Der 23. Tag in Japan
Gegen 6.00 Uhr stehe ich auf. Ich habe die Vorhänge nicht zugezogen und dem entsprechende weckt mich das erste Morgenlicht. Zum Frühstück gibt es mal wieder viel Zucker, um auf die Sprünge zu kommen – Cola und mit Schokopudding gefülltes Teigteilchen. Ich mache ein paar Dehnübungen, denn die letzten Kilometer stecken mir noch in den Beinen. Mit der Zeit verkürzt sich die Muskulatur - ich kann schon jetzt kaum mehr barfuss laufen. Um das Verkürzen der Muskeln beim Wandern zu verhindert, macht man vorher immer ein paar Streckübungen. Ohne Stretching würde ich morgens auch gar nicht aus dem Bett kommen. Leider wusste ich nicht, dass das Dehnen der beanspruchten Muskulatur nach der Belastung umso wichtiger ist. Wenn ich also nach meiner Tour nach Hause kommen werde, bin ich zwar im Bezug auf Ausdauer topfit, muss aber leider meine anstehende Karate-Prüfung absagen, da ich während der Tour einfach „zu kurz“ geworden bin. Ich packe meine Sachen, überprüfe noch mal das Zimmer, ob ich auch nichts vergessen habe. Nicht auszudenken, wenn ich meinen Hut oder meinen Wanderstock vergessen würde! Heute sitzt wieder der nette Portier von gestern Abend an der Rezeption und ich frage ihn, ob ich ein Foto von ihm machen darf. Ich verabschiede mich und mache mich auf, den Bangai Nr. 8 zu besuchen. Er liegt keine 4 km entfernt und auf dem Weg fotografiere ich die Gullideckel der Stadt ōzu. Was ist denn an einem Gullideckel denn schon ein Foto wert, wird man sich fragen, aber die immer recht hübsch gestalteten Gullideckel hier in Japan geben immer über Sehenswürdigkeiten oder lokale Spezialitäten Auskunft. So zeigt der Gullideckel der Stadt „große Sandbank“ (ōzu), Hibiskusblüten und Kormorane und Fische. ōzu ist nämlich eine der drei größten Kormoranfischerei Gebiete in Japan. Zum Fischen bekommen die Vögel einen Ring um den Hals, so dass sie die gefangenen Fische nicht abschlucken können. Meist sind sie zusätzlich mit einer Leine gesichert und werden von ihrem „Dompteur“ mithilfe einer langen Stande aus dem Wasser gehoben. Saison ist zwischen Juni und September, wobei nach Sonnenuntergang gejagt wird. Auch Touristen haben die Möglichkeit, diesem Schauspiel während einer Bootstour auf dem Hiji Fluss beizuwohnen. Die Hibiskusblüten sind wohl als Wappen oder Symbol für die Stadt ōzu zu verstehen. Jede japanische Stadt, die was auf sich hält, hat irgendwelche Pflanzen, Tiere oder andere Sehenswürdigkeiten zum stadtspezifischen Wappen oder Symbol erklärt. Ich laufe am ōzu Plaza Hotel vorbei und wundere mich, dass direkt daneben ein Münzwaschsalon (koin randori) steht. Als ob man in einem „Plaza Hotel“ seine Wäsche selber waschen würde und auch einen McDoof gibt es hier. Aufgrund des kurzen Weges zum Tempel, ist es noch relativ früh als ich ihn betrete.
Exkurs Bangai Tempel Nr. 8 Toyogabashi/Eitokuji (十夜橋/永徳寺)
„Der Tempel der ewigen Tugend“ bzw. „zehn Nächte Brücke“ hat seinen ungewöhnlichen Namen von einer Legende, bei der Kōbō Daishi in einer Winternacht kein Quartier bei den Einwohnern dieser Gegend finden konnte und so gezwungen war, unter einer Brücke zu schlafen. Der erste Name ist der offizielle Name des Tempels, der der gleiche ist wie der Tempel zu dem er als Subtempel zählt. Der Tempel hier an einem kleinen Flüsschen, das in den Hiji Kawa, dem längsten Fluss der Präfektur Ehime, mündet, wurde von Kōbō Daishi gegründet und es wird auch Kōbō Daishi als Honzon (Hauptgottheit) verehrt. Als unser Daishi also die Nacht unter der Brücke in bitterlicher Kälte verbringen musste dichtete er: „Yuki no yamu ukiyo no hito wo watasazuba hitoya mo tōya to omohoryu“. Was so viel wie: „Sie werden einem Reisenden in Not nicht helfen – diese Nacht erscheint wie zehn“, bedeutet und heute noch die Goeika (Hymne) des Tempels ist. Bevor der Tempel in Beton errichtet worden ist, wurde er unzählige Male von Fluten zerstört. Er liegt direkt am Fluss, wo man in Erinnerung an die Legende einen, unter dicken Futons liegenden, Kōbō Daishi (Nojuku Daishi) vorfinden kann. Darin ist wahrscheinlich auch die Pilgerregel begründet, nie mit dem Pilgerstock lärmend über eine Brücke zu gehen. Eingeweihte wissen, wenn man auf einer Brücke geht, bleibt der Stock in der Hand, ohne lärmend auf dem Asphalt aufgesetzt zu werden.
