Karte von Shikoku mit den 88 Haupt- und 20 Nebentempeln


Montag, 7. Juni 2010

Montag, 06.04.2009, Ehime, Uwa City, Uwa Park Hotel

Der 22. Tag in Japan

Um 6.00 Uhr klingelt der große Standwecker in meinem Tatami-Raum, aber ich bin schon vorher wach, da die Klimaanlage mich nur unruhig hat schlafen lassen. Zum Frühstück gibt es heute, die von mir gestern im Sunkus Kombini gekauften, Gepäckteilchen und Cola. Der Zucker gibt morgens Energie, um den Tag zu beginnen. Beim japanischen Frühstück habe ich immer Problem, in die Gänge zu kommen. Als ich mein Zimmer verlasse, um auszuchecken, wer kommt da aus der Tür nur zwei Zimmer entfernt? Herr Siam – begrüßt mich und wir fahren gemeinsam im Fahrstuhl nach untern. Er erklärt mir, dass er heute ins Krankenhaus bzw. zum Arzt geht (engl. „hospital“). Wohl wegen Sehnenscheidenentzündung, die hier viele Pilger trifft, denke ich so bei mir, aber, wenn ich ihn richtig verstanden habe, vermutet er eine Allergie. Eine Allergie und das ausgerechnet auf einer Pilgertour, dabei ist er noch nicht mal ein Ausländer, bei dem man eher eine solche Krankheit vermuten könnte, da es hier doch Pflanzen, Tiere und Speisen gibt, mit denen man als durchschnittlicher Mitteleuropäer noch nicht in Kontakt gekommen ist. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass hier z.B. Erkältungskrankheiten weitaus heftiger bei uns Gaijins (Ausländer) verlaufen, da in Japan andere Stämme von Erkältungsviren und anderen Bakterien vorherrschen. Als „Herr Siam“ sich nach meinen Plänen erkundigt, erkläre ich ihm, dass bei mir als nächstes die Bangai Tempel Nr. 7 und Nr. 8 anstehen. Er selber will nur die Haupttempel besuchen. Er wird also, wenn er keinen längeren Aufenthalt im Krankenhaus bzw. beim Arzt einlegen muss, mich demnächst überholen haben und ich werde ihn wohl nicht wiedersehen. In der Lobby trennen sich unsere Wege und als ich vor die Tür trete, erwartet mich eine dicke „Nebelsuppe“. Besser Nebel als Regen, denke ich, und mache mich flotten Schrittes auf den Weg. Der nächste Haupttempel liegt in ca. 70 km entfernt, aber die beiden Bangai Tempel sind in der nächsten Stadt ōzu. Bangai Nr. 7 (Shūsekiji) könnte ich heute noch erreichen, der Hinweg beträgt 20 km oder weniger, da diese Angabe sich auf den Abstand vom Meisekiji (Tempel Nr. 32) bezieht, dann noch mal ca. 10 km zurück in die Stadt, um eine Unterkunft zu suchen.

