Der 27. Tag in Japan
Ich stehe heute um 5.30 auf, am liebsten wäre ich liegen geblieben und hätte ein Touristenleben geführt, wie die Franzosen, die gestern Rabatz bis 23.30 Uhr gemacht und mich auch um 3.00 Uhr nochmals aus dem Schlaf gerissen haben. Aber ich bin Pilger und muss weiter, da ich zurzeit noch nicht abschätzen kann, wie schnell ich die Pilgertour durchziehen kann. Aber so weit denke ich nicht, ich plane immer nur für den nächsten Tag. So werde ich heute wohl Tempel Nr. 52 und Nr. 53 schaffen und dann auf den 35 km zu Tempel Nr. 54 mir eine Unterkunft suchen müssen. Ich checke in der Jugendherberge aus und statte dem Isaniwa Schrein einen Besuch ab. Da er hier auf dem Hügel direkt am Pilgerpfad liegt, beginnt mein Weg heute in einem Schrein. Vorbei an den Tennisplätzen, um die Zeit spielen doch tatsächlich schon welche Tennis, ist es bis zum Schrein nur ein Katzensprung.
Exkurs Isaniwa Schrein (Infos und Bilder unter: http://isaniwa.ddo.jp/top.htm)
Der Legende nach wurde der Isaniwa Schrein dort gegründet, wo Kaiser Chuai (192–200; 14. Tennō) und seine Kaiserin Jingu die Dōgo Thermalquellen besucht hatten. Ihnen ist auch der Schrein gewidmet. Es war der erste Schrein auf dem Dōgo Park Hügel und wird schon in der Chronik Engi-shiki (967) erwähnt. Im 14. Jahrhundert wurde er vom einflussreichen Kono-shi Klan an seinen heutigen Platz versetzt. Der Feudalherrscher Yoshiaki Kato widmete ihn als einen der 8 Schutzschreine von Matsuyama dem Kriegsglück. Während der Edo-Periode im Jahre 1662 wurde Sadanaga Matsudaira, fünfter Lord von Matsuyama, aufgefordert an einem Wettbewerbe im Bogenschießen in Edo (heute Tokyo) teilzunehmen. Er bat hier am Schrein um glückliches Gelingen und versprach, den Schrein zu renovieren. In einem Traum vor dem Wettbewerb erschien im die Gottheit Hachiman und versprach ihm den Sieg, wenn er sich an seine Instruktionen halten würde. Matsudaira hatte viel zu verlieren, denn er war ein ausgezeichneter Bogenschütze. Als er nun an der Reihe war zu schießen, erschien ihm eine goldene Taube, auf die er schoss. Mit viel Glück traf er genau mittig die Zielscheibe und gewann so das Bogenschiessen. Danach baute er, seinem Versprechen gemäß, den Schrein, nach dem Hachiman Schrein in Kyoto als Vorbild, zur vollen Herrlichkeit aus. Die Renovierungsarbeiten starteten im Juni des Jahres 1664 und wurden erst im May 1667 vollendet. Fast 70.000 Arbeiter, 697 von ihnen Schreiner, waren daran beteiligt. Der Schrein wurde exakt nach seinem Vorbild, dem Iwashimizu Hachiman Schrein in Kyoto, erstellt. Neben diesem gehört er mit dem Usa Hachiman Schrein (Präfektur Oita) zu den drei Hauptschreinen des Hachiman Zukuri Stils in Japan. Seit 1967 zählt der Isaniwa Schrein zum „Wichtigen Kulturgut“.
