Der 32. Tag in Japan
Um 6.00 Uhr ist Abmarsch angesagt, zum Frühstück gibt es den Rest Schokokekse, Dorae Keki und Wasser. Als ich gestern Abend zur Toilette ging und die Toilettenlatschen anzog, traf es mich wie ein Schlag: Welche Weichheit an meinem Fuße, welch Genuss die schmerzenden Füße endlich mal auf Latschen zu betten, die passen. Da die Damen des Hauses sich den ganzen Abend nicht mehr hat sehen lassen und sie auch am Morgen nicht zu finden war, habe ich die Latschen kurzerhand „geklauft“. Ich habe sie eingepackt und der Damen einen 1000-Yen-Schein in die Scheibe an der Rezeption geklemmt. Da ich weiß, dass solche Latschen allenfalls 700 Yen kosten, dazu noch gebraucht, sollte es reichen. Man muss sich doch wundern, wie sich während so einer Pilgertour die Präferenzen doch verschieben: Ein Himmel auf Erden in ausgelatschten Klopantoffeln! Aber die Muskulatur meiner Beine hatte sich so verkürzt, obwohl ich jeden Morgen Streching betrieben habe, dass ich morgens nach dem Aufstehen nur noch O-beinig und vorsichtig wie auf rohen Eiern barfuss laufen kann.
Ich verlasse den Tempel, jedoch nicht ohne noch ein paar Fotos zu schießen. Allein der Tempel und aber auch die Aussicht von hier oben, sind es wert, die lange Treppe hochgestiegen zu sein. Nach dem Tempeltor fällen mir die Hütte, das WC-Häuschen und die Getränkeautomaten ins Auge. Zur Not hätte ich auch dort schlafen können. Ich brauche jetzt einfach nur die ganze Strecke bis zum Abzweiger zum Tempel Nr. 65 an der Autobahn entlang laufen. Aber vorher muss ich noch einen Abstecher in die Stadt machen, da mein Proviant aufgebraucht ist und man nie weis, was einen in Zukunft erwartet. Aber das ist leichter gesagt als gedacht, denn der Trail hier in der Stadt ist unübersichtlich und schlecht ausgeschildert. Ich irre über neue, zweispurige Straßen, auf denen so früh kaum ein Auto fährt. Ich spreche einen Mopedfahrer an und halte verzweifelt Ausschau nach weiß gekleideten Pilgerkameraden. Schließlich folge ich Schulkindern, um mich an deren Schule zu erkundigen, um welche es sich handelt, da es hier immerhin drei verschiedene Schulen gibt. Ich bin an der Nakasone Elementary School (Grundschule) gelandet. Eine Mutter, die hier Schülerlotse spielt, gibt mir freudig Auskunft. Von diesem Bezugspunkt finde ich dann auch recht schnell den Circul-K Kombini (24-h-Shop), wo ich erst mal so richtig frühstücken kann. Es gibt Okonomiaki (jap. Pizza) und Erdbeermilch und auch meinen Proviant kann ich hier aufstocken. Aber der Pilgerführer ist hier nicht sehr exakt, da laut Karte der Trail vor dem Shop vorbeiführt sollte, die roten Pilgerzeichen mich jedoch hinter dem Geschäft vorbei lotsen. Aber jetzt muss ich zurück zum Expressway (Autobahn), über den Togawa Park in die Berge Richtung Sankakuji Tempel. Es geht wieder bergauf, anfangs recht steil, dann mäßig und schließlich bin ich schneller als erwartet am Tempel Nr. 65.
