Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Freitag, 21. August 2009

Freitag, der 20. März 2009, Tokushima, Kamiyama Town, Pilgerhütte kurz hinter Nr. 11

Der fünfte Tag in Japan

Heute habe ich noch weniger geschlafen als sonst. Die Hüfte und die Knie tun mir weh, da die schmalen Holzbänke einem nicht viel Gelegenheit geben, sich zu drehen. Ich habe das Gefühl, dass ich nur kurz weggesackt bin und dann schlagartig wieder wach war, weil ich vom Zahnarzt geträumt habe. Käuzchen haben in der Nacht geschrien, Hajo hat geröchelt und am Morgen haben sich zwei, ich nenne sie mal „Fxxxyou“-Vögel, ein Singduell geliefert. Überraschender Weise habe ich in dieser Nacht nicht gefroren, obwohl es erst Ende März ist und wir uns in den Bergen befinden. Kurz nach dem Frühstück, als wir gerade unsere Sachen gepackt hatten, fängt es an zu regnen. Wir warten den Schauer ab und mein Regenponcho hat seinen ersten Regeneinsatz. Ich hoffe, dass das Wetter sich nicht einregnet, da wir heute einen schwierig zu erreichenden Bergtempel besuchen wollen. Der Trail ist nass und rutschig, aber glücklicherweise sind wir heute Morgen nicht allein unterwegs. Es ziehen mehrere Fußpilger an uns vorbei, denen wir den Weg freimachen, da sie doch weniger schleppen als wir und somit auch schneller sind.
Wir wandern vorbei an Teesträuchern, kommen an einem Unterstand vorbei, der die „Hashiyama Rest Hut“ sein könnte. Wir haben gut daran getan, auf unseren „Ziegenbart“ zu hören, denn diese Hütte wäre zum Übernachten nicht geeignet gewesen, da in der Mitte nur ein Tisch mit Hockern steht und sie auch keinen Schutz vor Regen beboten hätte. Der Regen lässt nach, aber der Nebel hängt noch in den Bergen. Schnell wandere ich nur noch mit Bluse bekleidet, da die Anstiege so anstrengend sind, dass ich aus allen Poren schwitze. Hier gibt es zeitweilig nur noch Treppen zu steigen, die mäanderförmig den Berg hochziehen. Ich schnaufe, bleibe fast in jeder Wegbiege stehen, gestützt auf meinen Wanderstock. Zum Glück geht es Hajo nicht besser. Ich muss mir also keine Sorgen machen, dass mein Marathon Mann einfach davonzieht. Er läuft mit der Karte als Navigator voran, ich folge ihm in einigem Abstand.
Für die schönen Bambus- und Zedernwälder haben wir im Moment kein Auge, es geht daran den Berg hochzukommen. Und große Enttäuschung, als wir das lichtere Waldgebiet der Bergspitze passieren, ist da kein Tempel. Hajo erklärt mir, dass es erstmal ziemlich auf und ab gehen wird, bevor wir vor dem Tempel Nr. 12, der auf 800 Metern liegt, nochmals eine heftige Steigung erklimmen müssen. Wir machen eine kurze Pause, in der sich drei japanische Herren zu uns gesellen. Ich habe noch einige Kräcker, die ich an meine Leidensgenossen verteile. Ich merke, dass mich die Schulter schmerzt. Ich habe in der Vorbereitung meine Kleidung extra auf eventuelle Scheuernähte überprüft. Da ich jetzt aber die kleine Umhängetasche in den Rucksack gepackt habe, damit sie mir beim Steigen nicht vor den Beinen baumelt, muss ich jetzt die vollen 12 kg auf den Schultern tragen. Das macht sich doch bemerkbar, wo ich vorher eine ausgewogen Verteilung von 4 zu 8 kg hatte.