Vom Schrein führt eine lange Treppe in die Stadt. Am Fuße der Treppe kommen mir Männer in Yukata (Baumwollkimono) entgegen, ob die wohl ihr Morgenbad im Dōgo Onsen genommen haben? Auf alle Fälle sollte der Trail mich am Onsen vorbeiführen, aber ich kann den Weg nicht finden, da es hier nur durch eine Einkaufspassage geht. Ich laufe hin und her, halte Ausschau nach einem Pilger, dem ich folgen könnte, aber am Ende findet ein Pilger mich und zeigt mir, wo es hier raus geht. Eigentlich wollte ich den Weg am Yoshifujiike See vorbei nehmen, aber mein japanischer Pilgerkollege läuft die Straße 437 entlang. Schwuppdiwupp, habe ich durchs Fotografieren auch ihn aus dem Blick verloren, aber ich habe Glück, denn heute scheinen viele Pilger unterwegs zu sein, so dass ich schon aus weiter Entfernung Anhaltspunkte bekomme, wo es denn hier lang geht. Außerdem will ich mich nicht hetzen lassen, nichts wäre schlimmer, wenn ich die Tour erfolgreich beendet hätte, aber mich an nichts mehr erinnern könnte bzw. nur unscharfe Fotos geschossen hätte. Dabei habe ich das Gefühl, schon so viele interessante Sachen verpasst zu haben. Ganz einfach weil die Karte vielfach missverständlich ist, so laufe ich am „Russischen Friedhof“ einfach vorbei, obwohl er direkt am Trail liegt. Dafür finde ich aber den Gokoku Schrein, den Raigo-ji Tempel, den Rengeji Tempel und den Aosa Sanko Schrein oder ist es der Moroyamadumi Schrein? Hier habe ich mich auch etwas vertüddelt, da sowohl in die eine als auch in die andere Richtung Pilger laufen. Als ich einem Pilger Richtung Bahnübergang folge, die Schranken sind gerade geschlossen worden, sehe ich Qualm aus zwei Öfen aufsteigen. Das Vollqualmen wird einem immer wieder passieren. Da die Müllentsorgung in Japan teuer ist, verbrennen die Leute vielerorts ihren Müll selber. Über die stinkenden Rauchschwaden regt sich keiner auf, und dass jemand bei der panischen Angst der Japaner vor Feuer (die meisten Häuser sind aus Holz!) die Feuerwehr rufen könnte, käme ihnen wohl auch nicht in den Sinn.
Ich laufe jetzt mit drei japanischen Pilgern, eine Frau und zwei Männer, aber als ich bei einem Schrein ein Toilettenhäuschen finde, lege ich eine Pause ein. Ich kann sie zwar in der Ferne noch sehen, doch läuft der Trail jetzt wieder quer durch die Vegetation und an einem Teich vorbei. Hier muss ich echt angestrengt nach dem Weg suchen und frage die Einheimischen, die sich um einen motorisierten Fischhändler gescharrt haben. Schließlich finde ich den Weg und ein schlichtes Dach über der Straße, so eine Art symbolisches Tor, zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Als ich dann das eigentliche Tor passiere, lobe ich mir die von der Stadt Matsuyama aufgestellten zweisprachigen Informationstafeln, die mir hier Auskunft über das Niōmon, das Tor zum Haus der Deva Könige des Tempels Taizanji, geben. Diese Schilder enthalten meist Infos über den Namen, Alter, Stil, sowie Stifter und „Verlegungen“ der jeweiligen Sehenswürdigkeit.
Exkurs Tempel Nr. 52 Taizanji (太山寺)
Die Gründung des „Tempels des großen Berges“ geht auf eine Legende zurück, die sich 586 zugetragen haben soll, als der wohlhabende Kaufmann Kogorō Mano auf seinem Weg nach Ōsaka von Kannon vor Schiffbruch bewahrt worden ist. In seiner Not betete er die Sutra Kannons und um den Berg Kyō-ga Mori in der Nähe von Takahama (Ehime) erschien eine fünffarbige Wolke. Augenblicklich beruhigte sich die tobende See und er konnte mit seinem Schiff am Kai festmachen. Als der den Berg bestiegen hatte, fand er eine Jūichimen Kanzeon Bosatsu Statue (Elfgesichtige Kannon), für die er sogleich eine Hütte baute. Er hatte beschlossen, hier eine Halle zu errichten und kehrte kurze Zeit später mit Handwerkern aus Oita zurück. Man sagt, die Errichtung der Halle, ohne einen einzigen Nagel und ohne Zwischenstützen, sei in nur einer Nacht erfolgt. Im Gedenken an diese Legenden wird jedes Jahr am 17. März ein Tempelfest zu Ehren Manos abgehalten. Die eigentliche Tempelgründung erfolgte zwischen 668 und 749, als Gōgi (668-749) hier verweilte und eine Kannon Statue schnitzte. Auch Kōbō Daishi soll hier einige Zeit verbracht haben, in der er den „Gomaku“ Gottesdienst abhielt, bei dem für den Weltfrieden und die Erfüllung von Wünschen gebetet wird. Die Wünsche schreibt man auf Holzstäbchen, die dann verbrannt werden. 