Exkurs Tempel Nr. 65 Sankakuji (三角寺)
„Der Tempel der Dreiecke“ erhielt seinen Namen von dem dreieckigen Altar, den Kōbō Daishi für ein 21-tägiges Goma Ritual errichtet hat, um einen unheilvollen Geist hier auf dem Geisterberg (Yurei-san) zu bannen. Der Tempel wurde zwar ursprünglich von Gōgi (669-749) nach dem Model von Mirokus (Buddha der Zukunft) „Tusita Himmel“, eine Art Paradies, gegründet, jedoch 815 von Kōbō Daishi, der sich in seinem gefährlichen 42 Lebensjahr befand, für das Bannen seines Unglücks benutzt. Kōbō Daishi hat auch die Statue der Hauptgottheit (honzon), die elfgesichtige Kannon (Juuichinen Kannon), geschnitzt. Unter Kaiser Saga (786-842; 52. Tennō) wurde der Tempel mit Ländereien ausgestattet und auf 12 Subtempeln erweitert, bis er im 16. Jahrhundert nieder brannte, aber wiederaufgebaut wurde. Das „innerste Heiligtum“ (okunoin) ist Kōbō Daishi gewidmet, der hier das Goma Ritual abgehalten hat. Im Angedenken daran wurde auch ein dreieckiger Teich mit Jizō Statue angelegt. Der Tempel, der auf einer Höhe von 450 m liegt, ist der leichten Geburt gewidmet. Hier müssen die potentiellen Mütter allerdings so tun, als würden sie in den Tempel einbrechen, um eine Schöpfkelle zu stehen, die dann unter dem heimischen Bett verwahrt wird. Nach erfolgter Geburt, bringen die Mütter die Kellen dann zurück zum Tempel, wo sie dann erneut „entwendet“ werden können.
Überraschender Weise treffe ich hier „Herrn Siam“ wieder, diesmal ohne Pilgerpartner, erzählt er mir wie schnell ich doch bin. Ich bin zwar schnell, aber durch den Besuch der Nebentempel (bangai fudasho) verlieren ich dann noch viel Zeit. Trotzdem treffe ich immer wieder auf meinen nur Japanisch sprechenden, aber wohl etwas Englisch verstehenden, Pilgerkollegen. Ich erzähle ihm, dass ich noch den Bangai Tempel Nr. 13 besuchen möchte. „Herr Siam“ dagegen kann sich gleich auf den direkten Weg zu Tempel Nr.66 (Unpenji) machen. Da aber nach Bangai Tempel Nr. 13 auch noch Bangai Tempel Nr. 14 und Nr. 15 auf mich warten, die für sich jeweils eine ganze Tagestour beanspruchen, wird dies hier wohl unsere allerletztes Treffen sein. Im Sankakuji Tempel ist Frühjahrsputz angesagt, da überall Leute arbeiten bzw. zurzeit gerade eine Teepause einlegen. Es wird gewischt, geharkt und die Beete gesäubert. Ich muss jetzt wieder auf das japanische Pilgerbuch umsteigen, das die Bangai Fudasho (Nebentempel) im englischen Kartenmaterial nicht aufgeführt sind. Ich habe die Wahl zwischen drei Routen, allerdings sehe ich beim ersten Blick in die Karte nur den direkten Weg über den Berg. Ich frage im Tempel, ob ich meinen Rucksack hier deponieren darf, um den Bangai Tempel Nr. 13 zu besuchen. Ich verstaue mein gutes Stück unter einer Bank im Pilgerbüro. Nun folge ich den Pilgerzeichen in den Wald, aber der Trail wird wohl nicht so häufig benutz, da er voller Laub und umgestürzter Bäume ist. Es ist so eine richtige „Querfeldein Tour“ und ich überlege, wie ich den Weg nur zurück schaffen soll. Ich treffe ein Pärchen in hochmoderner Wanderausrüstung. Die kommen garantiert nicht vom Bangai Tempel, die sehen mit ihrer Ausrüstung nicht nach Pilgern aus! Hier am Trail hängen auch so kleine Sicheln an langen Stielen. Zur Not muss sich der Pilger seinen Pfad hier eigenhändig freischneiden. Endlich gelange ich aus dem Wald an einen etwas lichteren Bereich. Vor mir steht ein kleines Gebäude, vielleicht ein Schrein. Die Steinlaternen und Statuen, die den Weg säumen, lassen weder die eine noch die andere Schlussfolgerung zu. Als ich weiter gehe, muss ich erschreckt feststellen, dass der Trail hier direkt über eine schlecht gesicherte Klippe führt. Mit einem großen Rucksack als Gepäck und zusätzlich Regen wäre ich wohl nicht über die Klippe gewandert. Aber so hangle ich mir vorsichtig an einem gespannten Seil über den Felsen. Nein, auf keinen Fall werde ich diese Tour zurückwandern, da werde ich eine andere Lösung finden! Hinter diesem Hindernis ist der Weg nicht mehr schwierig, Steinstufen gewährleisten den sicheren Tritt und Steinfiguren säumen den Weg. Doch im Tempel werde ich von einem ohrenbetäubenden Laubfeger begrüßt.
