tempelgelände, um die knapp 50 km zu Tempel Nr. 41 in Angriff zu nehmen. Ich passiere noch einen Schrein, in dem mithilfe eines Feuers „aufgeräumt“ wird. Der Qualm ist schon von Weitem zu riechen. Etwas Wegzehrung wird noch im „Spar“ Markt gekauft. Ja, richtig gehört, der gute, alte, deutsche Spar Markt hat überlebt, zumindest hier in Japan!
Wieder wandere ich an der Küste entlang, in den Buchten sind Netze gespannt, ob da Seetang oder Muscheln gezüchtet werden, ich weiß es leider nicht. An einem Haus kann ich zum Trocknen aufgespannte Wildscheinfelle sehen. Dass mich so ein Keiler irgendwann vom Trail so einen Abhang hinunter jagt, davor habe ich die meist Angst. Schlangen kann man, mit ein bisschen Aufmerksamkeit noch ausweichen, denke ich, aber so eine Rotte mit Frischlingen (Wildschweinferkel), wie will man denen entkommen. Und ich glaube nicht, dass sich auf Shikoku noch Bären aufhalten, vielleicht im hohen Norden auf Hokkaido, aber hier. Ich habe mal gehört, dass die Glöckchen an den Wanderstäben, egal ob Shikoku, Kamakura (in der Nähe von Tokyo) oder am ruhenden Vulkan Fuji, Bären vertreiben sollen. Verlassen würde ich mich darauf aber nicht. Ich treffe alte Bekannte: Shisas, kleine Löwenhundfiguren, die eigentlich von der südlichsten Insel Japans aus Okinawa stammen. Doch bevor ich noch in alten Erinnerungen an meinen Trip nach Okinawa schwelgen kann, reißt mich ein ganz anders Bild aus meinen Gedanken. Eine Adlerfamilie schein hier einen Ausflug zu machen. Mama Greifvogel zeigt ihrer vierköpfigen Meute, wie man fliegt und geschickt ins Reisfeld stößt, um mit einem zappelten Leckerbissen zurückkehrt.
Ich lasse mich von niemand mehr hetzen, fotografiere nach Herzenslust und beobachte das drollige Treiben. Es ist schon witzig zu sehen, wie vier Greifvögel auf einer Leitung sitzen und jedes Mal, wenn der letzte im Anflug begriffen ist, das Quartet ins Wackeln kommt. Dabei zeigt Mama den Halbstarken immer wieder wie geschickt so ein Greif agieren kann.
Ich treffe wieder auf „Mr. Road Runner“ wie ich ihn nenne, oder “Michi no Sensei“ (Meister des Weges), den ich gestern mit Absicht am Getränkeautomaten „verloren“ habe und erkläre ihm, dass ich gestern einfach zu langsam war, um ihm folgen zu können. Der Seitenstreifen des Wegs ist mit Stiefmütterchen bepflanzt, die einen atemberaubenden Geruch verströmen. Wer die wohl gepflanzt hat? Manchmal sind Schilder aufgestellt, auf denen steht, wer sich hier zusammengefunden hat, um ein Beet anzulegen. Dorfbewohner, Kindergärten oder auch eine Hausgemeinschaft sind ausgerückt um, nach dem Motto „unser Dorf soll schöner werden“, am Pilgertrail Beete anzulegen. Jetzt geht es wieder bergauf und ich komme an einer Toilette vorbei, bei der ich mir einen Besuch verkneife, da es lediglich eine Bretterbude ist. „Da kann man dann doch viel besser in der freien Natur, es sieht einen doch sowieso keiner hier oben in den Bergen“, denke ich so bei mir. Es geht bergauf und wieder runter und das ganz ohne Bergtempel. Warum tue ich mir das an, frage ich mich und während einer Pause schwirrt mir wieder der Spruch durch den Kopf: “Mit Oranji da kann sie, nur Bunta macht munter!“ Und ich denke, dass ich zu wenig Vitamine und Proteine zu mir nehme, da ich viel Cola trinke und mittlerweile den japanischen Teilchen, wie Melonenbrot und mit Bohnenmuss oder Vanille Creme gefüllte Brioche-Brötchen verfallen bin. Wieder merke ich wie mein Pilgerhut an den Anstiegen mein Blickfeld einschränkt. Man soll im Jetzt leben, sich die Schritte überlegen und nicht an die Strecke denken, die noch vor einem liegt. Man weiß, dass man auf den Berg muss, das ist das langfristige Ziel, aber mit jedem noch so kleinen Schritt kommt man seinem Ziel näher! Ein Schild mit der eigentümlichen Transkription der japanischen Worte für „Henro Michi“ (Pilgerweg) muntert mich wieder auf, denn da steht in lateinischen Lettern „Henro Miti“. Der Wille war also da, nur an der Umsetzung hat es gehapert. Ich treffe auf ein wanderndes Ehepaar, aber unsere Kommunikation verläuft im Sand, da sie zu wenig Englisch und ich zu wenig Japanisch sprechen oder sind wir alle nur geistig etwas abgeschlafft, da der Weg unsere Aufmerksamkeit bedarf. Kurze Zeit später sehe ich erneut Henros (Pilger), aber es ist weder das Ehepaar, noch Herr „Road Runner“, sondern zwei Frauen, die anscheinend zusammen wandern. Erst sehe ich tagelang nicht einen Pilger und jetzt scheine ich auf ein Nest gestoßen zu sein. Da nicht alle Pilger am Anfang starten, es gibt auch Leute die jährlich einen Abschnitt oder ein Dojō absolvieren, ist es nicht verwunderlich neue Gesichter zu sehen. Wir laufen am Yoshiharagawa Fluss entlang, ein schmaler Trail. Das Ehepaar vor mir fordert mich auf, zu überholen, aber in der nächsten Ortschaft, ich kaufe gerade im Sunkus Kombini so eine Art Hähnchenschnitzel, sehe ich, wie sie an der gegenüberliegenden Straßenseite entlang laufen. Ich folge den beiden unauffällig, mal gucken in welchem Ryokan die beiden verschwinden. Auf meiner Tour werde ich vermehrt nicht in Ryokans, sondern Business Hotels einkehren, da ich zwar das Wort Business Hotel lesen kann, aber beim Lesen der Schriftzeichen (Kanji) für die Ryokan Namen Probleme habe. Außerdem kann man die mehrstöckigen Hotels mit ihren weit sichtbaren Schildern schon frühzeitig erkennen und muss nicht anhand der Karte rätseln, welches Gässchen zum Ryokan führt.
Ich suche die Hütte „Ohenrosan Resthut“ in Tsushima, frage noch in einem sehr hübschen Tempel, der nicht mal in den Karten verzeichnet ist, nach, aber die billige Unterkunft scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich finde allerdings ein hochmodernes WC Häuschen, in dem ich eigentlich mein müdes Haupt zur Ruhe betten wollte. Leider treiben sich lärmende Jugendliche in der Nähe herum und außerdem wäre es mir dann doch zu peinlich, im Klohäuschen entdeckt zu werden. Ich ziehe also weiter, komme jedoch nicht sehr weit, da ein Business Hotel hier direkt am Trail liegt. Ich checke im Business Hotel Ailin für 5000 Yen die Nacht ein. Es ist zwar noch recht früh am Tag, doch ich merke, dass mir meine Marathonstrecke über 50 km dann doch noch in den Beinen steckt. Ich nehme eine heiße Dusche und entdecke meine erste kleine Blase am Fuß.
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