Noch ist es recht kalt und ich versuche, im dichten Nebel meinen Weg zu finden. Ich habe heute früh den Wetterbericht im Fernsehen geschaut und wenn ich richtig verstanden habe, waren in allen Ortschaften Sonnen eingetragen, nur an einem Ort, der sich mit den Kanji für „groß“ und „Sandbank“ schreibt, war mit Wolken und 0 bis 10 °C zu rechnen. Und in Richtung diesen Ortes namens ōzu oder „Große Sandbank“ befinde ich mich gerade. Es herrscht zwar Nebel, aber dennoch schieße ich einige Fotos, als ich an einem Steinmetz Betrieb vorbei komme. Von Grabstätten über Götterstatuen bis hin zu Doraemon, Hello Kätzchen und anderen Modefiguren, steht hier alles Mögliche, um von den potentiellen Kunden in Augenschein genommen zu werden. Ich bin noch nicht lange unterwegs, aber meine rechte Wade zwickt mich. Ich ziehe die Schnürsenkel nach, aber mal stich es – und mal wieder nicht. Es ist recht kalt heute. Hätte ich die Nacht in einer Hütte verbracht, hätte ich ganz schön gefroren. Mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meinem Mund, die machen die „Nebelsuppe“ um mich herum auch nicht mehr dicker. Zum Glück klart es langsam auf, ich freue mich auf die wärmenden Sonnenstrahlen, die dann doch mit Kraft den Nebel zerreißen. Die heutige Tour gefällt mir bis jetzt noch nicht so, das sie hauptsächlich über asphaltierte Straßen, glücklicher Weise mit Fußgängerweg, führt. Ich muss aufpassen, dass ich nicht an meinem Orientierungspunkt, den ich mir in der englischen Karte eingetragen habe, vorbeilaufe, da ich ab hier auf das japanische Kartenmaterial umsteigen muss, da die Nebentempel nur hier verzeichnet sind. Nachdem ich den Tosaka Tunnel durchwandert habe, leider hatte dieser Tunnel keinen Fußgängerweg, macht der Trail jetzt doch noch einen Abstecher durch den Wald. Hier sind fleißige Japaner damit beschäftigt, kleine Bäumstämme auf ca. 1 m Länge zu sägen und Löcher hineinzubohren. Einige Frauen mit Kopftuch füllen diese Löcher mit einer Art Paste. Was ich anfangs für die Präparierung von Treppenhölzern für den Trail hielt, stellt sich später als Vorbereitung zur Shiitake-Pilz Zucht heraus, einem nicht nur in Japan beliebten Speisepilz. Die Paste enthält Pilzsporen, die später den ganzen Stamm durchwuchern und dann nach außen Pilzkörper bilden. Man stellt die Stämmchen an einen schattigen Ort, der die Feuchtigkeit der Stämme hält, gegeneinander, so dass es wie ein improvisierter Jägerzaun wirkt.

Ich folge dem Pilgerweg weiter durch den Wald. Hier finde ich ein japanisches Pornoheft mit Bondage (Fesselspielen), pfui – doppelte Umweltverschmutzung! Als ich bei einer kleinen Ortschaft wieder aus dem Wald komme, steht da ein verlassener Tempel. Fudakake Daishido (Matsushita-an) könnte es laut Karte sein. Dem Namen nach war er wohl Kōbō Daishi gewidmet und auch eine verwitterte Daishi Statue im Vorgarten lässt diesen Schluss zu. Ich passiere den „ōzu Gold Club“ und sehe eine Pilgerhütte und ein WC-Häuschen, die nicht in der Karte vermerkt sind. In der Ferne kann ich eine Kathedrale erkennen, wie sie auch in Europa hätte stehen können. Vielleicht komme ich auf dem Rückweg an ihr vorbei, doch jetzt sehe ich ein Love-Hotel, das sich „Forrest“ nennt. Ich habe mein Orientierungspunkt passiert und mache an einem steinernen Denkmal vor einem Tempel ein Päuschen. Kurz vor einem Tunnel hält doch ein Auto neben mir. Ich erkläre dem Fahrer, der den Kopf durch das Fenster der Wagentür gesteckt hat, dass ich den Bangai Shūsekiji besuchen will, und hier nicht auf dem „Holzweg“ bin. Nachdem er meine japanische Karte, die ich ihm hingehalten habe, eingehend studiert hat, entlässt er mich dem Wort „OK“. Ich wandere weiter, aber das Auto fährt nicht etwa an mir vorbei, sondern wendet und fährt wieder zurück. Meine Güte, denke ich, war der jetzt besorgt, dass ich den falschen Weg laufe oder wollte er nur ein bisschen ausländische Konversation üben?
Mit der japanischen Karte habe ich immer Probleme, da Norden nicht oben ist und der Maßstab auch eher relativ als absolut zu sein scheint. Das ist hier in Japan durchaus üblich, bringt mich aber jetzt nicht weiter. Ganz im Gegenteil, wenn man den Abstand bzw. die Weglänge nicht einschätzen kann, biegt man entweder zu früh oder zu spät ab. Und eben das passiert heute und anstatt dem Trail weiter folgen zu können, er ist hier aber auch verdammt schlecht ausgeschildert, lande ich in einem Obstgarten eines verlassenen Hauses. Es gibt zwar noch weitere Häuser, aber die sehen auch nicht gerade bewohnt aus. Aber Vorsicht, man sollte sich nicht vom äußeren Schein trügen lassen, auch in Häusern, deren Sperrmüll fast den Zugang verhindert, können noch alte Leute hausen. Da Wohnraum immer knapp ist und eine Abstellkammer Luxus, stehen auch mal ausrangierte, aber wetterfeste Dinge im Garten oder vor dem Haus. Nach etlichen Kilometer des Herumirrens, ich hatte mich entschlossen der Hauptstraße zu folgen, treffe ich auf zwei Männer, die wie Vertreter auf mich wirken. Ich frage sie zwar nach dem Weg, merke jedoch schnell, dass auch Japaner mit der Orientierung anhand japanischer Karten Probleme haben. Irgendwie finde ich dann doch zurück auf den Trail und beschließe, zusammen mit meinem imaginäre Kōbō Daishi, der mich inform meines Wanderstocks begleitet, den Rückweg motorisiert anzutreten. Das heißt, ich werden den nächsten Pilger, den ich auf dem Tempelgelände treffe, fragen, ob er mich mit nach ōzu nehmen kann. Nochmals hier durch den Wald irren, mit Spinnenweben im Gesicht durch die Vegetation stacksen, ohne zu wissen, wo der Weg mich hinführt, ist einmal am Tag noch zu viel. Endlich weist mich ein Schild darauf hin, dass es noch 500 m bis Bangai Nr. 7 sind und ich atme auf, vielleicht gibt es hier sogar eine Tempelunterkunft. Vor dem Tempel begrüßen mich ganze Herscharen von Jizōs auf terrassenartig angelegten Podesten, doch schließlich, nachdem ich die lange Treppe überwunden habe, befinde ich mit auf knapp 800 m Höhe und im Tempel Shūsekiji.