Exkurs Bangai Tempel Nr. 13 Senryūji (仙龍寺)
„Der Tempel des Einsiedler Drachens“ soll von Kōbō Daishi 794 gegründet worden sein. Bisweilen wird er auch als „innerstes Heiligtum“ (okunoin) von Tempel Nr. 65 bezeichnet oder als „Kōya-san für Frauen“, da Frauen der Zugang seit jeher gestattet war, was nicht bei allen Tempeln zu damaliger Zeit üblich war. Das geht auf eine Legende zurück, nachdem Kōbō Daishi hier eine weiblichen Hindu (indische Religion) Einsiedlerin getroffen hat, die als Besitzerin des Berges, ihm all ihr Hab und Gut geschenkt hat. Eine andere Quelle besagt, dass nicht Kōbō Daishi, sondern Hōdō Sennin, ein indischer Asket, der über China und Korea nach Japan kam, den Tempel gegründet hat. Allerdings scheinen Frau und Asket nicht ein und dieselbe Person zu sein, obwohl in den Tempelführern der Eindruck erweckt wird. Kōbō Daishi soll hier das Goma Feuerritual abgehalten und das „Bija Mandala“ (Keimsilben Mandala; vermutlich Mutterschoß Mandala) in die Wand der Tempelhöhle geritzt haben. Der Tempel liegt in einer Felsschlucht, so dass es auch tagsüber recht dunkel ist. Sehenswert ist die Höhle, in der Kōbō Daishi verehrt wird. Ihm wird hier auch als „Mushiyoke Daishi“ gehuldigt, der Insekten und Würmer ausmerzt.
Der Bangai Tempel Nr. 13 besteht eigentlich nur aus einem einzigen großes Gebäude, in dem auch das Pilgerbüro sich befindet. Am Eingang muss man die Schuhe ausziehen und gelangt dann über diverse Gänge zur Stempelstelle. Ich suche anfangs im menschenleeren Tempel nach dem Ort, wo ich meine Sutren rezitieren kann, lande aber erstmal unfreiwillig in der „Freiluft Waschgelegenheit“ und den Toiletten. Als Pilger möchte ich hier aber nicht untergebracht werden, das wäre mir dann doch zu spartanisch, allerdings lockt die Eingangshalle mit einem Getränkeautomaten. Nachdem ich mein Nokyochō (Pilgerbuch) habe ausfüllen lassen, ob ich nur am Hondō (Haupthalle) oder Daishidō (Daishi-Halle) meine Sutra rezitiert habe weiß ich nicht, setzt ich mich in den Hof. Bei einer Cola und Pilgerkeksen genieße ich die wenigen Sonnenstrahlen, die hier in der Schlucht ankommen. Ein Taxi fährt vor und drei Mönche steigen aus. Das ist jetzt deine Change, denke ich bei mir, wieder zurück zum Tempel Nr. 65 zu kommen. Also frage ich den Taxifahrer, was er für die Tour nimmt. Für 2000 Yen will er mich zurück zu meinem Rucksack bringen und ehe ich mich versehe, sitze ich auch schon auf der Rückbank des Taxis. Der Weg zum Tempel Nr. 65 ist wie eine Achterbahnfahrt, da sich die Autostraße um den Berg herum schlängelt. Als wir durch einen langen Tunnel fahren, sehe ich einen Pilger in Richtung Tempel Nr. 65 laufen und überlege noch, ob wir den nicht besser hätten mitnehmen sollen. Am Tempel angekommen bezahle ich das Taxi, doch als ich die Treppen zum Tempel hinaufsteigen will, krampf sich alles in mir zusammen und mir kommen die Tränen. Als ich nämlich so schön in der Sonne gesessen und mir meine Pilgerkekse habe schmecken lassen, hatte ich bei meiner Ankunft der Umständlichkeit halber, meinen Wanderstock zusammen mit meinem Hut in den Stockständer am Eingang gestellt. Toll – da stehen sie jetzt noch immer!!!