Exkurs Pilgeretikette: Pilgergruß, 3 Versprechen, 10 Gebote, Beschriftungen
Neben dieser Brücken-Regel für Pilger, gibt es noch einige Regeln und Gebote, die einen Exkurs wert sind. Pilger grüßen sich untereinander, ob nun ein „guten Tag“ (konnichi wa), ein „Geben Sie ihr Bestes“ (gambattee) oder ein „Herzliches Dankeschön“(dōmo arigatou gozaimasu). Man übersieht sich nicht auf dem Pilgerweg, denn man ist eine Gemeinschaft mit dem gleichen Ziel. Wenn man die Pilgertour läuft, nimmt man am asketischen Training Kōbō Daishis teil und während dieser Zeit sollte man 3 Versprechen und die 10 Gebote beherzigen. Zu den diese drei Versprechen zählen:
1. Ich glaube während meiner Pilgerreise, dass Kōbō Daishi alle lebenden Geschöpfe erretten wird und er auch mich begleitet. Anmerkung: Der Wanderstock symbolisiert den Fuß des Daishi!
2. Ich verspreche, dass ich mich während meiner Pilgerreise nicht beklagen werde, wenn die Dinge nicht wie gewollt laufen, denn dies ist Teil meiner asketischen Übungen.
3. Ich glaube während der Pilgerreise, dass alle in der jetzigen Welt errettet werden können und ich werde stets nach der Möglichkeit der Erleuchtung streben. Anmerkung: Der Shingon Buddhismus verspricht eine Erleuchtung und Buddhaschaft in diesem Leben, nicht erst in einem folgenden, die durch gute Taten erworben werden können wie andere buddhistische Strömungen.
Die 4 Sätze zur Erleuchtung, die neben der Sanskrit (altindische Sprache) Silbe für Kōbō Daishi auf dem Seggenhut (sugewasa) geschrieben sind, hatte ich schon erwähnt.
Die 10 Gebote, die man mit den christlichen 10 Geboten vergleichen kann lauten wie folgt:
1. Ich werde dem Leben kein Leid zufügen.
2. Ich werde nicht stehlen.
3. Ich werde nicht ehebrechen.
4. Ich werde nicht lügen.
5. Ich werde nichts übertreiben.
6. Ich werde weder schimpfen noch beleidigen.
7. Ich werde nicht zweideutig reden.
8. Ich werde nicht gierig sein.
9. Ich werde nicht hasserfüllt sein.
10. Ich werde die Zeichen der Wahrheit nicht leugnen.
Als ich den Tempel betrete, hetzt da so eine japanische Familie über das Gelände. Sie rezitieren ihre Sutren, lassen im Pilgerbüro ihren Tempelbesuch dokumentieren, aber Würdigen die Brücke mit den Standbildern keines Blickes. Dabei impliziert schon der Tempelname, dass es hier mit der Brücke eine besondere Bewandtnis hat. Aber was gehen mich die rasenden Pilger in ihren Blechbüchsen an. Ich fröne viel mehr, nachdem ich meine Herz Sutra rezitiert habe, meiner Suche nach interessanten Details und von diesen hat der Tempel viele zu bieten. Die schönen Schnitzereien zum Beispiel, neben den üblichen Drachen gibt es hier Tiger, Hasen, Wildschweine und auch Menschenfiguren. Der Tempel liegt direkt neben dem Matsuyama Expressway, eine Art Autobahn, die direkt über die Brücke führt, unter der der Daishi geschlafen haben soll. Und wieder ist mein Kartenmaterial, diesmal das englische nicht exakt genug, da die große Brücke nicht links vom Tempel vorbeiführt. Aber dafür gibt es die großen blauen Verkehrsschilder, die sowohl in Kanji (Symbolschrift) als auch Romanji (lateinische Letter) einen Tempel ankündigen.