1062 wurde der Tempel an seinen derzeitigen Ort verlegt und im 12. Jahrhundert expandierte der Tempel auf 66 Gebäude. 1305 wurden verschiedene Gebäude wiederhergestellt, auch die Haupthalle (hondō) stammt aus dieser Zeit und gilt heute als „Nationaler Schatz“. Auf dem Tempelgelände gibt es noch eine Shotoku Taishi Halle, die dem gleichnamigen Prinzen geweiht ist, der den Tempel im 6. Jahrhundert besucht haben soll. Er ist besonders bei Schülern und Studenten beliebt, da man hier für die erfolgreiche Teilnahme an Aufnahmeprüfungen für Schulen und Universitäten beten kann. Ein Hyakudo Ishi, ein „100 Male Stein“, steht hier ebenfalls, bei dem Pilger ein Stück Bambus nehmen und hundert Mal vom Hondō (Haupthalle) zur Daishi-dō (Dahishi-Halle) betender Weise pendelt. Sehenswert sind ebenfalls die 6 weiteren Kannon Statuen, die von 6 verschiedenen Kaisern gestiftet worden sind. Im Pilgerbuch von Bishof Miyata ist vermerkt, dass hier am Pilgertrail hinter dem Niōmon Mrs. Kamie Taenaka im April des Jahres 1974 gestorben ist. Sie stammte aus dem Koyasan Betsuin Temple Los Angeles, über dessen Gemeinde ich schon bei Tempel Nr. 34 berichtet habe und in den Bishof Miyata 1993 berufen wurde. Möge die Seele dieser Pilgerin in Frieden ruhen oder wie man als Pilger ausdrücken würde: „Namu Daishi Henjō Kongō!“
In vielen Tempeln gibt es spezielle Fruchtbarkeitsriten, über die Geschichte mit der leichten Geburt und den Schöpfkellen habe ich bereits berichtet, aber in diesem Tempel spielen Nadeln eine wichtige Rolle: Frauen, die keine Kinder mehr möchten, hinterlassen Nadeln im Tempel, die von den Frauen mitgenommen werden können, die sich welche wünschen. Besonders wirkungsvoll bei Kinderwunsch soll es sein, die Unterwäsche mit den Nadeln aus dem Tempel zu nähen. Andere Länder – andere Sitten!
Bis zum ersten Tor vom Taisanji war es so eine richtige Flachlandetappe, aber dafür geht es nach dem Tor wieder so richtig zur Sache. Der geteerte Weg führt hier steil den Berg hoch, das hätte ich gar nicht vermutet, da ich die ganze Strecke von Matsuyama in der Ebene gelaufen bin. Aber wie erwähnt, die Tempel liegen meist etwas erhöht, damit sie, so nah an der Küste, nicht von einem Tsunami (Riesenwelle durch Erdbeben) weggeschwemmt werden können bzw. die Toten, die in Tempelnähe ihre letzte Ruhe finden, nicht die Lebenden heimsuchen können.
Von einem vor mir wandernden Pärchen bekomme ich als Osettai (Pilgergeschenk) eine Orange geschenkt, die sie kurz zuvor am Wegesrand, an so einem Selbstbedienungsstand gekauft haben. Dies soll heute nicht mein einziges Osettai bleiben und ich frage mich, ob ich so einen verhungerten Eindruck mache. Eigentlich habe ich nicht das Gefühl, großartig abgenommen zu haben, oder im Gesicht schmaler geworden zu sein. Im Tempel fällt mir eine Menschenschlange vor einem Glockenturm auf. Den kann ich auch später besuchen, wenn sich die Ansammlung aufgelöst hat, denn es gibt hier viele andere Sachen zu bestaunen: Die Klangsteine, die ich aus Tempel Nr. 24 kenne, die Buddhastatue, der man die Lippen gerötet hat, als hätte man zu viel Lippenstift benutzt, den prächtig mit goldfarbenen „Girlanden“ geschmückten Altarraum und auch der angrenzende Schrein mit den Inari-Füchsen sind sehenswert. Während ich ein achteckiges Gebäude, vielleicht die Shotoku Taishi Halle, entdecke, kann ich den Hyakudo Ishi („100 Male Stein“) nicht finden. Ich bewundere noch die Fußabdrücke Buddhas (bussoseki) und den merkwürdige Stil bzw. Blässe der Wächterfiguren in einem Tor, als ich mir zum Abschluss noch den Glockenturm mit seiner Malerei besuche. Hier gibt es wieder kleine, bemalte Deckentäfelchen, aber auch ein großes Bild von Enma, dem Richter der Unterwelt, wie er über die Verstorbenen richtet. Um das Pilgerbüro zu besuchen, muss ich von hier wieder den Berg herunterwandern. Kurz vor dem Gebäude begegne ich schon wieder einer Figur mit „Osterinsel-Touch“. Doch die Figur trägt eher chinesische Züge mit ihrem langen Bart und dem Kopfputz. Nachdem ich wieder zur Hauptstraße zurückgelaufen bin, muss ich der Straße 183 nur ca. 3 km bis zum Enmyōji folgen.