Ich muss mich jetzt erstmal fangen, setze mich in eine Ecke und heule „Rotz und Wasser“. Ich komme endlich zu dem Schluss, dass ich Kōbō Daishi (meinen Stock) und meinen Sonnenschutz (Hut), die mich über so viele Kilometer treu begleitet haben, nicht einfach stehenlassen kann. Da fragt man sich immer wieder wie Pilger ihre Wanderstöcke einfach so im Tempel vergessen können und dann passiert es einem selbst!
Ich studiere die Karte. Über den Berg gehe ich auf keinen Fall, durch den Tunnel, das ist zu weit. Aber in der Karte finde ich einen unauffälligen, kleinen Pfad, der eigentlich auch zum Bangai führen sollte. Eventuell hat der Bangai Tempel Shokubō, Tempelunterkunft, und ich könnte heute dort übernachten, obwohl es wie erwähnt doch recht spartanisch auf mich gewirkt hat. Aber wo ein Wille, da ist auch ein Weg. Wenn aber etwas schief läuft, dann kann es sich zur Lawine entwickeln. So komme ich an diesem Tag zwar noch zum Bangai Nr. 13 und kann meine kostbaren Stück an mich nehmen, aber leider gibt es keine Unterkunftsmöglichkeit und auch in der Nähe ist keine Hütte eingetragen. Dabei ist 13 doch meine Glückszahl, da ich an einem 13. geboren worden bin. Es nützt alles nichts und so laufe ich einfach den weiten Weg durch den Tunnel, den ich von der Taxifahrt schon kenne, zurück. Eine Taschenlampe mit Kurbelantrieb habe ich dabei, so dass ich auch bei Dunkelheit laufen kann. Dann muss ich einfach mal gucken, wie weit ich komme. Man muss sich immer mehrere Pläne ausdenken und immer noch einen Plan B des Plan B parat haben. Nur nicht frustriert den Kopf in den Sand stecken – es muss weitergehen! Zumal in der Karte eine kleine Hütte in einer Ortschaft hinter dem Tunnel eingetragen ist. „Handa Rest Hut“ wird diese Lokalität in der Karte genannt, aber ob diese Hütte noch existiert und wie große die vor allen Dingen ist, erfahre ich erst vor Ort.
Natürlich schaffe ich den Weg bis zur Hütte, obwohl der Tunnel dann noch sehr lang und stickig ist. Bei Abenddämmerung trudel ich an der Hütte ein. Habe sogar noch genügend Zeit, um mir für das Abendbrot Getränke aus einem Automaten am Ortseingang zu holen.
Resumee von diesem Tag – was predigte Buddha seinen Anhängern immer wieder? Der mittlere Weg ist der rechte, nicht der längste auch nicht der steilste, nein - der mittlere Weg zwischen den Extremen! Unachtsamkeit ist die Geißel der Menschheit – vieles passiert aus Unachtsamkeit, deshalb lebe bewusst, konzentriere Dich auf das, was Du tust und werde Eins mit Deiner Tätigkeit. Namu Daishi Henjo Kongō!
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