Der in der Karte als „Fountain“ eingetragenen Brunnen entpuppt sich als Frosch verseuchtes Wasserloch, es könnte Schwierigkeiten mit der Trinkwasserversorgung geben. So viel Trinkwasser-Ballast wollten wir dann doch nicht schleppen, aber dass wir so viel schwitzen würden, hätten wir nicht gedacht. Es gibt zwar viele Wasserrohre, die zu einer Art Trinkbecken führen, Hajo bedient sich ausgiebig, aber da ich Probleme mit dem Magen habe, halte ich mich lieber zurück. Wir machen einen Zwischen-Stopp am Chōdo-an Tempel. Er sieht verlassen aus, dass hier noch Zeremonien abgehalten werden bezweifle ich, aber es ist eine gute Möglichkeit sich auszuruhen und dient als Orientierungspunkt. Wir quälen uns bergauf und bergab, passieren schmale Pässe zwischen zwei Bergen, an denen es links uns rechts steil abfällt. Die Schilder weisen uns den Weg und auch Durchhalteparolen, die andere Pilger und Leute aus der Umgebung hinterlassen haben, machen es leicht, den Weg zu finden.
Es geht wieder bergab, aber leider ist das Gebäude vor uns nicht der ersehnte Tempel Nr. 12, sondern der Ryuusui-an Tempel. Hier werden wir schon von einer Delegation Freiwilliger erwartet, die heiße Getränke und kleine Snacks verteilen. Ich bin begeistert von dieser Form des Pilgergeschenks (Osettai). Dass nach so einer Bergetappe den müden Wanderer, fernab von jeglicher Zivilisation, eine so angenehme Erholungsmöglichkeit geboten wird, lässt einen die Strapazen fast vergessen. Hier treffen wir auch alte Bekannte wie die drei älteren Damen, Herrn Hinkebein, Herrn Grüner Rucksack und Herrn Blaukopf wieder. Selbst die Pilger, die vorher an uns vorbeigezogen sind, haben wir hier wieder eingeholt. Da sie sich nicht von dieser netten Runde losreißen können. Wir bekommen Schwarzen Tee mit viel Zucker, kleine Kekse, und auch die Pilger verteilen untereinander Süßigkeiten, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. „Omiage“ nenne der Japaner kleine Leckereien wie Keks, Reiscracker oder Teegebäck, die für eine Region spezifisch sind und als Reisemitbringsel für die Daheimgebliebenen gekauft werden. So kommen wir in den Genuss von Honigbonbons von Herrn Hinkebein und Schokoladentäfelchen von Herrn Blaukopf. Ich suche die Toilette auf bzw. das Plumpsklo. So modern auch die Hightech Toiletten in Japans Städten sein mögen, so primitiv sind die Plumpsklos in den Bergen. Man folgt einfach dem Geruch und sollte besser sein eigenes Toilettenpapier immer parat haben. Wir müssen uns jetzt aber losreißen, damit wir heute nicht wieder in der Wildnis übernachten müssen. Wir verlassen die gastliche Runde und treffen kurz hinter dem Ryuusui-an auf die luxuriöseste Pilgerhütte, die man je sehen hat: Eine geschlossene Hütte mit Tatamis, Wasser- und Stromversorgung sowie WC.

Wir machen am Joren-an nochmals eine Pause, wandern ins Tal und müssen jetzt den Aufstieg zum Shōsanji packen. Der Schweiß läuft mir in die Augen, mir ist so heiß und mir zittern die Beine. „Warum tut man sich so was freiwillig an?“, frage ich Hajo. Mit dem Gedanken, dass es nach dem Tempel nur noch bergab geht, motiviert mich durchzuhalten. Mit dem Mantra „Namu Daishi Hengyō Kongō“ auf den Lippen erklimme ich den Berg. Es geht tatsächlich besser – vielleicht hat das was mit der Atmung zu tun. Jetzt weiß ich auch warum ich den Pilgerhut trage: Er verhindert, dass ich allzu weit nach oben sehen kann, da er auf meinem Rucksack drückt, wenn ich den Kopf in den Nacken legen will. Man soll zwar wissen wohin es geht, aber den Blick auf das Hier und Jetzt gerichtet haben. Ich beherzige diese Lektion – jeden Schritt plane ich. Nicht zu groß und nicht zu klein. Sind die Treppen zu hoch, trete ich seitlich in die Vegetation, um mir eine kleinere Stufen zu schaffen. Wenn ich früher hinter jeder Biegung, die ich nicht einsehen konnte, ein Plateau oder die Bergspitze vermutet habe und natürlich enttäuscht wurde, wandere ich jetzt mit den 2 bis 3 Metern vor mir. Man soll das Ziel kennen, die Motivation Durchzuhalten holt man sich aber auf den Zwischenetappen. Nie mitten auf dem Weg stehenbleiben, immer eine möglichst geraden Teil zum Verpusten aussuchen, immer noch ein paar Schritte vielleicht bis zum Richtungswechsel laufen, so kommt man den Berg einigermaßen hoch. Und endlich der heißersehnte Tempel Nr. 12

Exkurs Tempel Nr. 12 Shōzanji (焼山寺)
„Der Tempel des brennenden Berges“ erhielt seinen Namen aufgrund einer Legende um einen feuerspeienden Drachen, der die Bewohner dieser Gegend terrorisierte. Vom Tempelgründer Enno Gyōja, einem asketischen Wanderer, wurde der Drachen besiegt und gebannt. Eine Statue am Gipfel des Berges erinnert heute noch an seinen Sieg über das Untier. 100 Jahre später war es nun an Kōbō Daishi den Drachen erneut zu bannen, was ihm mit Hilfe von Kokuzō Bosatsu auch gelang. Kōbō Daishi schnitze zwei Wächterstatuen, die die Höhle, in der sich der Drache befand, schützen sollten. Zu den Tempelschätzen zählt ein Brief des Kaisers Daigo (885-930), der Förderer des gleichnamigen Shingon Tempels in Kyoto war.

Von Interesse ist auch das Grab von Emon Saburō (Joshi-an), das einige Kilometer talwärts liegt. Der Legende nach soll Kōbō Daishi vor dem Haus des Emon Saburō gebettelt haben, eine für einen Wandermönch typische Tätigkeit. Anstatt jedoch dem Mönch etwas in die Schale zu werfen, zerschlug Saburō diese in 8 Teile. An den folgenden der 8 Tage starben seine 8 Söhne. Da wurde ihm sein Fehler bewusst, da er in dem bettelnden Mönch Kōbō Daishi erkannte. Es gelang ihm auch nach 20 Pilgerrunden nicht, Kōbō Daishi einzuholen. Bei seiner 21. Runde, die er in umgekehrter Reihenfolge unternahm, brach er jedoch vor Erschöpfung zusammen. Da erschien der Mönch, vergab ihm und fragte nach einem Wunsch für die Zukunft. Er wollte in seiner damaligen Familie, die die Provinz Ivo beherrschten wiedergeboren werden. Kōbō Daishi drückte dem Sterbenden einen Stein mit der Aufschrift “Emon Saburō kommt wieder“ in die Hand. Als er gestorben war, wuchs sein Wanderstock zu einer mächtigen Zeder aus. Der Stein und ein Teil des Nachlasses von Emon Saburō sind bis heute im Besitzt des Tempels Nr. 51 (Ishiteji).

Ich bin total verschwitz und jetzt, wo wir es geschafft haben bringt mich der kalte Wind hier oben zum Frieren. Ich zittere am ganzen Körper, obwohl ich mir schon meine Fleech- und meine Überjacke angezogen habe. Während wir nach unserem Gebet noch einige Fotos machen, geht Hajos Film kaputt. Er hatte mir schon berichtet, dass die alte Knipse schon mal Probleme mit dem Filmtransport hat, aber jetzt ist der Film von der Spule gerissen. „Zum Glück habe ich ja noch die Fotos meiner Digitalkamera“, tröste ich ihn, „dann sind nicht alle Bilder verloren“.
Hier gibt es einen großen Raum mit Bewirtung. An den überall aufgestellten Ölöfen wärmen wir uns und versuchen unsere Kleidung ein wenig zu trocknen. Von innen spendet uns eine große Portion Udon Nudeln, die es hier schon für 200 Yen gibt, die nötige Wärme. Ich wundere mich heute noch, dass ich mir hier nicht den Tod geholt habe. So wie ich gefroren habe, hätte das locker eine Erkältung mit 5-8 Tagen Bettruhe werden können.

Jetzt müssen wir uns aber beeilen, um den Abstieg nach Kamiyama Town noch bei Tageslicht zu bewerkstelligen. Leider ist das, was hier als Stadt bezeichnet wird, nicht viel mehr als ein Dorf, welches nur eine Unterkunftsmöglichkeit bietet. Wir fragen uns zum Uemura Ryokan durch, aber als ich dann ein Haus betrete und frage ob besagter Ryokan nun links oder rechts die Straße runter liegt, antwortet man mir mit „koko“ (hier). Es dauert eine Weile, bis ich aus den Brocken, die ich verstehen kann, schließe, dass ich wirklich im Uemura Ryokan stehe, es aber keine freien Zimmer mehr gibt. Es fallen ein paar Brocken English und man ruft bei B&B Yasuragi an, eine Pension, die ca. 7 km entfern liegt. Der Wirt will uns mit dem Auto abholen, da es auch schon dämmert. Während der Wartezeit spiele ich mit einem kleinen Jungen. Ich versuche meine japanischen Sprachkenntnisse anzuwenden und erzähle ihm was von der Comic Katze, deren Bild auf dem Becher ist, mit dem er mich immer wieder bewirft.
Nee, das ist keine „neko“, sondern eine „cato“ und die Maus heißt hier „Mouse“ und nicht „nezumi“, erklärt der Kleine mir. Mein Gott die japanische Sprache wird auch immer weiter „amerikanisiert“ oder kommen diese Vokabeln aus dem Englischunterricht aus dem Kindergarten? Er hat auf einen kleinen Zettel eine Maus gemalt und ich muss jetzt mit dem Katzenbecher in der Hand so tun, als würde der Becher pardon die Katze vor der Maus fliegen.
Doraemon, die Katze aus der Zukunft, ist ein berühmtes Comic bzw. Manga hier in Japan. Wohl die einzige Katze, die Angst vor Mäusen hat, da Mäuse ehemals der Roboterkatze (!) die Ohren abgefressen haben.

Als der Wirt mit seinem Auto angerast kommt, atmen wir erleichtert auf – er spricht Englisch! Wir bedanken und verabschieden uns bei den Ryokan Besitzern. Auf Weg ins Hotel will der Wirt noch eine Pilgerin im Auto mitnehmen, aber sie lehnt ab. Wir werden sie später noch beim Essen treffen, ebenso wie die lustige Frauengruppe, die im Aufenthaltsraum sitz, als wir einchecken. Da das Essen um 19.00 Uhr beginnt und es nur eine halbe Stunde bis dahin ist, legen wir nur kurz unsere Klamotten ins Doppelzimmer. Nach dem Essen waschen wir Wäsche im Badezimmer. Mir fällt die Stoffbezogenen Toilettenbrille auf – wenn es einen warmen Popo macht, aber wie hygienische ist das?

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