Exkurs Tempel Nr. 53 Enmyōji (円明寺)
„Der Tempel der kreisrunden Illumination“ wurde ursprünglich Gyōgi (668-749), viel weiter an der Küste liegend (Wake Nishiyama) gegründet. Er errichtete eine Halle für die Statue des Amida Nyorai, die er hier zwischen 668 und 749 geschnitzt haben soll. Der Ausgangpunkt mag ein Tempel sein, der heute noch als „Enmyōji-Okunion“ bezeichnet wird und nur wenige hundert Meter vom Meer entfernt liegt. Zwischen 774 und 835 hielt sich Kōbō Daishi hier auf. Doch während seiner Geschichte, der Tempel umfasste zeitweise bis zu 7 Gebäude, brannte der Tempel immer wieder aus und hinterließ nichts als Ruinen. Zwischen 1615 und 1623 wurde der Tempel durch Shigeshisa Suga, Mitglied der Wake Familie, an seinen jetzigen Ort verlegt und wiederaufgebaut. Seinen offiziellen Namen „Suga-zan Shōchi-in Emmyōji“ bekam der Tempel vom Prinzen Kakujin des Omuro Ninaji Tempels in Kyoto, dessen Zweigstelle er gewesen ist, bis er im 19 Jahrhundert zum Chizan-ha des Shingon Buddhismus konvertierte. Aber zwischen 1868 und 1912, als per Gesetz die Trennung von Shintoismus und Buddhismus in Kraft trat, wurde der Tempel geschlossen. Bemerkenswert sind das Niōmon (Haupttor mit Wächterfiguren), der Hondō (Hauphalle), welcher aus dem Jahre 1908 stammt und einen 4 m langen, hölzernen Drachen aufweist, der von Hidari Jingorō (1596-1644?) geschnitzt wurde. Sein bekanntestes Werk ist wohl die „schlafende Katze“ im Toshogu Schrein in Nikko. In der naheliegenden Kannon Halle (kannon-dō) befand sich eine Kannon Statue, die vom Oberhaupt des Hauses Kōno anlässlich einer Gedenkfeier errichtet worden war. Sie wurde jedoch im Jahre 1600 während des Krieges beschädigt. Es gibt eine weitere Kannon Statue, „Mariya Kannon“ genannt, die während der Christenverfolgung der Tokugawa Periode (17. Jahrhundert) von heimlichen Christen („Krypto-Christen“) angebetet worden ist, da das Christentum von 1614 bis 1873 in Japan verboten war. Erwähnt wird auch Frederick Starr, ein Anthropologie Professor der Universität von Chicago, der hier im Jahr 1921 die Pilgerroute gelaufen ist. Als er in diesen Tempel kam, wurde ihm, seinem Hauptinteresse an Namenskärtchen entsprechend, die älteste, noch aus Kupfer hergestellte Osame fuda gezeigt, die aus dem Jahre 1650 stammt. Frederick Starr (1858-1933), auch bekannt unter dem Namen Ofuda Hakase („Doktor der Namenskärtchen“) wird fast in jedem Pilgerführer erwähnt und ist neben dem Universitätsprofessor Oliver Statler (1915-2002), Autor des Buches „Japanese Pilgrimage“, einer der bekanntesten ausländischen Experten für die Pilgeroute gewesen. Der Tempelführer empfiehlt die lokalen Spezialitäten wie Goshiki-sōmen, fünffarbige Nudeln, Taruto Kuchen, eine von den Portugiesen aus Nagasaki adaptierte Bohnenmus-Biskuitrolle, und Shōyu-mochi, Bohnenmus gefüllte Stampfreiskuchen.