Exkurs Bangai Tempel Nr. 7 Shūsekiji (出石寺)
„Der Tempel des Felsausgangs“ klingt etwas holprig in der Übersetzung, aber leider konnte ich bis auf die Information, dass der Tempel auf 815 m Höhe liegt, von einer Person namens Kōkyō Hōshi gegründet worden ist und Senju Kannon Bosatsu gewidmet ist, kaum weiteren Infos auftreiben. Ach ja, der Berg heißt ebenfalls so, aber unter folgender Adresse können Bilder eines japanischen Rad-Pilgers eingesehen werden: http://www.geocities.jp/mkuni2/tr_20070623_kinzan-shusekiji.html

Fragenden Blickes überquere ich hier den Parkplatz, wer könnte mich mitnehmen? Aber ich habe Pech, der Tempel ist menschenleer. Als ich meine Sachen ablege, um in Ruhe meine Sutra zu rezitieren, merke ich, dass es hier oben trotz Sonne doch recht kalt ist. Als ich mein Tempelbuch abzeichnen lasse, bekomme ich als Pilgergeschenk (osettai) ein Baumwolltuch (tenugui) geschenkt. Ich durchstreife das Tempelgelände, das mit seinen Statuen eines Pferdes, eines Hirsches und eines Ochsen eher wie ein Schrein wirkt. Auch der riesige, steinerne Kōbō Daishi vor der Tempeltreppe, der neben eine roten Tōri steht, unterstützt diesen Eindruck. Auf einem Schild wird erklärt, dass es hier sogar eine Mini-88-Tempeltour gibt, die einem um den Gipfel herumführt, aber mir soll die tolle Aussicht von hier ins Tal erst mal genügen. Es ist immer wieder faszinieren, wie man so mit eigener Muskelkraft und immerhin an die 14 kg Gepäck, einen Berg erklimmen kann. Leider ist hier ein Gebäude in Renovierung, so dass ich den Tempel nicht in seiner vollen Schönheit bewundern kann. Dafür finde ich die Windrädchen, die hier an Schnüren aufgehängt sind und aus Plastikflaschen gebastelt worden sind, umso interessanter. Da mir kalt ist und auch mein Magen eine kleine Erwärmung brauchen kann, esse ich in der tempeleigenen Suppenküche eine Portion Udon-Nudeln. Das ist eine willkommene Gelegenheit nicht nur von innen (Suppe), sondern auch von außen, durch die aufgestellten Öfen, aufzutauen und für den Rückweg durchzuwärmen. Da es gerade mal 15.00 Uhr ist und es hier leider keine Tempelunterkunft gibt, zumindest nicht unangemeldet, mache ich mich wieder auf den Weg.

Als ich den Tempel verlasse, ich muss jetzt in Ermangelung von Mitfahrgelegenheiten doch wieder laufen, schleppt sich eine gehbehinderte Frau die Treppen hoch. Mein Gott, denke ich, die hätte auch ihren Mann vorschicken können und müsste sich nicht selbst hier herauf quälen. Ich habe jetzt aber doch Bedenken, den langen Weg bis ōzu bei Tageslicht zu schaffen und lege, solange es bergab geht, den Laufschritt ein. Mittlerweile habe ich eine derartige Ausdauer, dass ich problemlos, zumal wenn es bergab geht, für eine gewisse Zeit mit meinem vollen Marschgepäck joggen kann. Aber als der Trail auf eine Straße trifft, bin ich wieder total orientierungslos. Diese blöde Karte, fluche ich innerlich, doch „wenn Du denkst es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her!“ Mein Lichtlein personifizierte sich an besagter Kurve, als ich vom Trail auf selbige rutschte und gerade ein kleiner Van die Straße bergab raste. Verdattert bleibe ich und auch das Auto stehen, doch dann erkenne ich die behinderte Frau, die hinten im Wagen sitz wieder. Sie winkt mich zu sich und reißt die Schiebetür des Autos auf. Ich fragte noch, ob sie nach ōzu fahren, doch schon sitze ich noch mit Rucksack bestück auf dem Sitz neben ihr und die Achterbahnfahrt kann losgehen. Leider sprechen sie und ihr Mann kein Wort Englisch, aber so wie ihr Mann hupender Weise um die Kurven biegt, immer bergab rasend, mal links, dann nach rechts ausweichend, hätte ich wohl sowieso mich auf kein Gespräch konzentrieren können. Ich kämpfte damit, mich fest zu halten und nicht seekrank zu werden. Kurz vor der Stadt ōzu hält die liebe Frau mir einen japanischen Pilgerführer unter die Nase, da ich aber nicht gleich zum nächsten Bangai mitfahren will, setzten die beiden mich vor der Stadtverwaltung von ōzu ab. Wir tauschten noch unsere Pilgerzettel (osame fuda) aus und nach einer kurzen Verabschiedung, bei der ich mich ausgiebig bedankte, raste der Van auch schon weiter in Richtung Bangai Tempel Nr. 8.

Der Tag begann mit Orientierungsproblemen und endete auch so. Bis ich das Business Hotel Ota gefunden hatte, laufe ich die Straße mal hoch und mal runter. Hatte ich jetzt schon den Fluss Hiji überquert und wo lag jetzt gleich der Bahnhof? Eigentlich ist die Jungendherberge mein Ziel gewesen, aber ich hatte heute genug Aufregung, deshalb ist für mich das gut zu findende Ota Hotel „der Spatz in der Hand“, den ich „der Taube auf dem Dach“ vorziehe. Obwohl mich die Taube wohl nicht 6000 Yen nur für die Übernachtung gekostet hätte. Aber man ist froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Als ich mir die Haare fönen will, fällt der Strom aus. Mit einem Wörterbüchlein bewaffnet gehe ich zur Rezeption. Der nette Portier, der mich schon eingecheckt hat, schickt einen jungen Mann, vielleicht ein Koch, mit nach oben, um die Sicherung zu kontrollieren. So kann auch das Problem behoben werden. Zum Abendessen hole ich mir aus dem, in der Karte eingetragenen, „Circul K“ Kombini (24-h- Shop) einen Okonomiaki (jap. Pizza) und eine Erdbeermilch. Von meinem Zimmer im japanischen Stil, kann ich das ōzu Castle (Burg von ōzu) sehen. Leider sind Masten und Kabel der oberirdisch verlaufenden Stromversorgung im Weg, sonst wäre die Burg mit den blühenden Kirschbäumen ein Anblick für die Götter.

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