Man muss eben die Augen aufhalten, zumal wenn man nicht unbedingt viel Japanisch lesen kann. So habe ich viel Spaß unter der Brücke. Ich bestaune die Standbilder vom liegenden Kōbō Daishi, sie sind fast so selten wie die vom liegenden Buddha, und auch die Jizō Figuren und die Ketten mit Origami Kranichen sind einfach fantastisch. Hier steht auch eine Kiste mit Futter für die Kois, die hier abgetrennt vom restlichen Fluss, gehalten werden. Da ich in der Tradition der Pilger stehe – tue Gutes und dir wird Gutes widerfahren – bekommen auch die lungernden Tauben noch was ab. Prophylaktisch gehe ich hier auch noch mal aufs Klo – wieder so ein furchteinflößendes Plumpsklo, was alles auf nimmer Wiedersehen verschluckt, und das mitten in der Stadt! Ich mache mich wieder auf den Weg, es liegt eine lange Strecke auf der Asphatstraße vor mir. Grob gepeilt sollten es so 55 km bis zum Tempel Nr.44 sein. Das werde ich wohl heute nicht mehr schaffen und ich beschließe verschärft auf die Pilgerhütten und die Zeit zu achten, damit ich bei Sonnenuntergang nicht irgendwo gottverlassen und ohne Unterkunft in der Pampa stehe. Meine Wade zwickt mich oder ist es die Achillessehen? Ich lege eine Pause bei einem Lawson Kombini ein, esse einen Thunfisch gefüllten Reisball (onigiri) und benutze das WC. Das ist wohl auch einer der Gründe weshalb man die Kombini-Ketten mit ins Kartenmaterial genommen hat. Im Wald kann man mal „verschwinden“, aber in den Städten ist es schon schwieriger, ein „Stilles Örtchen“ zu finden. Kurz vor Uchiko Town verlässt der Pilgerweg die Asphaltstraße. Hier geht es durch ein kleines Stückchen unberührt erscheinende Natur, bevor ich an einem Teich mit Enten und Schwänen wieder auf städtisches Leben treffe. Uchiko Town ist berühmt für seine antike Einkaufsstraße und das Drachenmuseum. Leider ist in Städten, durch die der Pilgerweg führt, dieser nicht immer gut gekennzeichnet. Dabei sollte man davon ausgehen könnte, das die Zeichen hier von Einwohnern öfters erneuert werden bzw. der Weg deutlicher markiert werden müsste, da man in den Stadtstraßen keinem Trampelpfad folgen kann. Man wird aber von anderen Schildern überschwemmt und sucht konzentriert nach den kleinen, roten Pilgerfiguren. Der Wetterbericht hatte was von 20 °C berichtet. Da die Sonne hier in Japan aber ganz anders vom Himmel brennt und sich kein Lüftchen regt, wird es dann doch sehr heiß. Autoabgase und Baustellen fördern nicht gerade meine Begeisterung für Städte. Ich laufe jetzt immer am Oda Fluss, der im Tal verläuft, entlang. Mir fallend die schönen Bushaltestellen auf, die einen guten Schlafplatz abgeben würden, auch die hier überall aufgestellten Container mit Reismühlen gäben einen, vielleicht etwas engen, aber dennoch trockenen Schlafplatz ab. Ich passiere den Nagoakyama Tunnel und halte die Augen nach einem Schlafplatz offen. Nachdem ich den Wada Tunnel passiert habe, und mich den leichten Anstieg hoch quäle, hält doch neben mir so ein lärmendes Mofa. Bevor ich noch recht überlegen kann, was der alte Herr von mir will, hat der doch sein Kleingeld zusammengesucht und mir in die Hand gedrückt. Völlig verdattert, weiß ich nicht was ich sagen soll, doch schon hat er wieder Gas gegeben und knattert davon. Sein Pilgergeschenk von immerhin 844 Yen kann ich an einer naheliegenden Bretterbude gleich in ein Getränk umsetzen. Nach einem weiteren Stück Weg denke ich, dass das Häuschen vor mir für eine Übernachtung geeignet wäre, doch wer sitzt denn da in meiner potentiellen Schlafstatt. „Herr Siam“ und ein weiterer Pilger. Ich schließe mich den beiden an, obwohl der Weg nahezu geradeaus geht und ich keine Probleme mit der Navigation haben sollte. An