Als ich den Tempel betrete, begrüßt mich ein japanischer Herr mit schütterem Haar, den ich schon bei Tempel Nr. 51 gesehen habe. Er schenkt mir als Pilgergeschenk (osettai) eine Tüte mit selbstgemachten Leckereien. Es handelt sich dabei um eine Tüte, die die Damen am Tempel Nr. 50 verteilt haben. Er fragt mich, ob wir nicht zusammen Lunch (Mittagessen) essen wollen, aber ich habe mir darauf eingerichtet nur Frühstück und Abendbrot zu essen, da ich sonst zu träge werde, wenn ich mir über Tag den Bauch vollschlage. Mit dieser Ausrede kann ich ihn dann auch abwimmeln, doch fast wäre ich ihm vor einem Restaurant mit meinen Einkäufen vom Lawson Kombini (24-h-Shop), der in der Nähe liegt, in die Arme gelaufen. Bemerkenswert finde ich an diesem Tempel die drei Tore: Während Tor Nr. 1 keine Wächterfiguren aufweist, hat Tor Nr. 2 ein Paar und Tor Nr. 3 hat sogar zwei Paare. Und auch die Dachreiter bzw. die Abschlussfiguren sind sehenswert, so plastisch und detailreich, da kann ich mich gar nicht satt sehen. Diesmal ist es die Haupthalle, deren Decke mit vielen, bemalten Täfelchen geschmückt ist. Blumen sind zu sehen, aber auch geometrische Muster oder handelt es sich um japanische Wappen? Als ich aus dem Pilgerbüro komme, hutscht an einer Treppe jemand vorbei – war das nicht „Herr Siam“? Habe ich den netten Herrn mit dem schiefen Blick wieder eingeholt? Nachdem ich meinen Proviant beim Lawson Kombini aufgestockt habe, ich gönne mir Erdbeermilch mit Schokomustörtchen und ein Grünteeeis (macha), umschiffe die Konfrontation mit meiner Tempelbekanntschaft vor einem Restaurant und treffe tatsächlich wieder auf „Herr Siam“, der in Begleitung eines Herrn mit Metallbecher am Rucksack ist. Ich schließe mich den beiden an bzw. sie laufen voran und ich hinterher, da ich nicht fragen kann, ob sie wert auf meine Gesellschaft legen. Der Trail führt hier auf der Straße Nr. 347 direkt am Meer vorbei. Wenn ich über das Geländer hüpfen würde, würde ich entweder auf den schmalen Strand landen oder direkt ins Wasser plumpsen. Wir folgen den Pilgerzeichen, nicht nur Steinsäulen oder rote Pfeile, nein – von Zeit zu Zeit bringen auch zwei schwarze, gekreuzte Vajras (stilisierte Kampfzepter) Klärung über den Verlauf der Pilgerroute. Zum Glück ist es fast windstill, so dass ich nicht fürchten muss, meinen Hut abermals hinterher laufen zu müssen. Während wir ein seltsames Gebäude schon aus großer Entfernung sehen können, da die Straße hier einen großen Bogen macht, quatsche ich einen Fotografen an, der hier vor dem Awazaka Tunnel wartet, ob er den Shinkansen (engl. Bullettrain; dt. „Neue Stammstrecke“) fotografieren will. Das ist hier auch so ein typisch japanisches Hobby. Genau wie das „Jagen“ von Luxusschiffen mit der Kamera im Hamburger Hafen, legen sich die Hobbyfotografen hier auf die Lauer, um die berühmten Schnellzüge zu schießen. In steigender Geschwindigkeit vom Kodama („Echo“) über den Hikari („Licht“) bis zum Nozomi („Wunsch“), schafft letzterer die 515 km von Tokyo nach Osaka in 2 Stunden und 26 Minuten bei einer Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h. Da muss man schon eine gute Kameraausrüstung haben, wenn man diese Flitzer „einfangen“ will. Aber ich muss mich etwas sputen, sonst verliere ich den Anschluss. Das tempelartige Gebäude stellt sich als „Daishido Kaisen Hokutso“ heraus und ist ein Restaurant. Jetzt gesellt sich auch noch ein japanisches Ehepaar zu uns. Wir laufen im Gänsemarsch die Straße entlang, obwohl unsere Geschwindigkeit alles andere als lahm ist. Wie die Wildgänse beim Flug nach Süden übernimmt jeder einmal die die Tempoarbeit an der Spitze. Nur nicht den Anschluss verlieren, denke ich, das ist ein Tempo, das ich gut mitgehen kann. Wenn man allerdings etwas kaufen will oder das WC aufsuchen muss, wird nicht gewartet und man muss zusehen, dass man wieder den Anschuss findet. Ich müsste auch mal auf das „Stille Örtchen“, aber das verkneife ich mir aber, weil ich mich gerade im Rausch der Geschwindigkeit befinde. So fliegen wir bis Iyo Hojo, wo mich meine Flügelmänner verlassen und ihre Ryokans (jap. Pension) aufsuchen. Eigentlich wollte ich in der Jugendherberge einkehren, da es aber erst 14.30 Uhr ist, laufe ich weiter. Die Sonne sticht und ich sehe zu, auf der rechten Seite der Straße im Schatten zu laufen. Ich lege noch mal eine Runde Sunblocker 50+++ nach. Ich merke, dass mich mein Gänse Geschwader doch viel Kraft gekostet hat, die Sonne und Hitze tun ein Übriges, um mich weich zu kochen. Am Bahnhof von Kikuma beschließe ich, nachdem ich eingehend das Kartenmaterial studiert habe, den Zug zur nächstmöglichen Unterkunft zu nehmen. Das Businesshotel Kurushima in Imabari City ist mein auserkorenes Ziel, das wäre die übernächste Station. Ich habe mir, seit ich allein unterwegs bin, den Plan gesetzt, jedes Transportmittel in Japan einmal nutzen zu dürfen bzw. bevor ich unter freiem Himmel schlafe, immer wenn man eine Pilgerhütte braucht gibt es keine, ein Transportmittel zur nächstmöglichen Unterkunft zu nutzen. Bahn fahren ist demnach abgeharkt, bleiben noch Bus, Taxi, Seilbahn, Pferd oder sonstiges Transportmittel.
Zum Glück steht das Wort „Bujinesu hoteru“ (eng. business hotel) in japanischer Silbenschrift groß am Gebäude, sonst hätte ich es in dieser ländlichen Einöde fast nicht gefunden. Hier stehen mir auch das erste Mal so richtig die Nackenhaare zu Berge, als ich mein siffiges Zimmer betrete: Alles sinkt nach kaltem Zigarettenqualm, das Zimmer ist muffig und Insekten hängen an den Wänden. Als mich die schnippische Wirtin nach Frühstück bzw. Abendessen fragt, lehne ich ab. Erstens wegen der Hygiene und zweitens gibt es außer mir ohnehin keinen weiteren Gast. Da bediene ich mich lieber an meinem eigenen Proviant. Das „alte Mädchen“ bereitet mir noch das Ofuro (heiße Bad) im Gemeinschaftsbad vor. Sie schlüpft hierzu in rosa Gummipuschen, damit ihre Hausschuhe nicht nass werden. Leider ist das Wasser viel zu heiß und auch aus dem anderen Hahn kommt kein kälteres Wasser. So bleibt das Badewasser ungenutzt, während ich aber ausgiebig dusche. Ich muss die Klimaanlage in meinem Zimmer wieder ausstellen, da mir der Gestank nach Zigarettenqualm Kopfschmerzen bereitet. Ich lüfte ausgiebig und dann bemerke ich mein nächstes Problem: Da ich immer ohne zugezogenen Vorhänge schlafe, damit ich bei Sonnenaufgang aufwache, werde ich in dieser Nacht kaum ein Auge zu kriegen. Direkt vor meinem Zimmer, vielleicht 3-4 m entfernt, brennt in einem Büro des Nachbargebäudes Licht. Wer arbeitet denn schon samstags bis Mitternacht - die Japaner!
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