einem Getränkeautomaten macht der ältere Herr eine Pause und will sich eine Flasche Grüner Tee ziehen. Er stützt sich aber aus Versehen beim Hochkommen an den Tasten ab, und Drück so die Taste für die Weintraubenlimonade. Kurz entschlossen packt er die Dose ein und folgt „Herrn Siam“, der nicht auf uns wartet. Da ich nicht glaube, dass der Herr auf übersüßte Limonade steht, will ich ihm eine Flasche Tee ziehen, wir können dann die Getränke tauschen. Aber der Automat ist verklemmt, und anstelle des Tees fummle ich erst eine Flasche Wasser und erst dann den Tee raus. Jetzt muss ich mich aber sputen, da die beiden Japaner schon einen großen Vorsprung haben. Als ich sie einhole, hat der alte Herr die Weintraubenbrause schon getrunken, aber ich schenke ihm die Flasche mit Grünem Tee als Osettai (Pilgergeschenk). Wasser ist mir lieber als der herbe Tee. Die beiden Männer hatten einen strammen Schritt vorgelegt, es ist jetzt aber viel zu früh, um schon im Ryokan (jap. Pension) einzuchecken. Im Fujia Ryokan haben sie reserviert und da ich keinen bestimmten Plan habe, werde ich dort fragen, ob sie auch für mich ein Zimmer haben. Wir legen eine Pause im Odanosata Sera Bus Eki, eine Art Rastplatz, ein. Hier können wir ausgiebig die Sonne genießen, die Toilette benutzen und was zu essen kaufen. Der alte Herr hat mich nicht vergessen, und gibt mir als Osettai (Pilgergeschenk) zwei gefüllte Brötchen. Wir beobachten noch einen Fischreiher, der hier am Fluss an so eine Art Wehr auf seine Beute lauert.
Als wir im Fujia Ryokan eintreffen, erklärt mir die Besitzerin im astreinen Englisch, dass zwar kein Zimmer mehr frei ist, aber meine beiden Pilgerkollegen hätten sich dazu entschlossen, ein Zimmer zu teilen, damit ich heute nicht noch weiterziehen muss. Ich bin begeistert von meinen „Zieh-Vätern“, denke aber auch bei mir, dass sie dies für eine japanische Frau wohl nicht getan hätten. Aber ich bin glücklich in diesem alten und ehrwürdigen Ryokan, die Besitzerin erklärt mir, es sei über 100 Jahre alt und nicht ganz so modern ausgestattet, unterzukommen. Ich habe zwar keine Klimaanlage im Zimmer, dafür aber einen Ölofen, den ich allerdings nicht zu bedienen versehe. Aber die vielen Details, wie Schiebetüren (soji), Innengärten und das, nur über diverse Treppchen und Gänge zu erreichende, Ofuro (Bad) sind schon ein Besuch wert. Ganz zu Schweigen vom dem leckeren Abendessen, dass ich nach dem Bad genießen darf. Beim Essen wollte ich meinen Pilger-Wohltätern eigentlich ein Bier spendieren, leider hatten sie sich damit schon selber versorgt. Neben uns dreien sind nur noch ein japanisches Ehepaar und ein weiterer Herr beim Abendessen. Meinem Motto gemäß „Alles probieren – man weiß erst hinterher was einem nicht schmeckt“ esse ich alles, was man mir auftischt und es schmeckt hervorragend. Nur bei einer Meeresschnecke, die man vorsichtig auf einen Zahnstocher gefädelt und dann zu dekorativen Zwecken wieder in ihr Häuschen gesteckt hat, habe ich Probleme. Das kleine Deckelchen, mit dem sie den Zugang zu ihrem Häuschen verschließt, muss vor dem Genuss entfernt werden. Da ich das nicht wusste, beiße ich natürlich mit einem Knacken zu. Die Japanerin, die das gehört oder gesehen hat, zeigt mir, wie man das harte Teil entfernt und so ohne Zahnarztbesuch die japanischen Köstlichkeiten des Meeres genießen kann. Bevor ich heute zu Bett gehe bzw. in meinen Futon krieche, schmiere ich meine beanspruchten Füße dick mit Niveau Creme ein, schlage sie, damit die Creme nicht im Futonbezug landet, in mein feuchtes Handtuch ein. Das kühlt die Füße zusätzlich - ein Ritual, das ich beibehalten werde.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen